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Hans-Jürgen Wirth
Engagement im Zeitalter des Ego
Soziales Handeln von den 70er-Jahren bis
heute
In den 70er-Jahren gehörte soziales und
politisches Engagement zu den Leitwerten der Jugend. Im Rahmen
einer breiten Bewegung der Initiativ-, Spontan- und
Selbsthilfegruppen entstanden neue Formen der sozialen
Wohltätigkeit ("Lernziel Solidarität"), die sich von der
christlichen Nächstenliebe bewusst abgrenzten. Man benutzte
nicht länger das Wort "Ehrenamt", sondern den Begriff
"Engagement", in dem einerseits das Verpflichtetsein mitschwingt,
andererseits aber die "künstlerische Freiheit"
ausgedrückt ist, denn "engagieren" heißt
ursprünglich "verpflichten, unter Vertrag nehmen, besonders
von Künstlern".
Die Bedeutung der freiwilligen Helfer wurde
nicht primär darin gesehen, Dienstleistungen anzubieten,
für die die Profis keine Kapazitäten frei hatten, sondern
man erhoffte sich, dass vom institutionell ungebundenen Denken der
Ehrenamtlichen und von ihrer "unverbildeten", von keiner
"déformation professionelle" eingeengten Sichtweise Anregungen
zur Veränderung der Institutionen ausgehen
würden.
Während das Interesse am ehrenamtlichen
Engagement in den 70er-Jahren mehr "von unten" aus gewachsen ist,
kann man heute den Eindruck gewinnen, Politiker aller Parteien und
Fachleute beugten sich in kaum verhohlener Begehrlichkeit über
den Freiwilligensektor, um diese "Reservearmee billiger Helfer" -
wie der Sozialwissenschaftler Helmut Klages formulierte - für
den Wohlfahrtsstaat dienstbar zu machen.
Die Antwort auf die Frage, was übrig
geblieben ist von der Hoffnung der 70er-Jahre "auf einen neuen Weg,
sich selbst und andere zu befreien" - so der Untertitel von
Horst-Eberhard Richters Kultbuch "Die Gruppe" -, fällt
zwiespältig aus: Einerseits sind wir wohl alle etwas
skeptischer und zurückhaltender geworden, wenn es um die
Beurteilung der Chancen geht, die Welt und uns selbst zu
"befreien". Andererseits sind von den neuen Arbeitsansätzen
der Initiativ-, Spontan- und Selbsthilfegruppen weit reichende
Innovationen im Bereich psychosozialer Beratung und Therapie
ausgegangen.
Es waren damals fast ausschließlich
kritische Studenten, die sich den benachteiligten Gruppen der
Gesellschaft, den Heimzöglingen, Obdachlosen,
Psychiatrie-Patienten und anderen zuwandten, das Gewissen der
Gesellschaft weckten und die Öffentlichkeit zwangen, sich mit
diesen verdrängten Problembereichen auseinander zu setzen.
Manches, was sich damals noch revolutionär ausnahm, ist heute
zur Selbstverständlichkeit geworden: Gruppenarbeit,
Supervision, Selbsthilfegruppen, therapeutische Gemeinschaften,
Infragestellung von Hierarchie, sozialpsychologisch und
psychoanalytisch angeleitete Selbstreflexion als Mittel, um mit
Gruppenkonflikten besser umgehen zu können, und vieles andere
mehr.
Kennzeichnend für die Grundstimmung in
der Bundesrepublik der 80er-Jahre - insbesondere in der jungen
Generation - war die ausgeprägte Zukunftsangst. Folgt man der
Shell-Studie "Jugend 81", so erlebten die Jugendlichen ihre
Zukunftsaussichten als unheimlich, bedrückend und düster.
Die Anti-Atomkraft- und die Friedensbewegung standen hoch im Kurs.
Die Bereitschaft zum gesellschaftlichen Engagement fand im Jahr
1984 ihren historischen Höhepunkt. Dies alles änderte
sich im Laufe der zweiten Hälfte der 80er-Jahre nach und nach
gründlich: Zunehmend sympathisierte man eher passiv mit den
sozialen Bewegungen, als sich aktiv an ihnen zu beteiligen.
Während es bis 1984 noch geheißen hatte: "Wer sich nicht
wehrt, lebt verkehrt!", konnte als Motto der späten 80er- und
der 90er-Jahre gelten: "Soziale Bewegungen ja - aber ohne
mich!"
"Gesellschaft der Ichlinge"?
Diese Veränderungen gehen mit einem
sozialpsychologischen Trend zu mehr narzisstischer
Ellbogenmentalität und geringerer sozialer Rücksichtnahme
einher, den auch einige Langzeit-Studien des Zentrums für
Psychosomatische Medizin der Universität Gießen
diagnostizierten. "Das psychologische Durchschnittsprofil der
Westdeutschen", so hieß es bei dem Gießener
Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, tendiere mehr und mehr "in
Richtung Ellbogen und Ego-Kult". Die Gesellschaft war sich einig im
"Tanz ums goldene Ego". Und der Münchner Sozialpsychologe
Heiner Keupp stellte die Frage, ob wir uns zu einer "Gesellschaft
der Ichlinge" entwickeln.
Dass die skizzierten Veränderungen des
psychosozialen Klimas zu einer "Verflüchtigung des sozialen
und politischen Erbes der späten 60er-Jahre" führte,
hängt nach Claus Offe und Susanne Fuchs mit folgenden
gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozessen zusammen:
- der Auflösung des
Ost-West-Gegensatzes, der noch in den Jahren 1981-83 über die
Frage der Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in
Westeuropa zu einer enormen Massenmobilisierung und zur Entstehung
der Friedensbewegung geführt hatte;
- dem faktischen bereits seit Mitte der
80er-Jahre wirksamen Stopp des Ausbaus der Kernenergie-Gewinnung,
der schließlich zum zwar sehr langfristigen, aber gesetzlich
verankerten Ausstieg aus der Atomenergie führte und im
"Atomenergiegesetz" der rot-grünen Regierung im Jahre 2001
seine Vollendung fand;
- der Übernahme insbesondere
feministischer und ökologischer Themen in die Rhetorik und
Programmatik der großen Parteien;
- der Übernahme von Lebensstil-Elementen
der Protest-, Gegen- und Subkultur in die Muster eines
entpolitisierten und entpolitisierenden Konsumismus;
- der Verbreitung von neo-liberalen und
postmodernistischen Ideologien;
- dem dramatischen Anstieg der
Arbeitslosigkeit und der damit einhergehenden existenziellen
Verunsicherung und der Zunahme individueller Ängste um die
eigene persönliche Zukunft.
Insgesamt ist während der 90er-Jahre ein
Niedergang der "neuen sozialen Bewegungen" und des mit ihnen
verbundenen bürgerschaftlichen Engagements zu verzeichnen.
Gleichzeitig existiert jedoch ein langfristiger
gegensätzlicher Trend zu größerem ehrenamtlichem
Engagement. Wie Helmut Klages betont, hat sich - entgegen weit
verbreiteten Meinungen - die Bereitschaft zu freiwilligem
ehrenamtlichem Engagement in den letzten Jahrzehnten nicht
verringert, sondern vielmehr verstärkt. Wie ein
internationaler Vergleich über die Entwicklung des
ehrenamtlichen Engagements (des "sozialen Kapitals") gezeigt hat,
ist bei den höher gebildeten und privilegierten Schichten eher
eine Zunahme des Engagements zu verzeichnen. Gleichsam im Gegenzug
zu den Prozessen der Globalisierung von Wirtschaft und
Kommunikation und den Prozessen einer zunehmenden
Individualisierung machen sich die Menschen auf die Suche nach
neuen Werten und Maßstäben, nach neuen Formen,
Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Eigennutz mit
gemeinnützigen wie sinnstiftenden Formen des
gesellschaftlichen und sozialen Engagements zu
verbinden.
Im Laufe der 90er-Jahre drängte sich die
Sorge um die berufliche Existenz mehr und mehr in den Vordergrund.
Die drohende Arbeitslosigkeit wird für die junge Generation
zum beherrschenden Thema. Die Jugendlichen versuchen, sich
relevante Eigenschaften für das Berufsleben anzueignen und
sich gegen die Arbeitslosigkeit zu wappnen. Unter Jugendlichen
herrscht eine ausgeprägte Zukunftsangst, die sich vor allem
auf die Arbeitslosigkeit bezieht. Über die Hälfte der
Jugendlichen aus den neuen Bundesländern hat Arbeitslosigkeit
schon selbst erfahren. Arbeitslose weisen eine besonders geringe
Beteiligung an ehrenamtlichem Engagement auf. Bei den
Bevölkerungsgruppen, die arm sind oder verarmen, bricht das
freiwillige Engagement fast völlig ein.
Als wichtigster Faktor, der dem
ehrenamtlichen Engagement abträglich sei, wird immer der
gesellschaftliche Zwang zur "Individualisierung", auf den der
Soziologe Ulrich Beck so nachdrücklich verwiesen hat, das
Streben des modernen Menschen nach narzisstischer
Selbstverwirklichung genannt. Der Narzissmus erscheint mit dem
Egoismus assoziiert und demnach als eine antisoziale Eigenschaft.
Narzisstisch gestörte Persönlichkeiten gelten als
psychotherapeutisch schwer behandelbar, und die von manchen Autoren
postulierte Zunahme narzisstischer Störungen in der modernen
Gesellschaft wird als Zeichen eines tief greifenden sozialen
Verfalls gedeutet. Der amerikanische Sozialpsychologe Christopher
Lasch (1979) spricht vom "Zeitalter des Narzissmus".
Wie ist der theoretische Widerspruch zwischen
der offensichtlich zunehmenden Individualisierung und einem
Anwachsen des ehrenamtlichen sozialen Engagements zu erklären?
Claus Offe und Susanne Fuchs bringen dazu ein einleuchtendes
Argument: Man kann sich auch als individualisierter Mensch aus
freien Stücken dazu entscheiden, sich sozial zu engagieren.
Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung - auch ein Leitbild der
70er-Jahre - und Bedürfnisse nach gesellschaftlicher
Verantwortlichkeit können gleichzeitig in einer Person
nebeneinander existieren.
Diese Vereinbarkeit wurde allerdings nur
möglich, weil sich der Charakter des ehrenamtlichen
Engagements ebenfalls gewandelt hat: Während
traditionellerweise ehrenamtliche Tätigkeit vor allem auf
einem konventionellen Pflichtbewusstsein beruhte, entsteht soziales
Engagement heute eher bei konkreten Anlässen, die eine
unmittelbare Dringlichkeit erzeugen. Der Prozess der
Individualisierung zerstört nicht grundsätzlich die
Solidarbeziehungen, sondern er lässt "einen neuen Typus von
Solidarität" (Keupp) entstehen. Dieser ist weniger von einem
"moralisch aufgeladenen Helferpathos" geprägt, sondern
schließt zugleich die Sorge um das eigene Wohl mit
ein.
Menschen, die sich sozial engagieren,
besitzen die Fähigkeit, sich um andere Sorgen zu machen. Der
Baseler Psychoanalytiker Joachim Küchenhoff formuliert das so:
"Wie ich mit mir selbst umgehe, hängt ganz wesentlich davon
ab, welche Erfahrungen ich selbst mit zentralen Bezugspersonen
gemacht habe. Wer erfahren hat, dass für ihn gesorgt wurde,
kann sowohl für sich selbst als auch für andere sorgen.
Die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen, bildet also
keinen Gegensatz zur Sorge um andere. Ganz im Gegenteil: Das
christliche Motto ?Liebe deinen Nächsten wie dich selbst',
lässt sich auch umkehren: ,Liebe dich selbst wie deinen
Nächsten'."
Soziales und politisches Engagement hat neben
der direkten gesellschaftlichen Wirkung auch eine nicht
unerhebliche psychologische Funktion für den Handelnden
selbst: Es wirkt als eigentherapeutische Maßnahme, die nicht
nur die psychische Gesundheit, sondern zugleich auch die
gesellschaftspolitische Sensibilität der Beteiligten
fördert und erhält. Und auf gesellschaftlicher Ebene
haben solche Initiativen nicht nur für die "Empfänger"
eine Bedeutung, sondern sie wirken auch auf diejenigen, von denen
die Hilfe ausgeht. Zugleich sind sie ein Signal an die ganze
Bevölkerung, dass Solidarität, soziale Anteilnahme und
politisches Engagement Werte sind, für die es sich einzusetzen
lohnt.
Wenn man heute Jugendliche für soziales
und politisches Engagement begeistern will, muss es
glaubwürdig sein. Naturschutzverbände,
Menschenrechtsgruppen und Bürgerinitiativen genießen bei
Jugendlichen deshalb ein relativ hohes Vertrauen, weil sie diese
Glaubwürdigkeit ausstrahlen. Generell haben große
Organisationen auf Jugendliche eine Wirkung, die Angst vor
Vereinnahmung auslöst. Sie akzeptieren nur Institutionen, die
ihnen die Möglichkeit einräumen, sich selbst treu bleiben
zu können. Wie Rita Süssmuth schreibt, wird soziales
Engagement für Jugendliche dann attraktiv, wenn es sich durch
"Spontaneität, Autonomie, nicht-institutionalisierte
Strukturen von Selbstorganisation, Kleingruppen, Beziehungsnetze
und Initiativformen" auszeichnet.
Der Pflichtcharakter des freiwilligen
Engagements sollte deshalb gegenüber den kommunikativen und
emotionalen Elementen in den Hintergrund treten. "Viele
Organisationen sind den Jugendlichen zu ernst" (Keupp). Diese
Kritik gilt durchaus auch für grün-alternative Gruppen.
"Ohne Spaß kein Engagement", heißt es knapp und
bündig in der Shell-Studie "Jugend 97". Noch entscheidender
aber ist für Jugendliche die Frage, ob sie die
humanitären Werte, an die sie glauben, in den
gesellschaftlichen Organisationen verwirklichen können oder ob
auch hier das allgemein dominierende Gefühl der politischen
Machtlosigkeit vorherrscht. Nur wenn die Jugendlichen das
Gefühl haben, dass sie mit und durch ihr selbstbestimmtes
Engagement wirklich etwas verändern können, sie also eine
gesellschaftliche Selbstermächtigung erfahren, wird sich das
Maß an freiwilligem Engagement entwickeln, auf das eine zivile
Bürgergesellschaft angewiesen ist.
Neben der Lebensphase der Adoleszenz
könnte auch das Alter für ehrenamtliches Engagement
besonders günstige Voraussetzungen bieten. Wir werden nicht
nur immer älter, sondern bleiben auch länger gesund und
geistig rege. Gleichwohl werden die meisten Menschen bereits am
Beginn ihres sechsten Lebensjahrzehnts aus dem Arbeitsleben
ausgegliedert. Hier bietet sich ein enormes Potenzial für
ehrenamtliches Engagement, zumal in den nächsten Jahren die
68er-Generation in den Ruhestand treten wird. Vielleicht gelingt es
ihr, an die alten Zeiten anzuknüpfen und einen
Alters-Unruhestand zu entwickeln, in dem ehrenamtliches Engagement
eine zentrale Rolle spielt.
Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth ist
Psychoanalytiker und Verleger des Psychosozial-Verlages. Er lehrt
Psychologie an der Universität Bremen. Zusammen mit Elmar
Brähler hat er einen Band zum ehrenamtlichen Engagement
("Soziales Handeln in der Industriegesellschaft")
herausgegeben.
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