Rita Heck
Im Wohlfahrtstaat kann es auch "normale" Leute
treffen
Kinder- und Jugendarmut
Das Deutsche Kinderhilfswerk hat in seinem Kinderreport 2004
festgestellt, dass sich die Armut von Kindern in Deutschland weiter
verschärft hat. Thomas Olk von der Universität Halle
führte in einem "Focus"-Interview aus, dass derzeit eine
Million Kinder und Jugendliche in Deutschland an der Armutsgrenze
leben. Durch Hartz IV wird erwartet, dass weitere 1,5 Millionen
Kinder aus Haushalten, die ab Januar Arbeitslosengeld oder
Sozialhilfe beziehen, hinzukommen werden.
Zwar wurde das Problem Armut in den letzten Jahren nicht
völlig vernachlässigt. Es war der Initiative Heiner
Geißlers zu verdanken, dass die Wahrnehmungsschwelle für
Armut und das thematische Tabu übersprungen wurden: Armut im
Wohlfahrtsstaat wurde nicht mehr verdrängt, sondern als
Problem angesehen, das auch "normale" Leute treffen kann.
Das Buch von Palentien unterscheidet sich von anderen
Veröffentlichungen der letzten Jahre insofern, als im zweiten
Teil am konkreten Beispiel der westfälischen Stadt
Gütersloh sowohl Armutsmessung als auch Möglichkeiten der
sozialraumbezogenen Armutsprävention dargestellt werden.
Die ersten fünf Kapitel stellen eine wahre Fleißarbeit
dar, indem auf Strukturen des Aufwachsens von Kindern und
Jugendlichen eingegangen wird und soziale Benachteiligung als
"Nachkriegsarmut" und die "Neue soziale Frage" diskutiert werden.
Ferner gibt der Autor einen Überblick über
sozialwissenschaftliche Definitionen von Armut. Diese
Einführung bietet aufgrund der Fülle an weiteren
Literaturhinweisen für den interessierten Leser einen guten
Einstieg in die theoretische Behandlung des Themas.
Beispiel Gütersloh
Die folgenden Kapitel stellen das Projekt "Kommunale
Armutsstrukturen am Beispiel der Stadt Gütersloh" vor. Hierbei
soll die Entwicklung der Armut in Gütersloh mit landes- und
bundesweiten Trends verglichen werden. Die gewonnenen Daten sollen
als Grundlage für "präventiv ausgerichtete
kommunalpolitische Entscheidungen und Maßnahmen und
Aktivitäten der Jugendhilfe dienen". Verschiedene Ansätze
- Einkommensansatz, Lebenslagenansatz und das Konzept der sozialen
Deprivation - machen deutlich, dass die Aspekte Bildung,
Erwerbsstatus und Wohnen die zentralen Risiken für Armut
darstellen.
Gerade armutsbedrohte Kinder und Jugendliche unterliegen
spürbaren Einschränkungen im Wohn- und Freizeitbereich,
zeigen häufig schlechte schulische Leistungen und leiden unter
negativen gesundheitlichen Auswirkungen. Die "sozialraumbezogene
Armutsprävention" kommt zu dem Ergebnis, dass ganz konkrete
Maßnahmen für kinderreiche Familien, Senioren,
Alleinerziehende sowie ausländische Mitbürger nötig
sind.
Der Handlungsbedarf wird für die einzelnen Stadtteile
verdeutlicht: Es geht um mehr Information, um eine Öffnung der
Einrichtungen, stärkere Qualifizierung, Integration,
Sozialraumangebote und um stärkere Kooperation mit Vereinen.
Am Ende werden Entwicklungstrends sowie politische und
pädagogische Folgerungen zur Prävention von Kinder- und
Jugendarmut präsentiert sowie ein Plädoyer für die
Ganztagsschule, die geeignet erscheint, bei psychischen, sozialen
und auch physischen Problemen helfend einzugreifen.
Der vorliegende Band fasst die aktuelle Diskussion zur Kinder-
und Jugendarmut zusammen und zeigt, wieviel in puncto
Prävention auf kommunaler Ebene noch zu tun ist, etwa durch
die Schaffung der politischen Rahmenbedingungen sowie der
Vernetzung der vorhandenen Hilfeangebote. Er bietet somit
interessanten Lesestoff für Studierende, für Lehrer der
Sozialkunde aber auch für Kommunalpolitiker, die gerade heute
aufgrund der leeren Kassen noch sparsamer mit den Ressourcen
haushalten müssen. Und wie schon George Bernard Shaw
feststellte: The greatest evil and the worst of crimes is
poverty.
Christian Palentien
Kinder- und Jugendarmut in Deutschland
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004; 342
S., 36,90 Euro
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