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Claudia Heine
Im Club der aktiven Alten
Die Selbsthilfe von Senioren gewinnt an
Bedeutung
Der Eindruck täuscht gewaltig. Schwere gepolsterte
Couchgarnituren, ordentlich gebügelte Deckchen auf den
Tischen, die vielen Pflanzen, eine Vitrine mit selbstgefertigten
Handarbeiten, all dies hat nichts mit dem Rückzug in eine
kuschelig private Wohnzimmerwelt zu tun. Nicht umsonst liegen auf
einem der Tische die wichtigsten Berliner Tageszeitungen bereit.
Man muss und will informiert sein. Im Foyer des Altenselbsthilfe-
und Beratungszentrums in Berlin-Wilmersdorf herrscht ein Kommen und
Gehen. Im Keller rollen die ersten Kugeln über die Kegelbahn,
im Erdgeschoss treffen sich an diesem Vormittag schon die
Skatenthusiasten und aus dem ersten Stock dringen ganz andere
Töne: Yoga sorgt für die richtige Stimmung im
Bibliothekszimmer. Improvisation gehört dazu.
Mit Improvisation fing es im Jahr 1971 auch an, als Käte
Tresenreuter, bis dahin Hausfrau, das Sozialwerk Berlin e. V. als
Bürgerinitiative gründete. Von einem eigenen Gebäude
mit Grundstück konnten die 30 Enthusiasten damals nur
träumen. So begann der Seniorenclub seine Aktivitäten in
den Räumen der Vaterunser-Gemeinde. "Ich wollte etwas gegen
die Vereinsamung älterer Menschen tun", begründet die
heute 81-jährige Tresenreuter ihre Motive. Das ist ihr
gelungen. 1983 konnte das Sozialwerk in einem neu gebauten, durch
Spenden, Lotteriegelder und Gründung einer gemeinnützigen
GmbH finanzierten "Eigenheim" das Altenselbsthilfe- und
Beratungszentrum eröffnen; damals das erste in der
Bundesrepublik, das in voller Verantwortung älterer Menschen
stand und von ihnen allein betrieben wurde. Über 1.700
Mitglieder zählt der Verein heute, und: "Es wird alles nur von
ehrenamtlichen Mitarbeitern aufrechterhalten", betont die
Gründerin mehrmals stolz. Über 200 sind es
mittlerweile.
Der hohe Altersdurchschnitt der Ehrenamtlichen ist kein Zufall.
Er gehört zum Prinzip des Sozialwerkes: "Ältere Menschen
helfen älteren Menschen". Mit Skepsis gegenüber
jüngeren Generationen hat das ebenso wenig zu tun, wie mit dem
in der Öffentlichkeit oft beschworenen "Krieg der
Generationen". Wenn hier ältere Menschen für sich selbst
Englisch- oder Gymnastikkurse, Ausflüge, Geburtstagsfeiern und
einen Damengesprächskreis organisieren spiegelt das nur eines
wider: den Willen und die Fähigkeit, auch im Alter
selbstbestimmt zu leben. Genau dieses Recht wird älteren
Menschen oft genommen: "Die Akzeptanz älterer Menschen in der
Gesellschaft, ihre Teilhabe an gesellschaftlichen Entwicklungen
entspricht keineswegs ihrer tatsächlichen Bedeutung." Deshalb,
so Tresenreuter weiter, sei das Sozialwerk nicht einfach nur ein
Freizeitverein, sondern hat einen politischen Anspruch: "Warum", so
fragt sie, "darf man ab 70 bei den behördlichen Organisationen
nicht mehr ehrenamtlich tätig sein? Wir beweisen hier
täglich, dass auch Menschen über 80 noch aktiv sein
können!"
Um diesen Beweis bemüht sich auch ein Verein ein paar
Kilometer weiter östlich. Seit 1992 existiert im Bezirk
Lichtenberg "Miteinander Wohnen e. V.", in einem Kiez aus
Plattenbauten, in dem fast 50 Prozent der Bewohner älter als
55 Jahre sind. In den drei Hochhäusern des Wohngebietes gibt
es fast nur Ein-Zimmerwohnungen - 25 Quadratmeter, meist bewohnt
von alleinstehenden älteren Frauen. Und in einem, aber ganz
unten im Parterre, hat der 400 Mitglieder zählende Verein seit
1996 eigene Räume. Sie sind bei weitem nicht so
großzügig wie die des Sozialwerks, werden aber von den
100 ehrenamtlich aktiven Mitgliedern und etwa 20 Mitarbeitern des
zweiten Arbeitsmarktes (AMB und SAM) genauso engagiert mit Leben
gefüllt: auch hier liegen Häkelarbeiten des
Handarbeitskreises in einer Vitrine, auch hier gibt es
Geburtstagsrunden, Gedächtnistraining, Sport und eine
Wandergruppe und seit einigen Jahren einen "Club der aktiven
90-Jährigen". "Für uns war es wichtig, der drohenden
Isolation der vielen Hochbetagten, die hier in ihren kleinen
Wohnungen lebten, entgegen zu wirken", schildert Gudrun Hirche, die
Gründerin und Vorsitzende des Vereins, seine Anfänge. Mit
der politischen Wende 1989/90 seien ja nicht nur neue Freiheiten
auf die Menschen zugekommen. Gerade für ältere Menschen
bedeuteten veränderte Gesetze und finanzielle
Rahmenbedingungen auch ein großes Maß an Verunsicherung.
Hinzu kam die Schließung von bestehenden
Freizeiteinrichtungen. Neben der Beratung beim Ausfüllen von
Renten- oder Wohngeldbescheiden stand und steht eines daher immer
noch im Mittelpunkt: "Der Verein bietet eine Möglichkeit, den
kleinen Wohnungen zu entkommen, die alten Menschen mit der
Außenwelt zu verkoppeln und ihnen einen Ort für
gemeinschaftliche Aktivitäten zu geben." Eigeninitiative zu
fördern ist dabei das Leitmotiv: "Wir wollen den Älteren
nichts vormachen, sondern dass sie selbst aktiv werden, nicht nur
zuhören, sondern Ideen einbringen." Es macht die
80-jährige Vorsitzende, die seit 1979 in dem Kiez lebt, stolz,
wenn sie berichtet, dass über 90 Prozent der inzwischen
verstorbenen Mitglieder in ihren Wohnungen gestorben seien. Denn
genau das ist das Ziel: den Alten so lange wie möglich ein
selbstbestimmtes Leben jenseits der Anonymität der Altenheime
zu ermöglichen.
Eine Politik, die hilfsbedürftige Senioren abschiebt in die
Unselbständigkeit, in die teure und oft schlechte
Rundumversorgung der Heime lehnen beide Vereinsvorsitzenden daher
strikt ab. "Heime sind doch keine Lösung" empört sich die
Lichtenbergerin Hirche. Und auch in Wilmersdorf kämpft man
für einen anderen Ansatz, denn, so stellt Käte
Tresenreuter fest, "die wenigsten Heime sind empfehlenswert". Nach
längeren Krankenhausaufenthalten könne es den Alten
jedoch schnell passieren, ins Heim abgeschoben zu werden "und dann
haben die Betroffenen oft nicht die Mittel und die Kraft, sich zu
wehren". Deshalb gründete die Chefin des Sozialwerks schon in
den 80er-Jahren die "Koordinierungsstelle für ambulante
Rehabilitation älterer Menschen", die nun
"Koordinierungsstelle rund um das Alter" heißt. Heute arbeiten
diese Stellen in allen Berliner Bezirken, auch in Lichtenberg, und
bieten Beratung und Hilfe dafür, wie man auch mit den Folgen
einer Krankheit in den eigenen vier Wänden selbstbestimmt
leben kann.
Altenselbsthilfe verstehen beide Frauen deshalb nicht als
Unterhaltungsveranstaltung. Es geht um den größeren
gesellschaftlichen Kontext. Altenselbsthilfe, sagt Tresenreuter,
sei der erste Schritt, das Recht der älteren Generation auf
einen unabhängigen Lebensabend durchzusetzen. Fast 90
Kongresse zur Situation und Zukunft der Altenselbsthilfe
veranstaltete das Sozialwerk seit seinem Bestehen. Die Gastredner
aus Politik, von Wohlfahrtsverbänden oder aus der Medizin sind
nicht schwer zu engagieren; das Sozialwerk ist inzwischen eine
Institution, seine Gründerin für "zukunftsweisende
Altenarbeit" ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz Erster
Klasse. Sie weiß aber auch um die Widerstände: "Diese
Selbsthilfe mögen viele nicht so gern, weil sie bedeutet, dass
wir mitbestimmen und über unsere Belange selbst entscheiden".
Genau hier herrscht nach wie vor ein Handlungsbedarf, der sich
nicht nur auf Fragen der Therapiegestaltung oder die Wohnsituation
älterer Menschen konzentriert.
Selbst im Landesseniorenbeirat Berlin (LSBB), in dem sie
immerhin stellvertretende Vorsitzende ist, vermisst Tresenreuter
ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht der Älteren. Der Beirat
versammelt sowohl Vertreter der bezirklichen Seniorenvertretungen
als auch Mitglieder aus Organisationen, Vereinen und Institutionen.
Berufen wird er vom zuständigen Senator mit dem Ziel,
verbesserte Lebensbedingungen, Angebote und Hilfen für
ältere Berliner zu diskutieren und durchzusetzen. Nur: "Auch
hier werden wir immer nur in Kenntnis gesetzt und haben kaum ein
Mitspracherecht für die Dinge, die wir uns wünschen
würden". Zu viele Gremien würden von "Professionellen"
dominiert, so Tresenreuter. Sie findet, dass die ehrenamtlichen
Alten, sozusagen die "Betroffenen", nach wie vor zu wenig
tatsächliche Einflussmöglichkeiten haben.
Seit Jahren schon setzt sie sich dafür ein, dass
ehrenamtliche Mitarbeiter, die in ihrem Verein den Besuchsdienst
für Menschen in Pflegeheimen organisieren, ermäßigte
Fahrpreise für die Öffentlichen Verkehrsmittel erhalten.
"Viele können sich das einfach nicht leisten." Als jedoch
kürzlich ein Vertreter der Berliner Verkehrsgesellschaft zu
Gast im Beirat war "interessierte den das genauso wenig wie unsere
Probleme mit der Reform des Streckennetzes, das durch den Wegfall
vieler Verbindungen zusätzliches, für alte Menschen
beschwerliches Umsteigen bedeutet".
Kaum verwunderlich ist es daher, dass sich die Vereinschefinnen
euphorisch über das "Kompetenznetz für das Alter"
äußern. Dahinter verbirgt sich ein vom
Bundesfamilienministerium gefördertes Modellprojekt für
Berlin und Brandenburg, das Konzepte entwickeln soll, wie
ältere Menschen "zur Bewältigung der aktuellen und
zukünftigen demografischen Herausforderungen sinnvoll in die
gerontologische Forschung und Lehre einbezogen werden können".
Seit 2003 arbeitet das aus einer Initiative des Sozialwerks
entstandene zweijährige Projekt. Sowohl Gurdrun Hirche und
Käte Tresenreuter engagieren sich hier: "Erstmals sind die
Betroffenen hier im Vorstand und als echte Partner anerkannt",
beschreibt Tresenreuter diesen Erfolg.
Bis nach Italien hat Gudrun Hirche das ehrenamtliche Engagement
in Sachen Altenselbsthilfe und Gerontologieforschung schon
geführt. Sogar einen Videofilm mit englischen Untertiteln
drehte der Verein, um sich auf einem Kongress in Turin
vorzustellen. Rüstige Alte? Hier kann man sie sehen. Die mit
dem vorhergesagten demografischen Wandel verbundene
Schre-ckensvision von Millionen pflegebedürftiger, die
Gesellschaft belastenden Alten gilt hier nicht. "Man sollte
stattdessen das Alter als Kontinent der Lebensmöglichkeiten
neu entdecken", findet Hirche.
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