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Alexander Weinlein
Eine Frage der Gerechtigkeit
Zur Diskussion über die Wehrpflicht in
Deutschland
Vor Gericht wird Recht gesprochen, aber nicht
zwangsläufig Gerechtigkeit geübt. Diese verbreitete
pessimistische Auffassung bestätigte am 19. Januar das
Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit seiner Entscheidung, dass
die derzeitige Einberufungspraxis der Bundeswehr nicht gegen das
Grundgesetz verstoße. Gleichzeitig kritisierte der
zuständige 6. Senat des Verwaltungsgericht aber, dass sich
eine Lücke auftun könne zwischen den
Wehrdienstfähigen und den tatsächlich Einberufenen - und
dies könne zu einer Verletzung des Prinzips der
Wehrgerechtigkeit führen.
Auslöser des Leipziger Richterspruchs
war die Klage der Bundesregierung gegen eine Entscheidung des
Verwaltungsgerichtes Köln vom April 2004, das der Klage eines
22-jährigen Mannes aus Kerpen gegen seinen Einberufsbescheid
stattgegeben hatte, weil dieser gegen das Gleichheitsprinzip
verstoße.
Tatsächlich klafft die Schere zwischen
den erfassten Wehrpflichtigen und denjenigen, die ihren
neunmonatigen Wehrdienst auch wirklich antreten müssen, in den
letzten Jahren zunehmend auseinander. Die seit eineinhab Jahren
geltenden Richtlinien des Bundesverteidigungsministeriums sehen
eine Reihe von Ausnahmen vor: So wurde die Altergrenze für
eine Einberufung von 25 auf 23 Jahre gesenkt, und Verheiratete
können sich prinzipiell vom Wehrdienst befreien lassen. Aus
dem kleiner werdenden Kreis derjenigen, die der Ruf zur Fahne
ereilt, scheiden zudem all jene aus, denen bei der Musterung nur
der Tauglichkeitsgrad 3 (T3) bescheinigt wurde - zumindest dann,
wenn die Bundeswehr ihren Bedarf aus den T1- und T2-Gemusterten
decken kann. Zugespitzt ließe sich das so formulieren: Dienst
am Vaterland muss nur leisten, wer jung, körperlich fit und
ledig ist. Wo bleibt da die Wehrgerechtigkeit? Zumindest sollte es
nicht verwundern, dass eine solche Praxis Unmut bei den
wehrpflichtigen Männern in der Republik
auslöst.
Vorwiegend Berufs- und
Zeitsoldaten
Und der Bedarf an Wehrpflichtigen schrumpft
weiter: Derzeit leisten rund 78.000 junge Männer
(Grundwehrdienstleistende und freiwillig länger Dienende)
ihren Militärdienst beim Bund. Doch bis 2010 sollen es nach
dem Willen von Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) nur
noch 55.000 sein. Den werden 195.000 Berufs- und Zeitsoldaten
gegenüber stehen - bei einem solchen Zahlenverhältnis
lässt sich die Bundeswehr nicht mehr als Wehrpflicht-Armee
bezeichnen.
Derzeit unterliegen durchschnittlich 415.000
Deutsche der Wehrpflicht; davon werden jedoch lediglich rund
295.000 auch als wehrdienstfähig eingestuft (71 Prozent), von
denen aber rund 145.000 den Dienst an der Waffe verweigern.
Für die Bundeswehr stehen nach Abzug jener jungen Männer,
die eine berufliche Karriere bei der Polizei oder beim
Bundesgrenzschutz (rund 12.500) einschlagen, oder wegen anderer
Ausnahmen (16.600) gerade noch 120.000 potenzielle Wehrpflichtige
zur Verfügung.
Das Urteil der Leipziger Verwaltungsrichter
löste in der politischen Landschaft ein unterschiedliches Echo
aus - je nach Standpunkt in der Frage, ob Deutschland
überhaupt noch eine Wehrpflicht benötigt oder nicht.
Reinhold Robbe (SPD), Vorsitzender des Verteidigungsausschusses,
begrüßte die Entscheidung. Die Richter hätten
bestätigt, dass die verständlichen Befindlichkeiten eines
22-Jährigen nicht auf einer Stufe mit dem nationalen
Sicherheitsinteresse des Staates zu stellen seien. Ganz andere
Töne kamen hingegen aus dem Lager des Koalitionspartners: Der
Parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis 90/Die
Grünen im Bundestag, Volker Beck, führte an, das Urteil
enthalte "manchen Wink mit dem Zaunpfahl". Er gehe davon aus, dass
die Wehrpflicht in der kommenden Legislaturperiode zu Grabe
getragen werde.
Fast gleichlautend fiel die Bewertung bei den
Liberalen aus. FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhard hält das
Urteil nicht für eine generelle Bestätigung der
Wehrpflicht, und die Bundesrichter hätten das Problem der
gefährdeten Wehrgerechtigkeit deutlich benannt. In der
nächsten, spätestens in der übernächsten
Legislaturperiode sei mit dem Ende der Wehrpflicht zu
rechnen.
Die Union sah sich in ihrer Position gleich
zweifach bestätigt. Zum einen möchte sie an der
Wehrpflicht prinzipiell festhalten, kritisiert aber ebenfalls, dass
es mit der Wehrgerechtigkeit nicht zum Besten steht.
Verteidigungsminister Peter Struck sei "noch einmal mit einem
blauen Auge davongekommen", meinte der Verteidigungsexperte der
CDU/CSU-Fraktion, Christan Schmidt. Nicht mit Interviews, sondern
nur mit Konzepten könne Struck die Wehrgerechtigkeit wieder
herstellen.
Kritik kam auch von Seiten des
Bundeswehrverbandes. Dessen Vorsitzender Bernhard Gertz forderte
die Politik, "namentlich die SPD" auf, "sich nun zu einer
politischen Entscheidung" zur Wehrpflichtfrage
durchzuringen.
In der Tat sind es die Sozialdemokraten, die
sich sehr schwer tun mit einer klaren Positionierung. Während
Verteidigungsminister Struck an der Wehrpflicht festhalten
möchte, regt sich gerade bei vielen jungen
SPD-Bundestagsabgeordneten und den Jusos lautstarker Widerstand. Im
November dieses Jahres soll, so steht es zumindest auf dem
parteiinternen Fahrplan, eine Entscheidung getroffen
werden.
Wehrgerechtigkeit: Genau genommen trifft das
Wort den Sachverhalt nicht richtig. Denn es geht nicht nur darum,
den wehrpflichtigen Soldaten Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen,
sondern auch jenen, die ihrer staatsbürgerlichen Pflicht als
Zivildienstleistende nachkommen. Wer ausgemustert wird, verheiratet
oder schlicht zu alt für den Wehrdienst ist, kommt
gänzlich "ungeschoren" davon, muss weder das Fleck-tarn-Anzug
überstreifen, noch den weißen Kittel eines Pflegers im
Krankenhaus.
Doch das eigentlich Problem mit der
Wehrpflicht liegt in der veränderten Aufgabenstellung der
Bundeswehr. Der Dienst an der Waffe wurde letztlich immer mit dem
Notfall, dem Verteidigungsfall legitimiert. Nun mag nach der
veränderten sicherheitspolitischen Lage, "die Freiheit
Deutschlands am Hindukusch verteidigt werden", um es mit den Worten
von Verteidigungsminister Peter Struck zu sagen, aber genau dort
kommen Wehrpflichtige nicht zum Einsatz.
Umbau der Streitkräfte
Die Bundeswehr soll in den kommenden Jahren -
so sieht es auch die Personal- und Materialplanung der
Hardthöhe vor - zu einer professionellen Eingreiftruppe
umgebaut werden. Struck hat schlicht und ergreifend zu wenig Platz
für all jene, die prinzipiell Wehrdienst leisten könnten.
Mehr Wehrpflichtige ließen sich nur dann ziehen, wenn die
Dienstzeit noch einmal verkürzt würde - doch dies
wäre kaum sinnvoll. Bei einer derzeitigen Dienstzeit von neun
Monaten, verbleibt nach Abzug von Grundausbildung, Urlaub und
Krankheitstagen schon jetzt sehr wenig Zeit, die Soldaten für
höher qualifizierte Aufgaben in der Truppe vorzubereiten.
Für den Zivildienst gilt dieses Problem ebenso.
Die sich auftuende Gerechtigkeitslücke
in Sachen Wehrdienst und Zivildienst ließe sich letztlich nur
durch die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht beheben.
Doch eine solche Dienstpflicht ist zum einen im Grundgesetz nicht
vorgesehen und fände auch nicht die benötigten
Mehrheiten. Sie würde auch nur eine weitere
Gerechtigkeitsfrage aufwerfen: Müssen Frauen diesen Dienst
auch leisten? Nachdem Deutschland wegen eines entsprechenden
Urteils des Europäische Gerichtshofes die Kasernentore in
Deutschland auch für Frauen hatte öffnen müssen,
wurden Stimmen laut, die bereits hierin eine Ungleichbehandlung
erkannten: Frauen dürfen, Männer müssen.
Alexander Weinlein ist Redakteur bei "Das
Parlament".
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