|
|
Johannes Schillo
Ein Sozialpolitisches Tabu in Deutschland
Eine Studie zur Armut
Die Armut von Kindern nimmt in Deutschland
weiter zu. Das bestätigen neuere Armuts- und Reichtums- oder
Kinder- und Jugendberichte, so der "Kinderreport Deutschland 2004"
des Deutschen Kinderhilfswerks. Dessen Präsident Thomas
Krüger erklärte zur Vorlage des Reports: "Unsere
Gesellschaft hat gegenüber unseren Kindern einen Zustand
erreicht, den man als extrem kinderunfreundlich bezeichnen muss."
Einer, der Ausmaß und Gründe dieser
Kinderunfreundlichkeit seit den 90er-Jahren untersucht, ist
Christoph Butterwegge, Politikprofessor an der Universität
Köln.
Butterwegge hat jetzt zusammen mit den
Sozialwissenschaftlern Klundt und Zeng, die für den
empirischen Teil verantwortlich zeichnen, eine Studie zur
Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland vorgelegt. Sie basiert auf
einer (nicht-repräsentativen) Schülerbefragung in
Köln und Erfurt, bringt also die Wahrnehmung von Kindern zur
Sprache - im Blick auf ihre soziale Lage und die ihrer Familie. Das
führt zu gewissen Undeutlichkeiten und erlaubt eigentlich
keine Zusammenfassung der Ergebnisse, es sei denn, man hält
sich an das - allerdings bemerkenswerte - Fazit zu den
Schwierigkeiten des Forschungsablaufs, dass nämlich
Pädagogen und Pädagoginnen trotz aller Alarmmeldungen
weiterhin dazu tendieren, Armut zu verdrängen und deren
Erscheinungsformen als individuelles Fehlverhalten zu
sehen.
Da, wo konkret nachgefragt wird, stellt sich
heraus, dass Armut immer noch ein Tabuthema ist. Der Wert der
empirischen Erhebung liegt darin, dass sie das Verfahren der von
den Autoren vorgestellten "dualen Armutsforschung" illustriert.
Diese grenzt sich einerseits von einem Ressourcen-Ansatz ab, der
sich auf die Einkommenshöhe konzentriert und etwa
Sozialhilfebezug als Richtgröße nimmt, andererseits auch
von dem in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung
favorisierten Lebenslagen-Konzept.
Keine individuelle Schuld
Die Autoren wenden sich gegen eine
Individualisierung von Notlagen, die den sozialen Sachverhalt in
die subjektive Umgangsweise mit ihm auflöst. In der inzwischen
relativ breit betriebenen Forschung entde-cken sie immer wieder
Tendenzen, die Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit zu
bloßen Einzelschicksalen zu verflüchtigen. Dagegen
stellen die Autoren ihren "dualen" Ansatz.
Dieser will Gesellschaftskritik mit
anspruchsvoller Empirie verbinden, das nationale Problem im
Zusammenhang der Weltmarktdynamik betrachten, beim Armutsbegriff
über den engen Rahmen der Arbeitslosen- oder
Sozialhilfestatistik hinausgehen und sozialpolitische wie
subjektorientierte Handlungsperspektiven erschließen. Das wird
unterlegt mit zahlreichen Hinweisen zu anderen Forschungsvorhaben
und -resultaten, so dass der Leser einen Überblick über
den aktuellen Stand inklusive ausländische Erfahrungen
erhält.
Instruktiv sind vor allem die
gesellschaftstheoretischen und sozialpolitischen Ausführungen
Butterwegges. Er nimmt zunächst die Besonderheiten des
Ost-West-Verhältnisses auf - etwa die höhere Zahl
Alleinerziehender in den neuen Bundesländern - und diskutiert
sie im Blick auf die unterschiedliche sozialpolitische Geschichte
der beiden deutschen Staaten. Dies ordnet er dann in den
Doppelprozess der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und
der Normalfamilie ein, der vor dem Hintergrund der Globalisierung
stattfindet.
Butterwegges Grundthese: "(Kinder-)Armut ist
nicht nur praktisch in der ganzen Welt verbreitet, sondern wurzelt
auch in den Bewegungsgesetzen einer globalisierten Ökonomie.
Sie lässt sich letztlich auf eine ungerechte
Weltwirtschaftsordnung zurückführen, wo der
Neoliberalismus die Arbeits- beziehungsweise Lebensbedingungen der
Menschen und die Sozialstruktur der Gesellschaften tief greifend
verändert."
Mit der Studie konkretisiert der Autor seine
in verschiedenen Zusammenhängen vertretene These, dass es sich
bei der "Globalisierung" um einen Kampfbegriff zur Durchsetzung
einer "neoliberalen Modernisierung" handelt. Seine
Handlungsvorschläge, die auf eine Infragestellung dieses
Modernisierungs-Paradigmas und auf "eine grundlegende Umgestaltung
der Gesellschaft" zielen, geraten dabei in Gegensatz zu vielen
herkömmlichen familienpolitischen Positionen, die sich als
maßgebliche Antwort auf das Phänomen der Kinder- und
Familienarmut in Deutschland verstehen. Butterwegge: "Eine
zeitgemäße Sozialpolitik hat sich nicht ?der Familie' als
solcher zuzuwenden, sondern jenen Familienmitgliedern, die
unfähig sind, ihren Lebensunterhalt ohne fremde Hilfe
selbstständig zu bestreiten."
Christoph Butterwegge/Michael
Klundt/Matthias Zeng (Hrsg.)
Kinderarmut in Ost- und
Westdeutschland.
VS-Verlag für Sozialwissenschaften,
Wiesbaden 2005; 334 S., 24,90 Euro
Zurück zur Übersicht
|