Ilse Nagelschmidt
Bildung ist der Schlüssel für weibliche
Unabhängigkeit
Das neue Jahrbuch Menschenrechte
Die Diskussion im späten 18. Jahrhundert,
die in der Problemstellung gipfelte, "ob die Weiber Menschen sind",
scheint zum Glück Lichtjahre hinter uns zu liegen. Dennoch
ernüchtert die Sachlage am Beginn des 21. Jahrhunderts trotz
ausgewiesener Erfolge. Noch immer sind drei Fünftel der 115
Millionen Kinder, die weltweit keine Schule besuchen, Mädchen;
zwei Drittel der 876 Millionen Analphabeten sind Frauen.
Die Ausgangssituation für wirkliche
Veränderungen war noch nie größer als heute. Sowohl
das Agenda-Setting der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz 1993 als
auch das Abschlussdokument der Weltfrauenkonferenz in Peking (1995)
leiteten einen Paradigmenwechsel ein. Nach Jahren intensivsten
Ringens um und der Orientierung auf Frauenfragen erfolgte nun die
Ausrichtung auf Frauenrechte als Menschenrechte. Dieser andere
Ansatzpunkt und somit die Annahme der Strategie des Gender
Mainstreaming haben zu einer erhöhten Aufmerksamkeit und zu
einer verstärkten Sensibilisierung für Frauenrechtsfragen
geführt. Zunehmend können Einseitigkeiten vermieden und
Fragestellungen in größeren Zusammenhängen
diskutiert werden.
Mit dem neuen "Jahrbuch Menschenrechte", das
die Durchsetzung der Menschenrechte von Frauen auf verschiedenen
Ebenen und in verschiedenen Diskursen thematisiert, liegt für
mich ein wahrhaftes Plädoyer für die Bildungs- und
Politikstrategie von Gender Mainstreaming vor. Fernab von jeglichem
Populismus bekommen wir differenzierte Einblicke in weltweite
Problemlagen bei gleichzeitiger Schärfung des
europäischen Blickes.
Folgerichtig legt Ute Gerhard ihrer
Einleitung diese Doppelstrategie zugrunde. Es gilt dringender denn
je, die Rechte der Frauen in der Öffentlichkeit zur Sprache zu
bringen, um die Universalität der Menschenrechte für
Frauen in Anspruch nehmen zu können. In sechs präzis
geschriebenen Beiträgen werden dann aktuelle Probleme vom
Anspruch, dass Arbeitsrechte Menschenrechte sind, über den
Frauenhandel in Westeuropa bis zum langen Weg im Kampf gegen die
Genitalverstümmlung in Niger thematisiert.
Bildung ist nach wie vor der Schlüssel
für weibliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit.
Auf den Punkt brigt dies der Aufsatz zu "Geschlechtergerechtigkeit
durch Bildungsrechte". Die aufgeführten Beispiele, die bei
weitem nicht nur aus Entwicklungsländern gewonnen wurden und
die nach den Pisa-Studien eine intensive Beachtung erfahren
müssen, sind in der Auswertung die Basis der Erkenntnis
für eine "menschenrechtsbasierte Bildung".
In den vier Hauptabschnitten werden "Globale
Prinzipien", "Regionen und Länder", "Internationale
Menschenrechtsarbeit" und "Menschenrechte in Deutschland und
Europa" zur Diskussion gestellt. Bestechend ist der Aufsatz von
Volkmar Deile, der an Hand von eindrucksvollen Beispielen
schildert, wie akut im Zusammenhang mit dem Antiterrorkampf
weltweit Menschenrechtsstandards in Gefahr sind. In sieben Thesen
formuliert er Ansätze, wie gegen solche Bewegungen vorgegangen
werden kann. Wo Menschenrechtsverletzungen als
"Antiterrormaßnahmen" gerechtfertigt wurden und werden, sind
Geistesfreiheit und Grundrechte beeinträchtigt. Neue
Gewaltprozesse sind programmiert, die sich wiederum gegen die
Schwächsten richten und weiter richten werden.
Der weltweite Blick ist in Zeiten der
Globalisierung unumgänglich. Astrid Lipinsky weist nach, wie
die staatlich vorgegebene Bevölkerungspolitik in China bis in
das neue Jahrtausend hinein gegen Frauen und Mädchen gerichtet
ist. Im scheinbar modernen China, das sich weltweit als
aufstrebende Industrie- und Wissenschaftsnation feiern lässt,
wird von Frauen noch immer primär verlangt, dass sie
gebären. Die vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung, die zwar
offiziell verboten ist, gilt als erwünschtes Mittel, um die
unerwünschten weiblichen Föten abzutreiben.
Auch Deutschland rückt in den Blick.
Ipek Gedik berichtet über Gewaltprozesse in Migrantenfamilien,
in denen es vielfach zu Zwangsheiraten kommt. Wichtig sind ihre
Schlussfolgerungen, dass auf beiden Seiten Präventionsarbeit
geleistet und Sensibilisierungsprozesse greifen müssen. Nur
durch das Bewusstwerden der eigenen bei gleichzeitiger Anerkennung
der anderen Kultur werden diese Formen von Gewalt weiter
zurückgedrängt werden können, bloße Eingriffe
dagegen werden zu wenig Erfolg führen.
Der für viele Berufs- und Altersgruppen
äußerst aufschlussreiche Band, dem ein großes
Lesepublikum zu wünschen ist, wird durch eine Chronologie
ausgewählter menschenrechtspolitischer Ereignisse in der Zeit
vom 1. Januar 2003 bis Juni 2004 sowie durch ausgewählte
Berichte im Serviceteil abgerundet.
Jahrbuch Menschenrechte
2005.
Themenschwerpunkt: Durchsetzung der
Menschenrechte von Frauen.
Herausgegeben vom Deutschen Institut
für Menschenrechte und von Volkmar Deile, Franz-Josef
Hütter, Sabine Kurtenbach und Carsten Tessmer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2004; 399
S., 11,- Euro
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