Neujahrsansprache des Bundestagspräsidenten
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hält am 01.
Januar 2003 im Deutschlandfunk (Sendezeit 18.00 Uhr) folgende
Neujahrsansprache:
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Die Stimmung ist schlecht in unserem Land, man muss nur die
Zeitungen aufschlagen oder Nachrichten sehen. Kein gutes Omen, um
ein neues Jahr zu begrüßen. Trotzdem empfehle ich, den
Jahreswechsel für das zu nutzen, wofür er uns immer
Anlass war: zur Besinnung und zum Nachdenken. Sie, liebe
Hörerinnen und Hörer, werden Ihre persönlichen
Bilanzen und Pläne gemacht haben; vielleicht haben Sie gute
Vorsätze für Gesundheit und persönliches Wohlergehen
gefasst. Ich wünsche Ihnen, dass Sie in Erfüllung
gehen!
Aber wünschen allein hilft nicht, das wissen wir, seit wir die
Kindheit hinter uns gelassen haben. Schimpfen übrigens auch
nicht - und damit bin ich bei der Politik, über die ich doch
auch zum Jahreswechsel ein paar Worte verlieren muß.
Wir haben in Europa wirtschaftliche Schwierigkeiten, Deutschland
steht damit keineswegs alleine da: Die Arbeitslosigkeit ist hoch,
die Steuereinnahmen sinken, unsere sozialen Systeme haben
finanzielle Probleme, die Abgaben steigen. Das verdirbt die Laune
bei vielen. Vor diesem Hintergrund finden bittere
Verteilungskonflikte statt; die Lage wird Schwarz in Schwarz
gemalt. Dabei wissen wir doch, Zukunft für uns und unsere
Kinder lässt sich nur gewinnen durch Reformen, durch
Veränderungen - bei Bildung und Gesundheitswesen, bei
Altersvorsorge und auf dem Arbeitsmarkt. Ohne Abschied von
Gewohntem, ohne Schmerzen wird das nicht gehen. Dabei soll und muss
es aber fair und gerecht zugehen. Lassen Sie mich das am Beispiel
der Gerechtigkeit zwischen den Generationen erläutern.
Ich halte das Ziel für richtig, unseren Kindern möglichst
keine Schulden zu hinterlassen. Das Schuldenproblem besteht aber
nicht darin, dass es generell ungerecht wäre, Schulden auf
kommende Generationen zu vererben. Unverantwortlich ist es aber,
Schulden zu hinterlassen, die wir heute durch erhöhten
Verbrauch, durch überholte Subventionen oder Privilegien
anhäufen. Entschuldigung ist dann kein Anrecht der kommenden
Generation, wenn sie dafür Investitionen in Bildung und
Infrastruktur bekommt, die sie selbst künftig nutzt.
Unterlassene Investitionen können dagegen teuer zu stehen
kommen, wenn Konkurrenzfähigkeit verloren geht oder die
Reparatur einer maroden Infrastruktur spätere Generationen
mehr kostet als eventuelle Zinsen. Gerecht ist deshalb alles, was
die künftige Generation in die Lage versetzt, für das
eigenen Leben zu sorgen und dabei möglichst keine schlechteren
Bedingungen vorzufinden als die Eltern. Es muss uns - jenseits
parteipolitischer Unterschiede - also nicht nur um Gerechtigkeit
heute, sondern auch um Gerechtigkeit zwischen den Generationen
gehen.
Gerechtigkeit überhaupt ist für eine demokratische
Gesellschaft grundlegend. Es genügt nicht, sie im Privaten zu
üben, sie muss auch im öffentlichen Leben und
gegenüber dem Staat gelten. Der demokratische Staat dient
unserer individuellen Freiheit; Gerechtigkeit sorgt für
gleiche Freiheit. Deshalb muss immer neu ein Ausgleich zwischen
unterschiedlichen Interessen und Mächten geschaffen werden.
Sonst würde ja nur das Recht des Stärkeren herrschen.
Ansprüche, die wir alle an den Staat richten - vom
funktionsfähigen Straßennetz bis hin zur inneren
Sicherheit, von einem zu verbessernden Bildungswesen bis zu
bezahlbaren Gesundheitsdienstleistungen - sie sind berechtigt. Aber
nichts davon ist kostenlos zu haben. Sie kosten Mühe und eben
auch Geld. Wenn wir aber weniger bezahlen wollen, müssen wir
auf Teile staatlicher Leistungen verzichten. In welchem Umfang wir
dies oder das tun oder lassen wollen, darüber lohnt es sich zu
streiten.
Wir haben auf dem Wege des öffentlichen, demokratischen
Streits über 50 Jahre Stabilität geschaffen und die
deutsche Einheit erreicht. Bis zur Hysterie sich steigernde
Schwarzmalerei ist dagegen schädlich. Es gibt auch gar keinen
Grund anzunehmen, dass wir es diesmal nicht schaffen könnten.
Wir haben bei der Flutkatastrophe im letzten Jahr bewiesen, dass es
gelebte Solidarität und große Hilfsbereitschaft in
unserem Land gibt. Wir sind Vizeweltmeister nicht nur im
Fußball sondern auch beim Export unserer Waren und
Dienstleistungen in alle Welt. Vizeweltmeister sind wir auch bei
ausländischen Investitionen. Beim Maschinenbau sind wir sogar
Weltmeister; in Deutschland werden weltweit die meisten Patente
angemeldet. Wir sind das reichste Land in der EU und unser
Lebensstandard ist einer der höchsten in der Welt. Es gibt
also gute Gründe mit Selbstbewußtsein zu sagen: wir
können, wir werden die derzeitigen Probleme lösen!
Die demokratische Verfassung dient der Freiheit. Zu ihr gehört
der alltägliche Streit über Meinungen und Interessen. Bei
diesem Streit sollte es um realistische, pragmatische Lösungen
gehen, um nicht mehr und nicht weniger! Für endgültige
Klarheit, gar für Erlösung von allen Problemen ist
Politik weder zuständig noch befähigt. Das sollten wir
bei allem verständlichen Bedürfnis nach Harmonie
bedenken.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein gutes, ein
gelingendes neues Jahr 2003.
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