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Jeannette Goddar
Das Büro liegt in Holland, die Toilette in
Deutschland
Herzogenrath-Kerkrade - ein Grenzfall mitten in
Europa
Herbert Krisp ist ein Pendler zwischen zwei
Welten; und das auch noch zu Fuß. Er lebt in Deutschland und
arbeitet in den Niederlanden. Der Arbeitsplatz des Mittvierzigers
ist weniger als drei Meter von der deutschen Grenze entfernt. Den
Abstand kann man mit blankem Auge ermessen: Als grauer Stahlbalken
ist die Grenzlinie in den Fliesenboden eingelassen. Auf der Linie
stehen zwei Grenzsteine: Der eine in rot, weiß und blau, der
andere in schwarz, rot und gold.
Herbert Krisp arbeitet im Foyer eines Hauses,
das im zusammenwachsenden Europa seinesgleichen sucht: Das
"Eurode"-Businesszentrum steht im niederländischen Kerkrade
und im deutschen Herzogenrath zugleich. Der Eingang ist in
Deutschland, die Rezeption in den Niederlanden. Die Mitarbeiter
wandern den ganzen Tag von einem Land ins andere. "Ich arbeite in
Holland", sagt Ralph Reisinger, der niederländische
Marketingchef im zweiten Stock, "aber auf die Toilette gehe ich in
Deutschland." Und Reisinger arbeitet nicht nur in einem Haus, das
für Unternehmer gebaut wurde, die in zwei Ländern
präsent sein wollen. Reisingers Firma lebt von
Grenzgängern. Die "Wiertz Human Resources Group" vermittelt
deutsche Zeitarbeitskräfte auf den niederländischen
Arbeitsmarkt.
Die kommen zuhauf und nicht nur aus dem
Dreiländereck. "Auch immer mehr Menschen aus den neuen
Bundesländern machen sich zu uns auf den Weg", sagt
Mitarbeiterin Nadine Rademakers. Vor allem Handwerker wie
Eisenflechter, Maurer oder Stu-ckateure würden in der
Bauindustrie der Niederlande gerne genommen. Rademakers: "Wenn sich
ein holländischer Bauunternehmer an uns wendet, suchen wir
häufig lieber in Deutschland. In Holland gibt es immer noch
wesentlich weniger qualifizierte Arbeitslose." Die Zeitarbeitsfirma
ist längst zu einer Anlaufstelle geworden, die nicht nur bei
der Arbeitsuche und auch nicht nur in den Niederlanden hilft.
Zugereiste Arbeitskräfte werden in Steuerfragen beraten, es
werden Gäste- oder Pensionszimmer vermittelt - in beiden
Ländern.
Mehr als 6.000 Deutsche zieht es an jedem
Werktag aus Deutschland ins benachbarte Polderland. Drei von vier
dieser Gastarbeiter leben in Nordrhein-Westfalen - und von denen
wiederum ein großer Teil auf der deutschen Seite des
Dreiländerecks bei Aachen, wo die Bundesrepublik nicht nur an
die Niederlande, sondern auch an Belgien grenzt. Seit Jahrzehnten
gehört das Pendeln in allen drei Ländern zum Alltag:
Deutsche kaufen Kaffee in den Niederlanden und Benzin in Belgien;
Holländer kaufen Bier in Belgien und alles andere beim
deutschen Discounter. Die niedrigeren Baupreise haben dafür
gesorgt, dass viele Deutsche längst ganz umgezogen sind; die
höheren Löhne in Deutschland dafür, dass Belgier und
Niederländer sich in Deutschland nach Arbeit
umsehen.
Aber auch institutionell war das
Dreiländereck schon lange vor dem Wegfall der Schlagbäume
Modellregion: Bereits 1976 schlossen sich die niederländischen
und belgischen Provinzen Limburg und Lüttich mit der Region
Aachen zur Euregio Maas-Rhein zusammen. Seither arbeiten
Mitarbeiter in allen drei Ländern daran, den Austausch in der
4-Millionen-Einwohner-Region zu fördern. Auf deutscher Seite
sitzen im Eurode-Haus in Herzogenrath-Kerkrade zwei; in Aachen zehn
Mitarbeiter. Sie sind Drehscheibe und Informationsbörse
für den kulturellen und sozialen Austausch und Ansprechpartner
für Akteure der regionalen Strukturpolitik. Vor allem aber
sind sie Grenzgängerberater. Sie koordinieren Infotage der
Arbeitsämter und Steuersprechstunden der Finanzämter. Sie
legen Broschüren mit Titeln wie "Wohnen in Deutschland,
Arbeiten in den Niederlanden" - oder umgekehrt - vor. Und sie
stehen auch persönlich in allen Fragen von "Was passiert mit
meiner Krankenversicherung, wenn ich nach Belgien ziehe?" bis zu
"Wird der niederländische Schulabschluss meiner Kinder auch in
Deutschland anerkannt?" zur Verfügung.
Informationsbedarf gab es immer, und er wird
nicht weniger. Nicht nur, weil Menschen sich von A nach B bewegen,
sondern weil auch im Jahr drei des Euros die
Mobilitätshemmnisse enorm sind. "Manchmal hat man den
Eindruck, die Hürden würden höher statt niedriger",
resümiert Christina Löhrer-Kareem,
Grenzgängerberaterin bei der Regio Aachen. Schwierig, sagt
sie, werde es meist nicht wegen arbeits- oder
aufenthaltsrechtlicher Regelungen, sondern wegen der Organisation
der Zwischenzeiten. Weil jede Regierung das System sozialer
Sicherung nach wie vor als nationalstaatliche Aufgabe betrachte,
fänden Grenzgänger sich häufig im Dickicht von
Gesetzeslücken oder widerstreitender Bestimmungen wieder. So
ist bis heute nicht geklärt, inwieweit in den Niederlanden
wohnende, aber in Deutschland arbeitende Deutsche Anspruch auf die
Riester-Rente haben. Auch in den Niederlanden lebende deutsche
Empfänger von Arbeitslosengeld oder -hilfe, jetzt Alg II,
finden sich häufig im Gestrüpp der Bestimmungen wieder.
Grundsätzlich gilt: Sozialversicherungsbeiträge werden in
jenem Land gezahlt, in dem man arbeitet, von dort bekommt man auch
Arbeitslosenunterstützung; für die Zahlung von
Sozialhilfe waren aber die Ämter des Wohnortes zuständig.
Was aber passiert mit einem deutschen Alg-II-Berechtigten, der in
den Niederlanden lebt? "An so manchem Einzelfall beißt man
sich die Zähne aus", sagt Christina Löhrer-Kareem.
"Offenbar haben viele noch gar nicht begriffen, was ein vereintes
Europa bedeutet: dass die Menschen sich zwischen den Ländern
bewegen."
Dabei tun sie das von Jahr zu Jahr mehr. Wenn
Herbert Krisp in Herzogenrath-Kerkrade aus seinem Fenster guckt,
ist nichts mehr so wie vor 15 Jahren. Wo heute ein Kreisel den
Verkehr von der Nieuwstraat in die Neustraße leitet, erinnert
nur noch ein verblichenes Schild des längst geschlossenen
"Cafes zur Grenze" an vergangene Zeiten.
Herzogenrath und Kerkrade sind weit über
das Business-Zentrum und die Neu-Nieuwstraat hinaus verbunden: Seit
dem 1. Mai 1998 existiert die grenzüberschreitende Gemeinde
"Eurode" als Zweckverband mit eigenem Vorstand und Verwaltungsrat.
Es gibt einen gemeinsamen Stadtplan und gemeinsame
Feuerwehr-Einsatzpläne. Seit drei Jahren residiert wenige
Meter von Herbert Krisps Rezeption entfernt die erste
deutsch-niederländische Polizeistation. Dass die hier
arbeitenden Beamten sich nicht jedes Mal in verschiedene Richtungen
bewegen müssen, wenn sie zur Tür hinausgehen, ist auch
geklärt: Im Grenzgebiet gehen niederländische und
deutsche Polizisten gemeinsam auf Streife. Die Unterschiede
verwischen. Krisp sagt: "Meine Kinder wissen manchmal schon gar
nicht mehr, in welchem Land sie gerade Fußball
spielen."
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