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Eckhard Hansen und Flemming Hansen
Unfreiwillige Teilnehmer einer
Postleitzahlenlotterie
Zum Problem der Qualitätssicherung bei
sozialen Dienstleistungen
Soziale Dienstleistungen sind eines sicherlich nicht: ein klar
erkennbares Identifikationsmerkmal des Sozialstaates. Dieser wird
in der öffentlichen Wahrnehmung vorrangig mit der
Gesundheitsversorgung, der Alterssicherung oder mit
Transferleistungen zur Verhinderung von Armut in Verbindung
gebracht, während die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und
Familien, mit erkrankten, behinderten, benachteiligten oder alten
Menschen nicht als eigenständige Säule unseres
Sozialstaates begriffen wird.
Der Aufgabenbereich wirkt diffus, der Adressatenkreis ist
vielgestaltig, die mit diesem befassten Dienste, Professionen und
Zuständigkeiten sind unübersichtlich und die Eigenarten
der im Sektor erbrachten Dienstleistungen sind in der Regel ebenso
wenig bekannt wie die Qualifikationsmerkmale derjenigen, die mit
dem genannten Personenkreis arbeiten.
Je fraktionierter und unbestimmbarer ein öffentlich
finanzierter Dienstleistungszweig ist, desto günstiger sind
die Voraussetzungen, in Zeiten knapper Kassen Kürzungen
vorzunehmen. Dies fällt umso leichter, da sich kein historisch
gewachsenes, klar umrissenes Qualitätsbewusstsein im
Leistungssektor entwickelt hat. Zwar wird im Rahmen der so
genannten Ökonomisierung der sozialen Arbeit seit
spätestens Mitte der 90er-Jahre ein breiter Diskurs über
die Qualität personenbezogener sozialer Dienstleistungen
geführt, aber dieser ist bis heute wesentlich auf den
betrieblich-organisatorischen Rahmen der Leistungserbringung
bezogen. Ob die Nutzer sozialer Dienstleistungen davon profitieren,
ist eine zweite, auf eigentümliche Weise vom deutschen
Qualitätsdiskurs von Anbeginn abgekoppelte, allenfalls in
jüngerer Zeit ernsthafter aufgeworfene Frage.
Vergleich mit dem Bildungssektor
Die Problematik erschließt sich durch einen Vergleich mit
dem Bildungssektor und der aufgeregten Diskussion über die
Ergebnisse der PISA-Studien. Auf welchem Ranglistenplatz würde
Deutschland bei einem internationalen Vergleich der
personenbezogenen sozialen Dienstleistungen landen, wenn anhand
präziser Indikatoren zu prüfen wäre, in welchem
Umfang die Würde der Leistungsnutzer gewahrt wird, inwieweit
sie über ausreichende Informationen verfügen und darauf
aufbauend Wahlmöglichkeiten bei der Gestaltung ihres eigenen
Lebens haben, ob und in welchem Umfang sie an allen, ihre
unmittelbare Lebensqualität betreffenden Entscheidungen
partizipieren und ob für sie Möglichkeiten bestehen,
unpassende Leistungen abzulehnen oder gegen Erbringer schlechter
Leistungen vorzugehen. Vieles deutet darauf hin, dass bei einem
solchen Ranking ein an die PISA-Resultate erinnerndes Ergebnis
erzielt würde.
Die offenkundig gewordene deutsche Bildungsmisere wurde unter
anderem auf politische Kleinstaaterei, auf fehlende beziehungsweise
veraltete Standards sowie auf ein überholtes, eine
zeitgemäße Vorschulbildung behinderndes Familienbild
zurückgeführt. Strukturell betrachtet lassen sich
ähnlich gelagerte Komponenten unschwer auch im Bereich der
personen- bezogenen sozialen Dienstleistungen wiederfinden.
Kleinstaaterei wäre im hier angesprochenen Sektor bereits
ein Fortschritt. Die Gestaltung der personenbezogenen sozialen
Dienstleistungen obliegt neben den Ländern den einzelnen
Kommunen, ferner den Wohlfahrtsverbänden, deren
Mitgliedsorganisationen wiederum in hohem Maße
selbständig agieren, wie auch zunehmend privatgewerblichen
Anbietern. Ein breites und vielgestaltiges Angebotsspektrum ist
zwar wünschenswert, aber unter Qualitätsgesichtspunkten
sind die Rahmenbedingungen entscheidend, unter denen
Dienstleistungen erbracht werden. Fehlen Standards, Kontrollen,
Transparenz und den Nutzern substanzielle Wahlmöglichkeiten,
so wird die Leistungserbringung zum Willkürakt.
Natürlich ist an dieser Stelle einzuwenden, dass der
Gesetzgeber Vorkehrungen getroffen hat, die Qualität
personenbezogener sozialer Dienste zu gewährleisten, sei es
durch die Regelung der Qualifikation der im Sozialsektor
tätigen Professionen, die Gesundheitsaufsicht oder durch
Sicherheitsbestimmungen, Auflagen und Vorschriften für soziale
Einrichtungen. In den 70er-Jahren wurde das Heimgesetz
verabschiedet und fortan wiederholt reformiert. Das Gesetz legt
Mindestanforderungen für die stationäre Unterbringung von
älteren Menschen sowie pflegebedürftigen und behinderten
Volljährigen fest. Im Kinder- und Jugendhilfebereich achten
insbesondere die Landesjugendämter auf die Einhaltung von
Mindeststandards. Seit den 90er-Jahren sehen Sozialgesetze wie das
Pflegeversicherungsgesetz, das Bundessozialhilfegesetz oder das
Kinder- und Jugendhilfegesetz vor, dass Kosten- und
Dienstleistungsträger sich in Vereinbarungen über
Qualitätsfragen zu verständigen haben. Auf den zunehmend
skandalbelasteten Pflegesektor zielt seit 2001 gar ein eigens
geschaffenes Pflegequalitätssicherungsgesetz.
Diese Qualitätsanstrengungen sind durch bestimmte
Charaktermerkmale, Selbstverständnisse und Traditionslinien
gekennzeichnet. Zunächst einmal besteht die Möglichkeit,
bundeseinheitliche Regelungen vor Ort auf unterschiedliche Weise in
die Praxis umzusetzen. Länder, Kommunen, Behörden,
Ämter, Verbände und Einzelorganisationen haben dabei
erhebliche Spielräume, so dass Lücken zwischen dem Recht
und den Rechtstatsachen entstehen. Innovative, auf Selbstbestimmung
und Partizipation zielende Bestandteile eines Kinder- und
Jugendhilfegesetzes oder Betreuungsrechts werden auf diese Weise
schnell zur Makulatur, Aufsichtsmaßnahmen zur Farce, wenn es
vor Ort an Personal, Kompetenz und Infrastruktur mangelt.
Qualitätsorientierte Vorgaben werden zweifelhaft, da zum
Beispiel die Etablierung eines Qualitätsmanagementsystems oder
die Zertifizierung von Einrichtungen allein noch nichts
darüber besagen, ob Adressaten eine gute Dienstleistung
erhalten oder nicht. Immer neue Rechtsbestimmungen ändern
nichts an der grundlegenden Misere, solange nicht zugleich
Instrumente und Verfahren etabliert werden, die sich an "best
practice" Beispielen orientieren, auf eine Angleichungsdynamik der
Qualitätsniveaus zielen und neutrale, verlässlich
erfolgende sowie auf angemessenen Standards beruhende
Prüfungen beinhalten.
"Satt und sauber" reicht nicht aus
Anzumerken ist ferner, dass die im Bereich der personenbezogenen
sozialen Dienstleistungen in Deutschland geltenden Standards einem
ordnungspolitischen Denken verhaftet sind, das sich auf technisch
messbare Rahmenbedingungen konzentriert, nicht aber auf das
eigentliche Interaktionsgeschehen der Dienstleistungserbringung
selbst. Zu prüfen ist, ob die vorgeschriebene Anzahl von
Quadratmetern, Waschbecken, Sicherheitsvorkehrungen und so weiter
vorhanden ist, ob ein Heimbeirat, ein Qualitätsmanagement,
Dokumentationssysteme, Qualitätszirkel oder
Qualitätsbeauftragte existieren und ob verlangte
Qualifikationen des Personals gegeben sind, nicht aber, was all
dies letztendlich bewirkt. Stimmen die Rahmenbedingungen, so die
Schlussfolgerung, dann müssen auch die Ergebnisse stimmen.
Insbesondere an der deutschen Pflegeversicherung wird erkennbar,
wie brüchig diese Prämisse ist. Jede einzelne Verrichtung
wurde hier mess- und überprüfbar gemacht, während
die soziale Betreuungsqualität auf der Strecke blieb. Das
erwartbare Ergebnis: Satte, saubere und zugleich
vernachlässigte Pflegebedürftige. Das Fundament solcher
Entwicklungen bilden Selbstverständnisse, in denen die
Adressaten der Leistungen als passive Konsumenten betrachtet
werden. Jeder gute Sozialarbeiter dagegen weiß, dass er
zwangsläufig scheitern muss, wenn es nicht gelingt, einen
Nutzer zu animieren, zu ermutigen, zu aktivieren, die eigene
Lebensqualität mit der erforderlichen und zugleich gewollten
Unterstützung weitestgehend selbst zu gestalten und sich neue
Perspektiven zu eröffnen. Als Ko- beziehungsweise
Hauptproduzenten personenbezogener sozialer Dienstleistungen haben
die Adressaten das Heft des Geschehens in der Hand, sowohl bei der
Annahme wie bei der Verweigerung von Hilfen.
Unterstützungsleistungen sind daher effektiver und
effizienter, wenn Nutzer wesentlichen Einfluss auf die Planung,
Entwicklung, Bereitstellung und Überprüfung von
Leistungen erhalten. Das ordnungspolitische Qualitätsdenken
blendet diesen, ein radikales Umdenken in der
Dienstleistungserbringung erfordernden Zusammenhang weitgehend
aus.
Schließlich sind die deutschen
Qualitätsbemühungen durch ein moralisches Prinzip
gekennzeichnet, das kaum hinterfragt wird. Traditionell haben
staatlich anerkannte Wohlfahrtsverbände eine Vorrangstellung,
wenn es um die Erbringung personenbezogener sozialer
Dienstleistungen geht. Ihnen werden altruistische Motive
unterstellt, ein Handeln aus christlich oder weltlich
begründeter Nächstenliebe und Solidarität, das sich
durch Parteilichkeit für die Schwächeren in der
Gesellschaft und somit durch ein eigenes Qualitätsbewusstsein
auszeichnet. Dieser moralische Kredit wurde im Laufe der Zeit durch
eine Vielzahl gesetzlicher Bestimmungen zur
Dienstleistungsgestaltung gestützt, nicht aber in Frage
gestellt. Die Qualitätsdis-kussion etwa wurde nicht von
staatlicher Seite geführt, sondern vertrauensvoll an die
Verbände und deren Mitgliedsorganisationen delegiert.
Diese waren und sind jedoch immer auch Interessensparteien in
eigener Sache, die ihren jeweiligen Bestandsschutz im Auge haben
und sich spezifischen Wertorientierungen und Hilfephilosophien
verpflichtet fühlen. Insbesondere die quantitativ
dominierenden konfessionellen Verbände trennen professionell
erbrachte, personenbezogene soziale Dienstleistungen nicht von
pastoralen und missionarischen Zielsetzungen und vermitteln so den
Eindruck, in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft
glaubensbezogene Reservate für diejenigen zu schaffen, die
sich am wenigsten dagegen zur Wehr setzen können.
Glaubenskonforme Werthaltungen der Beschäftigten
konfessioneller Organisationen werden im Zweifel höher
eingeschätzt als Qualifikationen. Das Kirchenrecht
konterkariert sogar europäische und nationale Gesetze gegen
Diskriminierungen, weil Mitarbeiter zum Beispiel wegen ihrer
sexuellen Orientierung, nichtkonformer Überzeugungen und
Lebensweisen entlassen werden können. Die Qualität der
Leistungserbringung wird hier zweitrangig.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: So, wie es
im Bildungswesen gute Schulen und hervorragende Lehrer gibt, so
lassen sich auch im Sozialwesen herausragende
Dienstleistungsanbieter und kompetente Beschäftigte finden.
Diese freilich sind im bestehenden System nur schwer
identifizierbar und keinesfalls uneingeschränkt in freier Wahl
in Anspruch zu nehmen, so dass die Nutzer sozialer Dienstleistungen
zu unfreiwilligen Teilnehmern einer Postleitzahlenlotterie werden:
Dort, wo man wohnt, muss vorlieb genommen werden mit dem, was
existiert.
Ein Blick nach Schottland
Ein Blick über die Landesgrenzen lässt erkennen, dass
gesellschaftlich Benachteiligte in ihrer Entscheidungs- macht
unterstützt werden können, anstatt sie durch
überholte Traditionslinien und Strukturen des
Wohlfahrtsstaates noch zusätzlich zu schwächen.
Reformvorhaben werden unter britischen Verhältnissen zum
Beispiel nur nach umfassender Konsultation von Betroffenen und
deren Organisationen durchgeführt. In Schottland geben auf
breiter Ebene diskutierte, nationale Standards den Anbietern von
personenbezogenen sozialen Dienstleistungen Leitorientierungen, die
sich wertebezogen an den Prinzipien der Würde, der Wahrung der
Privatsphäre, des Rechts auf Wahlmöglichkeiten und
größtmögliche Sicherheit, der Möglichkeiten zur
Verwirklichung eigener Potenziale sowie der Akzeptanz von
Gleichheit und Vielfalt in einer diskriminierungsfreien Umgebung
orientieren. Die Bürger können sich frei und offen
darüber informieren, wie gut oder schlecht einzelne soziale
Dienste auf der Grundlage nationaler Standards beurteilt wurden
oder mit welcher Bewertung die örtliche Sozialbehörde im
nationalen Vergleich abgeschnitten hat.
Die PISA-Studien haben gezeigt, wie zwingend erforderlich
internationale Vergleiche zur eigenen Standortbestimmung sind. Der
Reformbedarf bei den sozialen Dienstleistungen wird umfassend erst
dann erkennbar werden, wenn international anerkannte
Bewertungsraster für die Qualität dieser Leistungen
vorhanden sind und Staat, Länder und Kommunen begreifen, dass
ihre Finanzierungsverantwortung untrennbar mit einer
gesamtstaatlichen Qualitätsverantwortung verkoppelt ist.
Eckhard Hansen ist Professor für den Bereich "Soziologie
sozialer Dienste und Einrichtungen" am Fachbereich Sozialwesen der
Universität Kassel, Flemming Hansen ist sein Mitarbeiter.
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