Tobias von Heymann
Europa nimmt langsam Abschied von der
Wehrpflicht
Das Prinzip der Freiwilligkeit ist auf dem
Vormarsch
Anders als Deutschland haben zahlreiche andere europäische
Staaten die komplexe Debatte um die Zukunft von Wehr- und
Zivildienst und mögliche Folgen für die Sozialsysteme
bereits hinter sich - für manche stellte sie sich sogar
überhaupt nicht oder nur in geringem Maße. Wegen der
Fülle der unterschiedlichen Modelle auf diesem Sektor ist ein
Blick über die Grenzen besonders aufschlussreich. Nicht nur,
weil sich daraus mögliche Szenarien für die
Bundesrepublik ableiten lassen können, sondern weil sich auch
erste gemeinsame europäische Trends zur Zukunft sozialer
Dienste abzeichnen.
Ein kurzer Überblick über die aktuelle Situation in
Deutschland soll den Vergleich erleichtern. So lag die Zahl der
Zivildienstleistenden im Dezember 2004 laut Bundesamt für den
Zivildienst bei 81.650, das sind rund 42.000 weniger als noch 2000.
Für ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr
anstelle des zivilen Ersatzdienstes entschieden sich etwa 3.430
junge Menschen. Bei der Bundeswehr sind momentan im Schnitt pro
Jahr rund 78.000 Wehrpflichtige im Einsatz - bis 2010 soll die Zahl
auf 55.000 absinken. Auch dauern seit Oktober 2004 Wehr- und
Zivildienst gleichermaßen neun Monate.
Während Verteidigungsministerium und Bundeswehr an der
Wehrpflicht - und damit auch am zivilen Ersatz - festhalten,
untersuchte die Kommission für die Zivilgesellschaft des
Bundesfamilienministeriums mögliche Konsequenzen eines
Ausstiegs aus der allgemeinen Wehrpflicht und skizzierte in ihrem
Bericht von 2004 "Perspektiven für Freiwilligendienste und
Zivildienst in Deutschland." Darin geht das Experten-Gremium von
einem dramatischen demografischen Wandel der Gesellschaft in den
kommenden zwei Jahrzehnten aus, der bereits zwischen 2008 und 2012
sichtbar werden könnte. Bis 2050 sollen schätzungsweise
rund 50 Prozent der Gesamtbevölkerung älter als 48 Jahre
und nur noch etwa 16 Prozent jünger als zwanzig Jahre sein.
Einbrüche auch bei der Zahl der Zivildienstleistenden seien
daher vorauszusehen.
Da eine allgemeine Dienstpflicht aus verfassungs- und
völkerrechtlichen Gründen tabu sei, schlägt die
Kommission den Ausbau einer "Kultur selbstverständlicher
Freiwilligkeit" vor, die Generationen übergreifen soll. So
müsse darüber nachgedacht werden, wie man auch Senioren
künftig stärker für soziale Tätigkeiten
gewinnen könne.
Vor ähnlichen Fragen stand in der Europäischen Union
(EU) bis vor kurzem auch die tschechische Republik - und hat sich
für folgende Variante entschieden: Zum 31. Dezember 2004
schaffte das Land nach 140 Jahren die allgemeine Wehrpflicht ab und
baut stattdessen eine Berufsarmee aus 35.000 Männern und
Frauen auf. Auch für den Zivildienst kam damit das Aus, den
zuletzt etwa 8.500 Tschechen geleistet hatten. Laut Sozialminister
Zdanek Skromach sollen die dadurch entstehenden Lücken nun
"aus dem Heer der Arbeitslosen" gedeckt werden.
Problematische Situation in Italien
Vergleichbar ist die Situation auch in Portugal: Im September
2004 verabschiedete sich das Land von der Wehrpflicht (vier Monate)
- wegen der hohen Zahl an Bewerbern für die jetzige
Berufsarmee (34.000 Mann) zwei Monate früher als geplant.
Gleichzeitig fiel damit auch der bislang siebenmonatige Zivildienst
weg. Bei einer Arbeitslosenquote von derzeit rund 6,9 Prozent setzt
aber auch der südeuropäische Staat darauf, genug Personal
für soziale Tätigkeiten über den regulären
Arbeitsmarkt zu erhalten.
Problematischer sieht die Lage dagegen in Italien aus. Ebenfalls
ab dem ersten Januar 2005 setzte das Land den bislang zehn Monate
dauernden Wehr- und Zivildienst zugunsten einer rein
professionellen Armee aus. Unter anderem soll jetzt ein
Freiwilligendienst-Programm den Wegfall des Ersatzdienstes
abfedern. So können italienische Männer und Frauen
zwischen 18 und 26 Jahren auf eigenen Wunsch einen "Nationalen
Zivildienst" ableisten - 2003 taten das rund 20.000. Wer sein
soziales Jahr im Inland verrichten will, erhält eine
Aufwandsentschädigung von 433 Euro im Monat, wer die
zwölf Monate im Ausland verbringt, bekommt mit 850 Euro knapp
das Doppelte. Die Kosten - auch für die Grundversicherungen -
übernehmen Staat und EU.
Doch bereits jetzt hat Italien mit zwei Folgeproblemen zu
kämpfen: So haben sich beispielsweise in der autonomen Provinz
Südtirol bisher noch zu wenig Menschen für den
freiwilligen Sozialdienst entschieden. Zum Zweiten hat sich auch
ein Konkurrenzkampf zwischen Militär und Nationalem
Zivildienst um die gleiche Zielgruppe entwickelt. Und auch der
Dienstleistungssektor, die Kommunen und die Krankenhäuser
stehen in hartem Wettbewerb um die Freiwilligen. Denn das
Einsatzspektrum reicht vom Pflegesektor über Kulturprojekte
bis zu Katastrophen- und Umweltschutz. Dazu kommt, dass
beispielsweise administrative Aufgaben zwischen dem Nationalen
Zivildienstamt und regionalen Behörden nicht präzise
verteilt sind.
Schon in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre hat sich
Frankreich für einen langfristigen Umbau seiner
Streitkräfte zur Berufsarmee sowie einer Reform des "Service
National" (SN) insgesamt entschieden. So bestand der SN bis dahin
aus einem militärischen - dazu gehörte auch der Dienst in
der Gendarmerie - und einem zivilen Teil. Hier hatten junge
Franzosen unter anderem die Wahl zwischen Entwicklungshilfe,
technischer Hilfe oder Zivilschutz.
Die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ("objection
de conscience") spielte hier nie eine so bedeutende Rolle wie zum
Beispiel in Deutschland: Noch in den 80er-Jahren verweigerten pro
Jahr weniger als 1.000 Franzosen. Mit dem Aussetzen der allgemeinen
Wehrpflicht Ende des Jahres 2001 hat das Land an ihrer Stelle eine
obligatorische Erfassung ("recensement") eingeführt, die auch
Frauen mit einschließt. Bis zum 18. Lebensjahr müssen
alle Franzosen an einem eintägigen Seminar teilnehmen, auf dem
sie unter anderem Informationen über Grundlagen und Struktur
der Verteidigung bekommen. Die Regierung schätzt, dass sich so
im Jahr rund 27.000 Freiwillige für militärische Aufgaben
rekrutieren lassen.
Außerdem hat Frankreich den "Freiwilligen Dienst für
sozialen Zusammenhalt und Solidarität" eingeführt, der
bei einer 35-Stunden-Woche sechs bis 24 Monate dauert und für
18- bis 28-Jährige gedacht ist - und auch für
Interessierte aus anderen EU-Staaten offen steht. Zuständig
ist das Sozialministerium, das Entgelt von 570 Euro pro Monat sowie
die Sozialversicherung müssen jedoch die jeweiligen
anerkannten nichtstaatlichen Organisationen oder kommunalen
Behörden übernehmen. Als Probleme dieses Programms sehen
Kritiker die Höhe der Aufwandsentschädigung sowie den
Aufwand an Verwaltung gerade für kleinere Organisationen. Auch
können Angehörige von Drittstaaten mit Aufenthaltsrecht
in Frankreich nicht an diesem Programm teilnehmen.
Im Jahr 2002 verabschiedete sich auch Spanien von der
Wehrpflicht. Doch anders als in Frankreich steht die Armee dort vor
erheblich größeren Schwierigkeiten, Personal zu gewinnen.
So dienen dort mittlerweile zahlreiche Rekruten aus
lateinamerikanischen Ländern, weil sich nicht genügend
Spanier bei ihrer Truppe verpflichten wollen. Auch war das
Verweigern des Kriegsdienstes in diesem Staat ebenfalls politisch
lange sehr schwierig und zivile Alternativen waren längst
nicht so akzeptiert und etabliert wie in Deutschland. Das wirkt
sich auch auf soziales Engagement in institutionellem Rahmen aus.
Laut einer Studie von 1997 üben nur etwa fünf Prozent der
spanischen Jugendlichen ein Ehrenamt aus. Zudem fehlen noch
wichtige gesetzliche Grundlagen über freiwillige Dienste: So
haben deren Teilnehmer keinen anerkannten Rechtsstatus
gegenüber dem offiziellen Sozialsystem. Ebenfalls unzureichend
geregelt ist die staatliche finanzielle Unterstützung, denn
die Träger haben keinen Anspruch auf Vergütung seitens
der spanischen Republik. Die Möglichkeit gemeinnütziger
Tätigkeiten im Kontext eines europäischen Programms ist
ebenfalls noch nicht gesetzlich verankert.
Bereits Anfang der 90er-Jahre beschlossen Belgien und die
Niederlande, keine Wehrpflichtigen und Zivildienstleistenden mehr
einzuziehen. Doch auch in diesen beiden Ländern sind nationale
wie europäische Freiwilligen-Projekte noch nicht ausgereift:
Zahlreiche Pilotprojekte sollen hier unterschiedliche Modelle
für die Zukunft ausloten.
Doch der allgemeine europäische Trend ist auch in diesen
Ländern deutlich abzulesen: Die professionellen Sozialsysteme
sollen statt durch Personal aus staatlichen Pflichtdiensten mehr
und mehr durch Freiwillige gestützt werden - trotz aller
Probleme, die das mit sich bringen kann.
Tobias von Heymann arbeitet als freier Journalist in Berlin.
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