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Claudia Heine
Wer pflegt 2,9 Millionen Menschen im Jahr
2020?
Sinkende Geburtenraten, steigende
Lebenserwartung: Deutschlands Bevölkerung schrumpft und
altert
Und übrig bleiben nur die Alten? Was seit
einigen Jahren als Horrorvision des demografischen Wandels durch
Deutschland geistert, ist im Osten des Landes teilweise schon
Realität. Seit der Wende 1989 schrumpfte in einigen Kreisen
die Bevölkerung um zehn Prozent; vor allem junge Menschen
verließen auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat. Bis zum Jahr
2050 würde sich die Bevölkerung nochmals halbieren, wenn
diese Westwanderung anhält. Hinzu kommt ein radikaler
Geburteneinbruch von ungefähr 50 Prozent nach 1990. Eine
solche Entwicklung ist zwar für den Westen nicht zu erwarten,
und dennoch dient das Beispiel als Warnung für das ganze
Land.
Wer übernimmt die Pflege und Betreuung
einer großen Mehrheit alter Menschen, der nur eine Minderheit
junger gegenübersteht? Das wird spätestens im Jahr 2030
der Fall sein. Wer finanziert die Renten der heute
30-Jährigen? Noch sind die Sozialsysteme nicht sehr gut auf
eine alte Gesellschaft vorbereitet. Das sollten sie aber
sein.
Denn der Alterungsprozess, in dem sich die
Bundesrepublik seit über 30 Jahren befindet, lässt sich
mit demografischen Mitteln erst einmal nicht aufhalten. Er hat
mittlerweile eine solche Eigendynamik entwickelt, dass selbst ein
plötzlicher Babyboom die zu erwartende alte Gesellschaft in 30
bis 50 Jahren nicht verhindern könnte. Würden mehr Kinder
geboren oder mehr Zuwanderung stattfinden, könnte die
Entwick-lung zwar verlangsamt aber nicht zum Stillstand gebracht
oder sogar umgedreht werden. Auch bietet die Zuwanderung kein
Allheilmittel. Zwar wäre der Erhalt der
Bevölkerungszahlen noch relativ leicht zu erreichen;
dafür müssten jährlich etwa 320.000 Menschen mehr
nach Deutschland kommen als es verlassen. Für ein gesundes
Verhältnis zwischen Erwerbsfähigen und Rentnern wäre
allerdings ein Wanderungsgewinn von jährlich 3,4 Millionen
Menschen nötig. Bis 2050 wären dies insgesamt 188
Millionen; die Bevölkerung würde dann auf 300 Millionen
ansteigen. Solche Zahlenbeispiele demonstrieren, wie unrealistisch
eine solche Perspektive ist.
Das Bundesinstitut für
Bevölkerungsforschung weist deshalb in seiner
Bevölkerungsstudie 2004 darauf hin, "dass gesellschaftliche
Antworten auf die Konsequenzen dieses Alterungsprozesses in erster
Linie dort zu suchen sind, wo sie entstehen, nämlich in den
sozialen Sicherungssystemen".
Die "alte Gesellschaft" beschäftigt uns
zwar erst seit einigen Jahren, als die Schwäche des
Rentensystems offenbar wurde. Angelegt wurde diese Entwicklung aber
bereits mit dem so genannten Ersten demografischen Übergang in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und, paradoxerweise,
mit einer Verjüngung der Bevölkerung. Eine geringere
Säuglings- und Kindersterblichkeit führte zunächst
zu einer Erhöhung des Kinderanteils an der Bevölkerung.
Gleichzeitig leitete aber die damit einher gehende Chance, ein
höheres Lebensalter zu erreichen, das Altern der
Bevölkerung ein. Der Rückgang der Geburten an der Wende
zum 20. Jahrhundert tat sein übriges. Wurden von den Frauen
des Jahrgangs 1865 im Durchschnitt 4,6 Kinder geboren, so brachten
die um 1880 geborenen Frauen nur noch 3,3 Kinder zur Welt. Erstmals
hatte sich mit diesem Jahrgang eine Elterngeneration nicht mehr
vollständig ersetzt, das schaffte auch danach kein
Geburtsjahrgang mehr. In dieser Zeit kamen aber auf 100 Personen
zwischen 20 und 64 Jahren immerhin noch fast 90 Kinder und
Jugendliche. 200 Jahre später, im Jahr 2050, werden es nur
noch 30 sein. Von paradiesischen Zuständen, als noch 13
Erwerbstätige für eine ältere Person zuständig
waren, kann dann ebenfalls keine Rede mehr sein. In 45 Jahren wird
sich die Relation so verschoben haben, dass nur noch 1,8
Erwerbstätige für einen Rentner da sein
werden.
Mit dem zweiten Geburtenrückgang (der im
Unterschied zu den Einbrüchen während der Weltkriege und
Weltwirtschaftskrise nicht durch nachfolgende Geburtenhochs
ausgeglichen wurde) zwischen 1965 und 1975 sanken die
Geburtenzahlen auf das heute niedrige Niveau. Von dieser
Entwicklung war nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa
betroffen. Erstmals ließ sich dieser Rückgang nicht mit
historischen Krisen begründen, sondern mit einem Wandel
gesellschaftlicher Werte, die die Selbstverwirklichung des
Einzelnen und eine neue Frauenrolle betonten.
Heute bekommen Frauen in Deutschland
durchschnittlich 1,37 Kinder, eine Zahl die bei weitem nicht
ausreicht, um die Bevölkerungszahlen stabil zu halten.
Dafür wären 2,1 Kinder nötig. Die Bevölkerung
Deutschlands wird deshalb nicht nur älter, sie schrumpft
gleichzeitig. Experten sprechen davon, dass sich die Zahl von
gegenwärtig über 80 Millionen auf in Zukunft 67 Millionen
verringern könnte. Interessant in diesem Zusammenhang ist der
deutliche Anstieg der Kinderlosigkeit, obwohl sich die große
Mehrheit der Kinderlosen durchaus Kinder wünscht. Von den
Frauen des Geburtsjahrgangs 1935 blieben nur 6,7 Prozent kinderlos,
wohingegen deren Anteil im Jahrgang 1967 schon auf 28,6 Prozent
anstieg. Als Ursachen dafür gelten zum einen das Problem
vieler Frauen, sich zwischen Kindern und Karriere entscheiden zu
müssen; Akademikerinnen bleiben heute schon zu 40 Prozent
kinderlos. Zum anderen zählen vor allem Paare dazu, die
über ein relativ niedriges (nicht sehr niedriges) Einkommen
verfügen und ihren Lebensstandard nicht durch Kinder
einschränken möchten.
Bei jüngeren Frauen zeigt sich dabei
eine deutliche Polarisierung zwischen den kinderlosen und jenen,
die zwei oder mehr Kinder bekommen. Der Anteil von Frauen mit einem
Kind sinkt dagegen.
Neben der geringen Geburtenrate bedingt
jedoch noch ein anderen Phänomen den Alterungsprozess unserer
Gesellschaft: die steigende Lebenserwartung der Menschen. Kam ein
um 1870 geborener Junge noch mit einer Lebenswartung von 35,5
Jahren zur Welt, stieg diese für einen 1987 geborenen Jungen
auf 72,2 Jahre; ein Zuwachs von fast 40 Jahren in einem
Jahrhundert. Heute neugeborene Mädchen können mit einer
Lebenserwartung von 80,8 Jahren rechnen, Jungen können
erwarten, im Durchschnitt 74,8 Jahre zu leben. Bis zum Jahr 2050
wird sich nach Prognosen die Lebenserwartung bei Frauen auf 86,6
und bei Männern auf 81,1 erhöhen. Der Anteil der
über 65-Jährigen in der Gesellschaft wird sich dann von
16,7 Prozent im Jahr 2000 auf 30 Prozent erhöht haben;
ebenfalls steigt die Zahl der Hochbetagten (80 Jahre und
älter) von heute vier Prozent (3,2 Millionen) auf zwölf
Prozent (9,1 Millionen).
Konsequenzen für das
Pflegesystem
Es braucht nicht viel Phantasie, um sich
vorzustellen, was das für die Pflegesysteme der Bundesrepublik
bedeutet. Berechnungen des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) zufolge dürfte die Zahl
der Pflegebedürftigen Menschen bis 2020 auf 2,9 Millionen
steigen. Bezogen auf die Zahlen von 1999, bedeutet dies eine
Steigerung von ungefähr 50 Prozent. Bis 2050 rechnen die
Experten dann noch einmal mit einem Anstieg von 1,8
Millionen.
Zwar leben derzeit nur sieben Prozent der
älteren Menschen in so genannten "Sonderwohnformen" (fünf
Prozent in Heimen und fast zwei Prozent in speziellen
Altenwohnungen). Es wird aber davon ausgegangen, dass bis 2020 die
Zahl der Heimbewohner um 57 und die der ambulanten Pflegefälle
um 50 Prozent ansteigt. Allein im stationären Bereich wird die
Zahl der Heimbewohner bis 2020 auf 330.000 und bis 2050 noch einmal
um weitere 570.000 zunehmen. Doch sollten diese Zahlen nicht nur
unter dem Risikofaktor gesehen werden, denn sie eröffnen neue
Beschäftigungschancen für Pflegeberufe in erheblichem
Ausmaß. Bis zu einer halben Million Arbeitsplätze
könnten bis 2050 in diesem Bereich entstehen.
Claudia Heine arbeitet als freie Journalistin
in Berlin.
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