Politischer Jahresrückblick des Bundestagspräsidenten
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zieht in einem
Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung eine Bilanz der
politischen Ereignisse des Jahres 2002. Der erste Teil des
Interviews in der heutigen Ausgabe der Neuen Osnabrücker
Zeitung hat folgenden Wortlaut:
Frage: Herr Thierse, welches innenpolitische Ereignis hat Sie im
vergangenen Jahr ganz persönlich am meisten bewegt?
Thierse: Es war die wunderbare, großartige Hilfsbereitschaft
der Deutschen angesichts der Flutkatastrophe. Ich habe mich
darüber gefreut, weil unser skeptisches Selbsturteil widerlegt
worden ist, dass wir Deutschen inzwischen ein Volk von Egoisten
geworden seien. Und jetzt sehen wir: Wenn Not am Menschen ist, sind
wir Deutschen hilfsbereit, engagiert, opferbereit.
Frage: Lassen Sie uns auf das innenpolitische Hauptereignis
dieses Jahres kommen _ die Bundestagswahl. Im Anschluss daran hat
die rotgrüne Koalition einschneidende Spar- und Reformschritte
für unser Sozialsystem beschlossen. Offenkundig stoßen
wir hier an Grenzen der Finanzierbarkeit. Deshalb: Kann dies eine
Regierung allein lösen, oder brauchen wir eine Art
konzertierte Aktion aller Parteien und Tarifpartner, um das
Sozialsystem 2003 grundlegend zu verändern?
Thierse: Es gibt im Grunde genommen keine Aufgabe, die die
Regierung allein lösen kann. Sie braucht immer den Bundestag
und in unserem föderalen Land auch den Bundesrat
beziehungsweise die Länder. Und sie braucht natürlich
auch alle anderen, die Macht in unserem Lande haben: Die
Arbeitgeber, die Gewerkschaften, die Lobbyisten und die Medien. Ich
weiß nicht, ob immer wieder neue konzertierte Aktionen
erforderlich sind. Offensichtlich ist jedoch mehr
Kompromissbereitschaft notwendig _ die Fähigkeit, zwar
energisch für die eigenen Interessen einzutreten, aber
gegebenenfalls den eigenen Egoismus auch relativieren zu lassen,
wenn Übereinkünfte mit den Interessen Anderer
möglich sein sollen.
Frage: Welche inhaltlichen Weg- und Zielmarken sollten dabei
angesteuert werden?
Thierse: Die Hauptaufgabe der nächsten Jahre ist die Reform
unseres Modells der sozialen Marktwirtschaft, also die Reform des
Sozialstaats. Damit quälen wir uns schon länger in
Deutschland. Wir müssen die Bildungschancen, die Vorsorge
für die Risiken des Alters, der Krankheit, der Behinderung und
der Arbeitslosigkeit in einem System gemeinschaftlich organisieren,
das zukunftsfähig ist. Es gilt, möglichst alle an den
Belastungen und Chancen gerecht zu beteiligen. Ohne eine solche
Reform ist die bisherige Erfolgsgeschichte unseres Modells der
Marktwirtschaft gefährdet.
Frage: Sehen Sie Chancen, dass dies im 2003 erfolgreich
organisiert werden kann?
Thierse: Rotgrün hat ja die Weichen entsprechend gestellt. Die
Riester-Rente ist ein erster Schritt zur Reform unseres
Rentensystems. Wir haben eine Kommission eingerichtet, die weitere
Schritte vorschlagen soll. Darüber wird man dann zu gegebener
Zeit debattieren. Dasselbe gilt für den großen und
besonders schwierigen Bereich des Gesundheitssystems.
Frage: Wo liegt die Hauptschwierigkeit?
Thierse: Dort stehen wir vor dem Problem, dass die Kosten wegen der
demographischen Entwicklung und wegen des medizinischen
Fortschritts immer weiter steigen. All dies muss finanzierbar
bleiben, und wir müssen der Gefahr eines Zweiklassensystems
widerstehen, in dem sich die einen die vollen
Gesundheitsdienstleistungen finanziell leisten können und die
anderen nicht. Genau deshalb brauchen wir auch künftig ein
solidarisch finanziertes Gesundheitssystem, wobei der Kostenanstieg
allerdings begrenzt werden muss.
Frage: Seit der Bundestagswahl hat sich der Umgangston vor allem
zwischen den Parteien deutlich verschärft. Teilweise gehen die
Attacken auch sehr ins Persönliche. Welche Konsequenzen kann
dies für das Ansehen und damit letztlich auch für die
Stabilität unseres Regierungssystems haben?
Thierse: Es hat schlimme Folgen, dass der Umgangston rauer geworden
ist. Beschimpfungssuperlative wie wir sie gerade gegenwärtig
erleben, Vorwurfsorgien, Beschuldigungsexzesse beschädigen die
Politiker und die Politik insgesamt. Insofern gefährden sie
die Demokratie. Und sie tun auch den meisten Politikern Unrecht,
die hart und fleißig arbeiten, um vernünftige
Lösungen und den Ausgleich zwischen gegensätzlichen
Interessen zu erreichen. Deswegen mein Appell: Wir sollten in der
Sache streiten, ohne immerfort in die Superlative der Beschuldigung
der jeweils anderen Seite zu verfallen. Auch trägt die
gegenwärtig aufgeheizte Atmosphäre nicht dazu bei, dass
man inhaltlichen Lösungen näher kommt.
Frage: Man gewinnt derzeit den Eindruck, dass immer öfter
Nazi-Vergleiche herangezogen werden, um den politischen Gegner zu
treffen. Wie sehen Sie das?
Thierse: Solche Vergleiche sind eine Verrohung unserer politischen
Sitten. Sie sollten nicht erlaubt sein, weil sie einerseits eine
Verharmlosung der Naziverbrechen sind und andererseits dem
politischen Konkurrenten oder Gegner die demokratische
Qualität absprechen. Der Respekt voreinander ist, bei aller
Gegensätzlichkeit, eine Grundbedingung der demokratischen
Auseinandersetzung. Und dieser Respekt wird gerade durch den
Nazivergleich zerstört.
Frage: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund den
parlamentarischen Stil im Bundestag. Was sollten Abgeordnete und
Fraktionen im kommenden Jahr anders und besser machen?
Thierse: Ich will keine Zensuren verteilen. Auch gehören
scharfe Kritik und entschiedene Verteidigung zur parlamentarischen
Auseinandersetzung. Aber den Bürgern muss in den Debatten
reiner Wein eingeschenkt werden. Es sollte jeweils gesagt werden,
mit welchen Problemen und Kosten die eigene Alternative behaftet
ist. Erst dann nimmt man die Bürgerinnen und Bürger
ernst, und erst dann ist auch mehr Offenheit und mehr
Problemnähe möglich.
Frage: Was heißt dies vor dem Hintergrund der vergangenen
Haushaltsberatungen?
Thierse: Gegenwärtig erscheint die Kritik an der
Bundesregierung auch im Bundestag gelegentlich schizophren.
Einerseits werden vehement Einsparungen und Ausgabenkürzungen
verlangt. Andererseits werden bei den jeweiligen Einzeletats
Forderungen erhoben, die zusätzliches Geld kosten und dem
geäußerten Sparziel zuwiderlaufen. Das passt nicht
zusammen.
Frage: Besteht die Gefahr, dass viele Bürger generell zu
hohe Erwartungen gegenüber der Politik haben?
Thierse: Das ist wohl so. Und ich fürchte, die Politiker sind
auch ein bisschen selbst Schuld daran, weil sie vor allem in
Wahlkämpfen allzu schnell Versprechungen machen, die am Ende
nicht zu halten sind und deswegen zu Enttäuschungen
führen. Dabei geht es aber nicht um ein subjektives Problem
nach dem Motto: Die Politiker sind zu leichtfertig, zu
oberflächlich. Es gibt auch etwas, was darunter liegt und was
ich für das eigentliche Problem halte.
Frage: Was meinen Sie damit konkret?
Thierse: Wir sind mitten in heftigen, auch schmerzlichen
ökonomischen und sozialen Veränderungen _ das Stichwort
heißt hier Globalisierung. Das, was die alte Bundesrepublik
gewohnt war, gilt nicht mehr. Als ehemals Aussenstehender, als
Ostdeutscher, hatte ich immer den Eindruck, die sozialen Konflikte
in der alten Bundesrepublik konnten deswegen so friedlich
gelöst werden, weil immer irgendwelche Zuwächse zu
verteilen waren. Damit ist es auf absehbare Zeit vorbei.
Frage: Auf welchen Gebieten sehen Sie am ehesten die Neigung,
dass eine politische Lösung mit einer Art Erlösung
verwechselt werden könnte?
Thierse: Das, was wir gegenwärtig erleben, ist die teilweise
absichtsvolle Inszenierung einer Katastrophen- und Endzeitstimmung.
Das Malen dieses tiefschwarzen Krisengemäldes zielt nicht mehr
darauf ab, dieses oder jenes Problem zu umreißen und ganz
nüchtern lösen zu wollen. Wer Deutschland so in ein
abgrundtiefes Loch redet, dem geht es nicht mehr um Lösungen,
sondern um Erlösung. Erlösung ist aber keine Kategorie
der Demokratie. Sie gehört ins Feld des Religiösen.
Frage: Was sollte deswegen geschehen?
Thierse: Wir sollten uns als Demokraten darüber streiten, wie
welches Problem angegangen und gelöst werden kann. Dabei
sollten bei notwendigen Veränderungen Schmerzen und Chancen so
fair und so gerecht wie irgend möglich verteilt werden. Wir
sind in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten nicht in einer
schlechteren Situation. Alle Zahlen, die ich kenne, und alle
Berichte aus den anderen Ländern zeigen: Hier gibt es genau
dieselben wirtschaftlichen Schwierigkeiten wie im übrigen
Europa.
Frage: Wie lassen sich die zusammenfassen?
Thierse: Wir stehen vor verwandten Konjunktur- und
Modernisierungsproblemen. Denen sollten wir uns stellen statt
finsterste Katastrophen zu malen, die immer dazu führen, dass
Menschen nach dem Erlöser rufen. Wir wissen aus der deutschen
Geschichte: Der Erlöser ist nie ein Demokrat, sondern meistens
ein verbrecherischer Diktator. Jedenfalls Hitler war es.
Frage: Damit kommen wir zum Thema Neonazis. Die Gefahr des
Rechtsextremismus ist in letzter Zeit etwas aus dem Blickfeld der
Öffentlichkeit geraten. Gibt es Grund zur Entwarnung oder
besteht weiterhin Anlass zur Sorge?
Thierse: Das Bild ist widersprüchlich. Zunächst einmal
lässt sich mit großem Selbstbewusstsein sagen: Wir leben
in einer gefestigten Demokratie. Das Ergebnis der Bundestagswahl
vom 22. September hat gezeigt, dass Extremisten bei Wahlen in
Deutschland keine Chance besitzen. Dies sollte man positiv
hervorheben, denn in Nachbarländern _ ich erinnere an Le Pen
und an Haider _ ist es durchaus anders. Aber zur gleichen Zeit
erleben wir, dass die Anzahl rechtsextremistisch motivierter
Straftaten nicht abnimmt.
Frage: Was heißt das unter dem Strich?
Thierse: Wir sollen nicht dramatisieren, denn wir leben _ wie
gesagt _ in einer gefestigten Demokratie. Aber es gibt zugleich
noch beunruhigend viele rechtsextremistisch motivierte Straftaten,
beunruhigend viele rassistische Vorurteile und inhumane
Einstellungen unter Deutschen. Dies ist nicht die Mehrheit, aber
doch eine immer noch zu große Minderheit.
Frage: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang des
NPD-Verbotsverfahren?
Thierse: Mit einem Verbot der NPD wäre eine wichtige
organisatorische Plattform zerschlagen. Das kann hilfreich sein,
aber der Kampf um die Köpfe und Herzen von Menschen muss
natürlich weiter gehen. Der Vorteil eines solchen Verbots
wäre übrigens auch, dass der demokratische Staat eine
demokratiefeindliche Partei, wie die NPD es meiner Überzeugung
nach ist, nicht auch noch mitfinanzieren muss.
Frage: Und wenn das Verbotsverfahren nicht so ausgeht, wie es
die Antragsteller erhoffen und, erwarten...
Thierse: Das mag ich mir gar nicht vorstellen, weil eine solche
Niederlage des demokratischen Staates von seinen Gegnern
natürlich wie ein Sieg gefeiert würde.
Frage: Herr Thierse, generell gefragt: Hat sich das Klima
zwischen Deutschen und Ausländern in der Bundesrepublik im
Jahr 2002 eher zum Positiven oder zum Negativen
gewandelt?
Thierse: Die Frage lässt sich nicht so ganz einfach
beantworten, denn wir erleben ja beides: Wunderbare Beispiele einer
Kultur des Verständnisses. Das schönste und heiterste
Beispiel war die Art und Weise, wie wir in Deutschland miteinander
die Fussballweltmeisterschaft gefeiert haben. Auf dem Potsdamer
Platz fanden sich Menschen aller möglicher Herkunft ein und
feierten gemeinsam. Es ging dort fröhlich und friedlich zu.
Auf der anderen Seite gibt es ausländerfeindliche Vorurteile
und Gewalt. Das Bild ist also widersprüchlich.
Frage: Wie sollten wir darauf reagieren?
Thierse: Wir müssen in Deutschland weiter an einer Kultur der
menschlichen Anerkennung, des Aushaltens von Differenzen arbeiten.
Das ist nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern betrifft alle
kulturellen Kräfte: Kirchen, Gewerkschaften, die zivile
Gesellschaft im weiten Sinne des Wortes.
Frage: Auf Grund der Irakkrise und des Anti-Terror-Kampfes wird
vielfach der Wunsch nach einem besseren Verständnis speziell
zwischen Christen und Moslems geäußert. Wie stehen Sie
zu einem solchen Dialog der Kulturen?
Thierse: Es gibt ja die berühmte oder soll ich lieber sagen:
die berüchtigte These vom Zusammenstoß, ja vom Krieg der
Kulturen. Diese These beschreibt nicht unbedingt eine
Realität, aber doch eine Gefahr. Wir sollten nicht in die
Falle der Islamisten gehen und die Auseinandersetzung mit dem
Terrorismus zu einem Kampf der Kulturen oder Religion machen
wollen. Dem müssen wir widerstehen. Stattdessen sollten wir
aktiv für einen Dialog der Kulturen und Religionen eintreten,
der keine Idylle, sondern mit Zumutungen verbunden ist.
Frage: Können Sie das näher erklären?
Thierse: Dialog und Toleranz meinen nicht etwa Beliebigkeit,
sondern vielmehr die Fähigkeit, zwei Dinge miteinander zu
verbinden. Es gilt, die eigene Überzeugung energisch zu
vertreten und zugleich eine andere Überzeugung zu
respektieren. Wir müssen erkunden, wo es Gemeinsamkeiten gibt
und wo Unterschiede bestehen bleiben. Das ist sehr mühselig,
gerade auch im Dialog zwischen Christentum und Islam. Ziel des
Gesprächs muss auch sein, den Missbrauch von Religion zur
Begründung von Gewalt zu bekämpfen.
Frage: Für den Irakkonflikt bedeutet dies...
Thierse: Weder Saddam Hussein noch Osama Bin Laden können sich
zu Recht auf den Koran berufen. Aber andererseits könnte sich
etwa ein amerikanischer Militärschlag gegen den Irak auch
nicht auf die Bibel berufen.
Frage: Halten Sie einen EU-Beitritt der Türkei für
sinnvoll, auch um die Integration der in Deutschland lebenden
Türken zu erleichtern?
Thierse: Ich glaube nicht, dass das eine unbedingt etwas mit dem
anderen zu tun hat. Bei der Frage nach einer Beitrittsperspektive
für die Türkei geht es darum, zunächst einmal unser
europäisches Interesse zu definieren. Ich halte es für
gut, dass sich die Türkei auf Europa zubewegt. Dies ist
kulturell und menschlich auch deswegen möglich geworden, weil
Bürger unseres Landes, die aus der Türkei stammen,
zeigen, dass man ein Moslem sein und zugleich dem Grundgesetz treu
sein kann. Im übrigen sage ich entgegen mancher Aufgeregtheit
dieser Tage: Es wird noch viele, viele Jahre dauern, bis es zu
einer vollen Mitgliedschaft der Türkei in der EU kommen wird.
Wir dienen der Türkei nicht, wenn wir ihre Beitrittskriterien
abschwächen. Die Hürden sollen genau so hoch sein wie
für die mittelosteuropäischen Länder.
Frage: Ein anderes Thema. Wie beurteilen Sie die aktuelle
Entwicklung im Osten der Republik. Die Lage auf dem dortigen
Arbeitsmarkt wird immer bedrückender. Droht eine dauerhafte
Abkopplung vom angeblich so reichen Westen. Geht ein neuer Riss,
eine vertiefte Spaltung durch Deutschland?
Thierse: Einer solchen Befürchtung möchte ich
widersprechen. Gewiss, es gibt in ökonomischer Hinsicht noch
klar erkennbare West-Ost-Unterschiede. Die Arbeitslosigkeit ist im
Osten deutlich höher. Die Einkommen und das private
Vermögen sind wesentlich geringer. Bei der Infrastruktur
besteht in Ostdeutschland immer noch ein beträchtlicher
Nachholbedarf. Das beschreibt die Größe der Aufgabe bei
der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse. Wir sind erst auf
der Mitte des Weges.
Frage: Und wie geht es weiter?
Thierse: Ich glaube nicht, dass der Riss zwischen den Deutschen
größer wird. Ich erinnere noch einmal an die große
Solidarität nach der Flutkatastrophe in Sachsen und
Sachsen-Anhalt.
Es gibt keinen emotionalen, moralischen oder sozialen Riss, sondern
erkennbare ökonomisch-soziale Unterschiede, die wir durch
große Anstrengungen in den nächsten Jahren Schritt
für Schritt verringern müssen.
Frage: Was sollte im kommenden Jahr getan werden, um die
zunehmende Abwanderung gerade junger, leistungsbereiter Menschen
aus den neuen Ländern zu stoppen?
Thierse: Die Antworten sind einfach, Ihre Verwirklichung ist
schwieriger. Die Antworten heißen: Genügend
Ausbildungsplätze für ostdeutsche junge Leute,
verlässliche berufliche und ökonomische Perspektiven, die
Aussicht, nach der Ausbildung auch einen Arbeitsplatz bekommen, in
einer erreichbaren Zeit gleiche Löhne und Gehälter. Wir
brauchen eine weitere Verbesserung der Infrastruktur für
Ostdeutschland, hochqualifizierte Arbeitsplätze vor allem auch
im Bereich von Forschung und Innovation. Wir müssen auch daran
arbeiten, dass die ostdeutschen jungen Leute in emotionaler Weise
Zukunft und Ostdeutschland wieder miteinander verbinden, dass sie
ihre eigene Perspektive auch in Ostdeutschland sehen, selbst wenn
sie im Westen Deutschlands eine Lehre absolvieren oder dort
studieren. Im Anschluss daran sollten sie sagen: Jetzt kann ich mit
meinem neu erworbenen Wissen, mit meinen beruflichen Erfahrungen
etwas in Ostdeutschland gründen. Das ist eben nicht nur eine
materielle Frage, sondern auch ganz wesentlich eine moralische und
kulturelle Frage.
Frage: Welche Perspektiven sehen Sie denn in 2003 für die
neuen Länder, um die sozialen wirtschaftlichen Abstände
gegenüber dem alten Bundesgebiet zu verringern?
Thierse: Wir haben den Solidarpakt zwei und den
Länderfinanzausgleich. Auf dieser Basis geht es darum,
Infrastrukturausbau in Ostdeutschland energisch fortzusetzen,
Bundesverkehrswege Ost zu bauen, schwerpunktmäßig
Forschungskapazitäten in Ostdeutschland anzusiedeln. Bei allen
Entscheidungen, an denen der Bund bei der Ansiedlung von
Forschungskapazitäten mitwirkt, sollte Ostdeutschland die
erste Chance bekommen. Es gibt dort noch immer Nachholbedarf. Wir
müssen am Ansehen der ostdeutschen Universitäten und
Kulturstandorte arbeiten. Und vor allem gibt es mit der
Osterweiterung der Europäischen Union eine zweite große
Chance für Ostdeutschland: in der Infrastrukturentwicklung, in
der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen, kulturellen
Zusammenarbeit, in der Ausrichtung von Forschung und Innovation auf
diesen größeren europäischen Raum. Da sollten Bund,
Länder, Gemeinden, Hochschulen, Unternehmen, Gewerkschaften im
kommenden Jahr den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten legen.
Frage: Abschließend gefragt: Wie sieht Ihr
größter politischer Wunsch für das Jahr 2003
aus?
Thierse: Erstens, dass es keinen Krieg gibt, auch nicht in und um
den Irak. Zweitens, dass es uns gelingt, die Vorschläge der
Hartz-Kommission umzusetzen und damit auch die Arbeitslosigkeit zu
verringern, und drittens, dass es uns gelingt, die
gesellschaftliche Atmosphäre so zu ändern, dass die
Hysterie des Schlechtredens unseres Landes überwunden wird und
dass wir wieder nüchterner und zugleich selbstbewusster
über unsere Probleme und deren Lösungen streiten und
nicht auf eine wie auch immer geartete politische Erlösung
warten.