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Stand: 28.12.2002
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Politischer Jahresrückblick des Bundestagspräsidenten

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zieht in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung eine Bilanz der politischen Ereignisse des Jahres 2002. Der erste Teil des Interviews in der heutigen Ausgabe der Neuen Osnabrücker Zeitung hat folgenden Wortlaut:

Frage: Herr Thierse, welches innenpolitische Ereignis hat Sie im vergangenen Jahr ganz persönlich am meisten bewegt?

Thierse: Es war die wunderbare, großartige Hilfsbereitschaft der Deutschen angesichts der Flutkatastrophe. Ich habe mich darüber gefreut, weil unser skeptisches Selbsturteil widerlegt worden ist, dass wir Deutschen inzwischen ein Volk von Egoisten geworden seien. Und jetzt sehen wir: Wenn Not am Menschen ist, sind wir Deutschen hilfsbereit, engagiert, opferbereit.

Frage: Lassen Sie uns auf das innenpolitische Hauptereignis dieses Jahres kommen _ die Bundestagswahl. Im Anschluss daran hat die rotgrüne Koalition einschneidende Spar- und Reformschritte für unser Sozialsystem beschlossen. Offenkundig stoßen wir hier an Grenzen der Finanzierbarkeit. Deshalb: Kann dies eine Regierung allein lösen, oder brauchen wir eine Art konzertierte Aktion aller Parteien und Tarifpartner, um das Sozialsystem 2003 grundlegend zu verändern?

Thierse: Es gibt im Grunde genommen keine Aufgabe, die die Regierung allein lösen kann. Sie braucht immer den Bundestag und in unserem föderalen Land auch den Bundesrat beziehungsweise die Länder. Und sie braucht natürlich auch alle anderen, die Macht in unserem Lande haben: Die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, die Lobbyisten und die Medien. Ich weiß nicht, ob immer wieder neue konzertierte Aktionen erforderlich sind. Offensichtlich ist jedoch mehr Kompromissbereitschaft notwendig _ die Fähigkeit, zwar energisch für die eigenen Interessen einzutreten, aber gegebenenfalls den eigenen Egoismus auch relativieren zu lassen, wenn Übereinkünfte mit den Interessen Anderer möglich sein sollen.

Frage: Welche inhaltlichen Weg- und Zielmarken sollten dabei angesteuert werden?

Thierse: Die Hauptaufgabe der nächsten Jahre ist die Reform unseres Modells der sozialen Marktwirtschaft, also die Reform des Sozialstaats. Damit quälen wir uns schon länger in Deutschland. Wir müssen die Bildungschancen, die Vorsorge für die Risiken des Alters, der Krankheit, der Behinderung und der Arbeitslosigkeit in einem System gemeinschaftlich organisieren, das zukunftsfähig ist. Es gilt, möglichst alle an den Belastungen und Chancen gerecht zu beteiligen. Ohne eine solche Reform ist die bisherige Erfolgsgeschichte unseres Modells der Marktwirtschaft gefährdet.

Frage: Sehen Sie Chancen, dass dies im 2003 erfolgreich organisiert werden kann?

Thierse: Rotgrün hat ja die Weichen entsprechend gestellt. Die Riester-Rente ist ein erster Schritt zur Reform unseres Rentensystems. Wir haben eine Kommission eingerichtet, die weitere Schritte vorschlagen soll. Darüber wird man dann zu gegebener Zeit debattieren. Dasselbe gilt für den großen und besonders schwierigen Bereich des Gesundheitssystems.

Frage: Wo liegt die Hauptschwierigkeit?

Thierse: Dort stehen wir vor dem Problem, dass die Kosten wegen der demographischen Entwicklung und wegen des medizinischen Fortschritts immer weiter steigen. All dies muss finanzierbar bleiben, und wir müssen der Gefahr eines Zweiklassensystems widerstehen, in dem sich die einen die vollen Gesundheitsdienstleistungen finanziell leisten können und die anderen nicht. Genau deshalb brauchen wir auch künftig ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem, wobei der Kostenanstieg allerdings begrenzt werden muss.

Frage: Seit der Bundestagswahl hat sich der Umgangston vor allem zwischen den Parteien deutlich verschärft. Teilweise gehen die Attacken auch sehr ins Persönliche. Welche Konsequenzen kann dies für das Ansehen und damit letztlich auch für die Stabilität unseres Regierungssystems haben?

Thierse: Es hat schlimme Folgen, dass der Umgangston rauer geworden ist. Beschimpfungssuperlative wie wir sie gerade gegenwärtig erleben, Vorwurfsorgien, Beschuldigungsexzesse beschädigen die Politiker und die Politik insgesamt. Insofern gefährden sie die Demokratie. Und sie tun auch den meisten Politikern Unrecht, die hart und fleißig arbeiten, um vernünftige Lösungen und den Ausgleich zwischen gegensätzlichen Interessen zu erreichen. Deswegen mein Appell: Wir sollten in der Sache streiten, ohne immerfort in die Superlative der Beschuldigung der jeweils anderen Seite zu verfallen. Auch trägt die gegenwärtig aufgeheizte Atmosphäre nicht dazu bei, dass man inhaltlichen Lösungen näher kommt.

Frage: Man gewinnt derzeit den Eindruck, dass immer öfter Nazi-Vergleiche herangezogen werden, um den politischen Gegner zu treffen. Wie sehen Sie das?

Thierse: Solche Vergleiche sind eine Verrohung unserer politischen Sitten. Sie sollten nicht erlaubt sein, weil sie einerseits eine Verharmlosung der Naziverbrechen sind und andererseits dem politischen Konkurrenten oder Gegner die demokratische Qualität absprechen. Der Respekt voreinander ist, bei aller Gegensätzlichkeit, eine Grundbedingung der demokratischen Auseinandersetzung. Und dieser Respekt wird gerade durch den Nazivergleich zerstört.

Frage: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund den parlamentarischen Stil im Bundestag. Was sollten Abgeordnete und Fraktionen im kommenden Jahr anders und besser machen?

Thierse: Ich will keine Zensuren verteilen. Auch gehören scharfe Kritik und entschiedene Verteidigung zur parlamentarischen Auseinandersetzung. Aber den Bürgern muss in den Debatten reiner Wein eingeschenkt werden. Es sollte jeweils gesagt werden, mit welchen Problemen und Kosten die eigene Alternative behaftet ist. Erst dann nimmt man die Bürgerinnen und Bürger ernst, und erst dann ist auch mehr Offenheit und mehr Problemnähe möglich.

Frage: Was heißt dies vor dem Hintergrund der vergangenen Haushaltsberatungen?

Thierse: Gegenwärtig erscheint die Kritik an der Bundesregierung auch im Bundestag gelegentlich schizophren. Einerseits werden vehement Einsparungen und Ausgabenkürzungen verlangt. Andererseits werden bei den jeweiligen Einzeletats Forderungen erhoben, die zusätzliches Geld kosten und dem geäußerten Sparziel zuwiderlaufen. Das passt nicht zusammen.

Frage: Besteht die Gefahr, dass viele Bürger generell zu hohe Erwartungen gegenüber der Politik haben?

Thierse: Das ist wohl so. Und ich fürchte, die Politiker sind auch ein bisschen selbst Schuld daran, weil sie vor allem in Wahlkämpfen allzu schnell Versprechungen machen, die am Ende nicht zu halten sind und deswegen zu Enttäuschungen führen. Dabei geht es aber nicht um ein subjektives Problem nach dem Motto: Die Politiker sind zu leichtfertig, zu oberflächlich. Es gibt auch etwas, was darunter liegt und was ich für das eigentliche Problem halte.

Frage: Was meinen Sie damit konkret?

Thierse: Wir sind mitten in heftigen, auch schmerzlichen ökonomischen und sozialen Veränderungen _ das Stichwort heißt hier Globalisierung. Das, was die alte Bundesrepublik gewohnt war, gilt nicht mehr. Als ehemals Aussenstehender, als Ostdeutscher, hatte ich immer den Eindruck, die sozialen Konflikte in der alten Bundesrepublik konnten deswegen so friedlich gelöst werden, weil immer irgendwelche Zuwächse zu verteilen waren. Damit ist es auf absehbare Zeit vorbei.

Frage: Auf welchen Gebieten sehen Sie am ehesten die Neigung, dass eine politische Lösung mit einer Art Erlösung verwechselt werden könnte?

Thierse: Das, was wir gegenwärtig erleben, ist die teilweise absichtsvolle Inszenierung einer Katastrophen- und Endzeitstimmung. Das Malen dieses tiefschwarzen Krisengemäldes zielt nicht mehr darauf ab, dieses oder jenes Problem zu umreißen und ganz nüchtern lösen zu wollen. Wer Deutschland so in ein abgrundtiefes Loch redet, dem geht es nicht mehr um Lösungen, sondern um Erlösung. Erlösung ist aber keine Kategorie der Demokratie. Sie gehört ins Feld des Religiösen.

Frage: Was sollte deswegen geschehen?

Thierse: Wir sollten uns als Demokraten darüber streiten, wie welches Problem angegangen und gelöst werden kann. Dabei sollten bei notwendigen Veränderungen Schmerzen und Chancen so fair und so gerecht wie irgend möglich verteilt werden. Wir sind in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten nicht in einer schlechteren Situation. Alle Zahlen, die ich kenne, und alle Berichte aus den anderen Ländern zeigen: Hier gibt es genau dieselben wirtschaftlichen Schwierigkeiten wie im übrigen Europa.

Frage: Wie lassen sich die zusammenfassen?

Thierse: Wir stehen vor verwandten Konjunktur- und Modernisierungsproblemen. Denen sollten wir uns stellen statt finsterste Katastrophen zu malen, die immer dazu führen, dass Menschen nach dem Erlöser rufen. Wir wissen aus der deutschen Geschichte: Der Erlöser ist nie ein Demokrat, sondern meistens ein verbrecherischer Diktator. Jedenfalls Hitler war es.

Frage: Damit kommen wir zum Thema Neonazis. Die Gefahr des Rechtsextremismus ist in letzter Zeit etwas aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Gibt es Grund zur Entwarnung oder besteht weiterhin Anlass zur Sorge?

Thierse: Das Bild ist widersprüchlich. Zunächst einmal lässt sich mit großem Selbstbewusstsein sagen: Wir leben in einer gefestigten Demokratie. Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 22. September hat gezeigt, dass Extremisten bei Wahlen in Deutschland keine Chance besitzen. Dies sollte man positiv hervorheben, denn in Nachbarländern _ ich erinnere an Le Pen und an Haider _ ist es durchaus anders. Aber zur gleichen Zeit erleben wir, dass die Anzahl rechtsextremistisch motivierter Straftaten nicht abnimmt.

Frage: Was heißt das unter dem Strich?

Thierse: Wir sollen nicht dramatisieren, denn wir leben _ wie gesagt _ in einer gefestigten Demokratie. Aber es gibt zugleich noch beunruhigend viele rechtsextremistisch motivierte Straftaten, beunruhigend viele rassistische Vorurteile und inhumane Einstellungen unter Deutschen. Dies ist nicht die Mehrheit, aber doch eine immer noch zu große Minderheit.

Frage: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang des NPD-Verbotsverfahren?

Thierse: Mit einem Verbot der NPD wäre eine wichtige organisatorische Plattform zerschlagen. Das kann hilfreich sein, aber der Kampf um die Köpfe und Herzen von Menschen muss natürlich weiter gehen. Der Vorteil eines solchen Verbots wäre übrigens auch, dass der demokratische Staat eine demokratiefeindliche Partei, wie die NPD es meiner Überzeugung nach ist, nicht auch noch mitfinanzieren muss.

Frage: Und wenn das Verbotsverfahren nicht so ausgeht, wie es die Antragsteller erhoffen und, erwarten...

Thierse: Das mag ich mir gar nicht vorstellen, weil eine solche Niederlage des demokratischen Staates von seinen Gegnern natürlich wie ein Sieg gefeiert würde.

Frage: Herr Thierse, generell gefragt: Hat sich das Klima zwischen Deutschen und Ausländern in der Bundesrepublik im Jahr 2002 eher zum Positiven oder zum Negativen gewandelt?

Thierse: Die Frage lässt sich nicht so ganz einfach beantworten, denn wir erleben ja beides: Wunderbare Beispiele einer Kultur des Verständnisses. Das schönste und heiterste Beispiel war die Art und Weise, wie wir in Deutschland miteinander die Fussballweltmeisterschaft gefeiert haben. Auf dem Potsdamer Platz fanden sich Menschen aller möglicher Herkunft ein und feierten gemeinsam. Es ging dort fröhlich und friedlich zu. Auf der anderen Seite gibt es ausländerfeindliche Vorurteile und Gewalt. Das Bild ist also widersprüchlich.

Frage: Wie sollten wir darauf reagieren?

Thierse: Wir müssen in Deutschland weiter an einer Kultur der menschlichen Anerkennung, des Aushaltens von Differenzen arbeiten. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern betrifft alle kulturellen Kräfte: Kirchen, Gewerkschaften, die zivile Gesellschaft im weiten Sinne des Wortes.

Frage: Auf Grund der Irakkrise und des Anti-Terror-Kampfes wird vielfach der Wunsch nach einem besseren Verständnis speziell zwischen Christen und Moslems geäußert. Wie stehen Sie zu einem solchen Dialog der Kulturen?

Thierse: Es gibt ja die berühmte oder soll ich lieber sagen: die berüchtigte These vom Zusammenstoß, ja vom Krieg der Kulturen. Diese These beschreibt nicht unbedingt eine Realität, aber doch eine Gefahr. Wir sollten nicht in die Falle der Islamisten gehen und die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus zu einem Kampf der Kulturen oder Religion machen wollen. Dem müssen wir widerstehen. Stattdessen sollten wir aktiv für einen Dialog der Kulturen und Religionen eintreten, der keine Idylle, sondern mit Zumutungen verbunden ist.

Frage: Können Sie das näher erklären?

Thierse: Dialog und Toleranz meinen nicht etwa Beliebigkeit, sondern vielmehr die Fähigkeit, zwei Dinge miteinander zu verbinden. Es gilt, die eigene Überzeugung energisch zu vertreten und zugleich eine andere Überzeugung zu respektieren. Wir müssen erkunden, wo es Gemeinsamkeiten gibt und wo Unterschiede bestehen bleiben. Das ist sehr mühselig, gerade auch im Dialog zwischen Christentum und Islam. Ziel des Gesprächs muss auch sein, den Missbrauch von Religion zur Begründung von Gewalt zu bekämpfen.

Frage: Für den Irakkonflikt bedeutet dies...

Thierse: Weder Saddam Hussein noch Osama Bin Laden können sich zu Recht auf den Koran berufen. Aber andererseits könnte sich etwa ein amerikanischer Militärschlag gegen den Irak auch nicht auf die Bibel berufen.

Frage: Halten Sie einen EU-Beitritt der Türkei für sinnvoll, auch um die Integration der in Deutschland lebenden Türken zu erleichtern?

Thierse: Ich glaube nicht, dass das eine unbedingt etwas mit dem anderen zu tun hat. Bei der Frage nach einer Beitrittsperspektive für die Türkei geht es darum, zunächst einmal unser europäisches Interesse zu definieren. Ich halte es für gut, dass sich die Türkei auf Europa zubewegt. Dies ist kulturell und menschlich auch deswegen möglich geworden, weil Bürger unseres Landes, die aus der Türkei stammen, zeigen, dass man ein Moslem sein und zugleich dem Grundgesetz treu sein kann. Im übrigen sage ich entgegen mancher Aufgeregtheit dieser Tage: Es wird noch viele, viele Jahre dauern, bis es zu einer vollen Mitgliedschaft der Türkei in der EU kommen wird. Wir dienen der Türkei nicht, wenn wir ihre Beitrittskriterien abschwächen. Die Hürden sollen genau so hoch sein wie für die mittelosteuropäischen Länder.

Frage: Ein anderes Thema. Wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung im Osten der Republik. Die Lage auf dem dortigen Arbeitsmarkt wird immer bedrückender. Droht eine dauerhafte Abkopplung vom angeblich so reichen Westen. Geht ein neuer Riss, eine vertiefte Spaltung durch Deutschland?

Thierse: Einer solchen Befürchtung möchte ich widersprechen. Gewiss, es gibt in ökonomischer Hinsicht noch klar erkennbare West-Ost-Unterschiede. Die Arbeitslosigkeit ist im Osten deutlich höher. Die Einkommen und das private Vermögen sind wesentlich geringer. Bei der Infrastruktur besteht in Ostdeutschland immer noch ein beträchtlicher Nachholbedarf. Das beschreibt die Größe der Aufgabe bei der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse. Wir sind erst auf der Mitte des Weges.

Frage: Und wie geht es weiter?

Thierse: Ich glaube nicht, dass der Riss zwischen den Deutschen größer wird. Ich erinnere noch einmal an die große Solidarität nach der Flutkatastrophe in Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Es gibt keinen emotionalen, moralischen oder sozialen Riss, sondern erkennbare ökonomisch-soziale Unterschiede, die wir durch große Anstrengungen in den nächsten Jahren Schritt für Schritt verringern müssen.

Frage: Was sollte im kommenden Jahr getan werden, um die zunehmende Abwanderung gerade junger, leistungsbereiter Menschen aus den neuen Ländern zu stoppen?

Thierse: Die Antworten sind einfach, Ihre Verwirklichung ist schwieriger. Die Antworten heißen: Genügend Ausbildungsplätze für ostdeutsche junge Leute, verlässliche berufliche und ökonomische Perspektiven, die Aussicht, nach der Ausbildung auch einen Arbeitsplatz bekommen, in einer erreichbaren Zeit gleiche Löhne und Gehälter. Wir brauchen eine weitere Verbesserung der Infrastruktur für Ostdeutschland, hochqualifizierte Arbeitsplätze vor allem auch im Bereich von Forschung und Innovation. Wir müssen auch daran arbeiten, dass die ostdeutschen jungen Leute in emotionaler Weise Zukunft und Ostdeutschland wieder miteinander verbinden, dass sie ihre eigene Perspektive auch in Ostdeutschland sehen, selbst wenn sie im Westen Deutschlands eine Lehre absolvieren oder dort studieren. Im Anschluss daran sollten sie sagen: Jetzt kann ich mit meinem neu erworbenen Wissen, mit meinen beruflichen Erfahrungen etwas in Ostdeutschland gründen. Das ist eben nicht nur eine materielle Frage, sondern auch ganz wesentlich eine moralische und kulturelle Frage.

Frage: Welche Perspektiven sehen Sie denn in 2003 für die neuen Länder, um die sozialen wirtschaftlichen Abstände gegenüber dem alten Bundesgebiet zu verringern?

Thierse: Wir haben den Solidarpakt zwei und den Länderfinanzausgleich. Auf dieser Basis geht es darum, Infrastrukturausbau in Ostdeutschland energisch fortzusetzen, Bundesverkehrswege Ost zu bauen, schwerpunktmäßig Forschungskapazitäten in Ostdeutschland anzusiedeln. Bei allen Entscheidungen, an denen der Bund bei der Ansiedlung von Forschungskapazitäten mitwirkt, sollte Ostdeutschland die erste Chance bekommen. Es gibt dort noch immer Nachholbedarf. Wir müssen am Ansehen der ostdeutschen Universitäten und Kulturstandorte arbeiten. Und vor allem gibt es mit der Osterweiterung der Europäischen Union eine zweite große Chance für Ostdeutschland: in der Infrastrukturentwicklung, in der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen, kulturellen Zusammenarbeit, in der Ausrichtung von Forschung und Innovation auf diesen größeren europäischen Raum. Da sollten Bund, Länder, Gemeinden, Hochschulen, Unternehmen, Gewerkschaften im kommenden Jahr den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten legen.

Frage: Abschließend gefragt: Wie sieht Ihr größter politischer Wunsch für das Jahr 2003 aus?

Thierse: Erstens, dass es keinen Krieg gibt, auch nicht in und um den Irak. Zweitens, dass es uns gelingt, die Vorschläge der Hartz-Kommission umzusetzen und damit auch die Arbeitslosigkeit zu verringern, und drittens, dass es uns gelingt, die gesellschaftliche Atmosphäre so zu ändern, dass die Hysterie des Schlechtredens unseres Landes überwunden wird und dass wir wieder nüchterner und zugleich selbstbewusster über unsere Probleme und deren Lösungen streiten und nicht auf eine wie auch immer geartete politische Erlösung warten.

Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2002/pz_021228
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