Martin Ebbing
Unklare Zahlen bei Irak-Wahlen
Zu früh gefreut?
Die Menschen des Iraks haben zur Welt gesprochen, und die Welt
hört die Stimme der Freiheit aus dem Zentrum des Mittleren
Osten", strahlte ein sichtlich erfreuter US-Präsident George
W. Bush, wenige Minuten, nach denen die Wahllokale in Bagdad
geschlossen hatten, in die bereit gehaltenen Fernsehkameras.
Sein französischer Amtskollege und entschiedener
Kriegsgegner Jacques Chirac zollte den Wahlen ebenfalls Respekt.
"Die Wahlbeteiligung und die gute technische Organisation waren
zufriedenstellend", ließ er seinen Sprecher einer
interessierten Öffentlichkeit mitteilen.
Bundesaußenminister Joschka Fischer, der ansonsten zu den
Ereignissen im Irak eher eine vorsichtige Distanz hält,
ließ gleichfalls einen zaghaften Ansatz von Optimismus
erkennen: "Die Entscheidung vieler Irakis, zu den Urnen zu gehen,
verdient große Anerkennung", erklärte der
Grünen-Politiker in Brüssel.
Die Wahlen im Irak waren - so äußerten sich die Medien
wie die Staatsmänner übereinstimmend - ein Erfolg. Die
Fernsehbilder waren beeindruckend. Die Iraker hatten mutig der
Bedrohung durch Terroristen getrotzt und sich das Recht nicht
nehmen lassen, nach einem halben Jahrhundert erstmals wieder von
ihrem Stimmrecht Gebrauch machen zu können. Eine
Wahlbeteiligung von 60 Prozent war unter den gegebenen,
äußerst schwierigen Umständen ein ziemlich
hoffnungsvoller Auftakt für eine demokratische Zukunft des
Landes.
Nur: Haben auch tatsächlich 60 Prozent der Iraker
gewählt?
Am Wahltag selbst konnte das niemand so genau wissen. Es
existierte schließlich im Irak kein ausgefeiltes System der
Wahlprognosen. Niemand zählt in ausgewählten,
repräsentativen Bezirken die Zahl der Wahlteilnehmer und
meldet sie an eine Zentrale, die dann Hochrechnungen anstellen
kann. Die unabhängigen Wahlbeobachter saßen entweder im
benachbarten Jordanien oder aus Sicherheitsgründen in ihren
Hotels. Auch die Journalisten, die die Zahl willig verbreiteten,
konnten sich in weiten Teilen des Landes aus Angst vor
Anschlägen und Kidnapping nicht frei bewegen.
Angst vor Vergeltung
Nach der Schließung der Wahllokale hatte nicht einmal die
zentrale Wahlkommission einen Überblick, ob tatsächlich
überall gewählt werden konnte. In einigen Distrikten
wurden die Wahlurnen nicht rechtzeitig ausgeliefert. Im Norden der
Provinz Mossul waren davon allein geschätzte 150.000
potentielle Wähler betroffen. An anderen Orten wie in Beiji
waren die Wahlhelfer aus Angst vor Vergeltung nicht erschienen.
Noch am Wahlabend erklärte der Sprecher der zentralen
Wahlkommission, Farid Ayar, die Wahl habe ohne größere
Pannen überall im Land stattfinden können. Er lag
allerdings mit dieser Aussage ebenso falsch wie mit seiner
ursprünglichen Schätzung, die Wahlbeteiligung habe 72
Prozent betragen. Wenige Zeit später korrigierte er sich und
sprach von erstaunlich präzisen 57 Prozent, die von den Medien
im Zuge der allgemeinen Euphorie auf 60 Prozent aufgerundet
wurden.
Kurioserweise entsprach Ayars Schätzung ziemlich genau dem,
was er Tage vor den Wahlen schon vorausgesagt hatte. In
Presseberichten wurde er damit zitiert, dass er mit "bis zu acht
Millionen Wählern" rechne. Bei rund 14 Millionen
geschätzten Wahlberechtigten würde das ziemlich exakt den
57 Prozent entsprechen, die er am Wahlabend dann verkündet
hat.
Völlig unter den Tisch fiel eine andere Frage, auf deren
Antwort sich die gesamte Wahlarithmetik stützt: Wer sind
eigentlich die immer wieder genannten 14 Millionen? Sind dies alle
Irakis älter als 18 Jahre, also die Wahlberechtigten, oder
sind es alle Irakis, die sich für die Wahl haben registrieren
lassen? Offensichtlich handelt es sich um die registrierten
Wähler, wobei auch diese Zahl eine grobe Schätzung ist.
Die genaue Zahl kennt bis heute niemand genau. In vielen
Wahllokalen war es möglich, sich noch am Wahltag zu
registrieren.
Ungenaue Daten über Wahlberechtigte
Allgemein ist es üblich, die Wahlbeteiligung auf der Basis
der Zahl der Wahlberechtigten zu berechnen. Die USA kommen deshalb
immer so schlecht weg, weil so wenig Amerikaner sich die Mühe
machen, sich registrieren zu lassen. Bei den registrierten
Wählern beträgt die Beteiligung dagegen immerhin 80 bis
90 Prozent.
Also, wie viele Wahlberechtigte gab es eigentlich im Irak? Auch
diese Zahl scheint niemand genau zu wissen. Es besteht nicht einmal
Klarheit über die Bevölkerungszahl des Landes. Das State
Department schätzt ihre Zahl auf 24 Millionen, das
Auswärtige Amt dagegen weiß nur von circa 23 Millionen.
Andere Überlegungen gehen sogar von einer Zahl bis zu 27
Millionen aus.
Die Bevölkerungszusammensetzung (sprich: wie viele sind
älter als 18 und damit wahlberechtigt) liegt bei einer derart
unsicheren Prognose völlig im Dunkeln. Durchgesetzt hat sich
unter den Experten eine Zahl von rund 18 Millionen. Es können
aber auch mehr sein.
Akzeptiert man Ayars unfundierte Schätzung, dass
tatsächlich acht Millionen Irakis zur Urne gegangen sind, und
akzeptiert man darüber hinaus, dass 18 Millionen Irakis das
Recht zur Wahl besaßen, ergibt sich eine Wahlbeteiligung von
nicht einmal 45 Prozent.
Die kräftige "Stimme der Freiheit", von der
US-Präsident George W. Bush sprach, wäre damit bei
exakter Berechnung bedauerlicherweise deutlich leiser ausgefallen,
als er sie in Washington gehört haben wollte.
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