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Wolfgang Kessel
Mit einem Bürgergeld zu einer
Bürgergesellschaft
Eine Vision für das Jahr 2020
Wir schreiben das Jahr 2020. Es ist Freitag,
18.30 Uhr. Werner H. musste schneller aufbrechen, als ihm lieb war.
Normalerweise hat er gerade vor dem Wochenende viel Zeit für
Maria Simons. Und die braucht er auch. Oft erkennt sie ihn
nämlich nicht gleich, wenn er sie besucht. Dann weist sie ihn
erst einmal ab. Maria Simons leidet an Alzheimer. Erst wenn der
Besucher vertraute Geschichten erzählt, dann erkennt sie ihn
wieder: Es ist Werner, der sie schon seit Jahren besucht, einen
Kaffee mit ihr trinkt - und auch mal was mitbringt. Dann will sie
nur noch, dass er möglichst lange bleibt. Doch heute musste
Werner pünktlich gehen. Er hat noch einen wichtigen Termin im
Rathaus vor sich.
Seit 18 Uhr tagt der städtische
"Ausschuss für Bürgerarbeit". Er wird an diesem Abend
darüber entscheiden, ob Werner H. auch in den kommenden vier
Jahren mit Bürgergeld rechnen kann. Werner H. rutscht
nervös auf einer harten Bank vor dem kleinen Sitzungsraum des
Rathauses hin und her. Endlich. Um 21 Uhr geht die Tür auf.
Die zwei Stadträte und der Finanzbeamte, die den Ausschuss
bilden, bitten Werner H. herein. Danach atmet er erleichtert auf.
Der Ausschuss hat anerkannt, dass sein regelmäßiges
Engagement für Alzheimer-Kranke im Pflegeheim Sankt Deus eine
monatliche Zahlung von 800 Euro vom Finanzamt rechtfertigt. Wie
bisher wird Werner H. das Geld mit seiner Einkommenssteuer
verrechnen müssen.
Der 48-jährige Bankangestellte ist froh,
dass er ein Leben weiterführen kann, an das er sich
gewöhnt hat, seit die Bundesregierung im Jahre 2016 für
bestimmte, vorher ehrenamtliche Tätigkeiten ein
Bürgergeld einführte. Dazu zählen die Erziehung von
Kindern, die häusliche Pflege und die Betreuung von
Behinderten oder Pflegebedürftigen, die nicht mehr zu Hause
leben können. Mit dem Bürgergeld konnte Werner H. seinen
Traum verwirklichen. Schon lange wollte er seine Arbeitszeit als
Kreditsachbearbeiter verringern, um mehr Zeit für sein
Engagement zu haben: nämlich für die Betreuung von
Alzheimer-Kranken wie Maria Simons.
Mit Alzheimer kam Werner H. erstmals in
Berührung, als seine Mutter vor 20 Jahren erkrankte. In den
ersten Monaten nach der Diagnose war sie ihm immer fremder
geworden. Doch dann hatte er sich mit dieser Krankheit
beschäftigt und den ungewohnten Umgang mit seiner Mutter neu
schätzen gelernt. Wie gerne hätte er mehr Zeit für
sie gehabt, nachdem sie ins Pflegeheim umziehen musste. Doch
damals, Anfang 2005, hatte er sich gerade in der Bank etabliert,
seine Frau war schwanger geworden. An eine reduzierte Stundenzahl
bei der Bank oder an Teilzeit war nicht zu denken - die Familie
hätte von dem verminderten Gehalt nicht leben können. So
wurstelte sich Werner H. Tag für Tag durch: acht intensive
Stunden in der Bank, danach Frau, Kind und - wann immer es
möglich war - seine Mutter.
Und bei alledem tobte noch eine
gesellschaftliche Diskussion, die ihn zunehmend irritierte. Auf
Kanzeln, in Vorträgen, im Fernsehen wurde der angeblich
wachsende Egoismus der Menschen kritisiert. Für die meisten
Menschen zähle nichts als Geld - kein Engagement, keine
Solidarität. Dass wissenschaftliche Studien andere Ergebnisse
zu Tage förderten, konnte Werner H. nur teilweise beruhigen.
So hatte eine Studie des Familienministeriums bereits Anfang 2001
nachgewiesen, dass mehr als ein Drittel der bundesdeutschen
Bevölkerung ehrenamtlich tätig war. Doch die Reden von
dem angeblich allgegenwärtigen Egoismus schwollen nicht
ab.
Andererseits erlebte Werner H. den Mangel an
Personal bei der Pflege seiner Mutter hautnah. Er besuchte sie,
wann immer er konnte. Doch wie wichtig wären Menschen, die
Pflegebedürftige einfach besuchen, ihre Hand halten, mit ihnen
sprechen oder Kaffee trinken. Dass sich dafür so wenige
Menschen engagierten, lag allerdings weniger an dem immer wieder
kritisierten Egoismus, sondern an den Zwängen des
Arbeitsmarktes. In Industrie und Verwaltung wurde weiter
rationalisiert - die Zahl der Arbeitsplätze nahm langsam, aber
stetig ab. Immer weniger Leute mussten immer mehr arbeiten,
während immer mehr Menschen gar keinen Arbeitsplatz hatten
oder sich als Ich-AG von Projekt zu Projekt, von Honorartopf zu
Honorartopf hangelten. Wer hatte unter diesem Druck noch die Zeit
und die Energie, sich ehrenamtlich zu engagieren?
Auch die Prognosen der Wissenschaftler
verhießen nichts Gutes. Am weitesten ging der prominente
US-amerikanische Arbeitsforscher Jeremy Rifkin. Auf Grund des
rasanten technischen Fortschritts sagte er für das Jahr 2050
die 20:80-Gesellschaft voraus: 20 Prozent der Erwerbsfähigen
haben Erwerbsarbeit, die verbleibenden 80 Prozent schlagen sich so
durchs Leben. Natürlich, das wusste auch Werner H.,
übertreiben Experten immer. Doch für ihn war klar, dass
diese Krise auf dem Arbeitsmarkt nicht allein durch eine
effektivere Vermittlung von Arbeitslosen zu bewältigen war,
wie sie die umstrittenen Hartz-Gesetze anstrebten. Wann immer er
vor dem Einschlafen seine Tage in der Bank, in der Familie und bei
seiner Mutter Revue passieren ließ, fragte er sich: Wenn der
Gesellschaft die Arbeitsplätze ausgehen, nicht aber die Arbeit
- warum macht man dann nicht einfach aus der Not eine Tugend und
erklärt Erziehung, Pflege und anderes soziales Engagement zu
Arbeit?
So dachten auch andere und gaben dieser
Vision einen Namen: die Tätigkeitsgesellschaft. Diese Vision
wurde breit diskutiert: in Akademien, auf großen Tagungen, in
Büchern, in den Medien. Doch wie so oft in Deutschland
zerstritt man sich dann über die praktischen Fragen: Sollte
man die Tätigkeiten bezahlen und, wenn ja, in welcher Form. Da
schlugen die einen Steuerfreibeträge, die anderen ein
Punktesystem vor, für das sich Engagierte ein Recht auf
öffentliche und soziale Dienstleistungen erwerben konnten.
Doch letztlich passierte, was in Deutschland nach endlosen Debatten
oft passiert: nichts.
Die Lage wurde für Werner H. fast
verzweifelt, als seine Mutter nach einem Schlaganfall starb. Wie
gerne hätte er seiner Mutter mehr Zeit widmen wollen. Doch
ihre Krankheit hatte ihn und seine Familie bereits an die
Belastungsgrenze gebracht. Umso glück-licher war er, als ihm
die Bank ein unerwartetes Angebot unterbreitete. Er könnte
doch für einige Jahre den Aufbau einer Filiale in den USA
begleiten - und danach wieder auf seinen alten Arbeitsplatz
zurückkehren.
Gesagt, getan. Zwar war der Anfang in der
Neuen Welt schwierig. Eines stellte er jedoch schon nach wenigen
Wochen fest: Freiwilliges Engagement war hoch angesehen und
entsprechend weit verbreitet: In den Gemeinden, in Schulen, in der
Drogenberatung, in Kindergärten und Pflegeheimen -
überall erlebte er freiwillige Helfer. Klar. Vielfach mussten
die freiwilligen Helfer jene Löcher schließen, die der
lückenhafte amerikanische Sozialstaat überall riss.
Dennoch war Werner H. tief beeindruckt.
Dazu kam, dass dieses Engagement oft belohnt
wird. Man erhält so genannte Credit-Points für
Freiwilligenarbeit. Mit ihnen kann man eine Vielzahl von sozialen
und kulturellen Dienstleistungen in der eigenen Gemeinde in
Anspruch nehmen. Und noch wichtiger: Credit-Points wirken bei jeder
Bewerbung um einen neuen Job oder um eine neue Wohnung wie ein
Empfehlungsschreiben. Obwohl er an den vielen sozialen
Ungerechtigkeiten der US-Gesellschaft viel auszusetzen hatte - in
dieser Kultur von Engagement fühlte sich Werner H. wohl. Und
er malte sich aus, wofür er sich unter diesen Bedingungen
gerne engagieren würde. Die Wahl fiel ihm nicht schwer:
für Pflegebedürftige. Schließlich hatte er durch die
Pflege seiner Mutter erfahren, wie dringend sie auf jeden Besuch,
auf jede freundliche Hand angewiesen waren. Doch kaum hatte er
diesen Traum geträumt, rief ihn seine Bank im Jahre 2013 in
die Heimat zurück.
In Deutschland angekommen, war er entsetzt.
Inzwischen hatte die Arbeitslosigkeit die neue Schallgrenze von
sechs Millionen Menschen überschritten. In bestimmten
Stadtvierteln großer Städte breitete sich Elend aus. Die
demografische Entwicklung hinterließ immer tiefere Spuren:
Immer mehr Ältere standen immer weniger Jüngeren
gegenüber. Schulen, Kindergärten, Pflegeheime, ja alle
sozialen Dienste suchten händeringend nach
Personal.
Schon dachte Werner H. über seine
Rückkehr in die USA nach. Doch dann geschah, was er nicht mehr
erwartet hatte. Nach den Wahlen im September 2014 kündigte die
neu gewählte Regierung eine grundlegende Reform der Arbeits-
und Sozialgesetze an. Ihr Kern war die Einführung eines so
genannten Bürgergeldes: Ab 1. Januar 2016 konnten alle
Bürger beim Finanzamt ein Bürgergeld von 800 Euro
monatlich beantragen, wenn sie gegenüber dem Ausschuss
für Bürgerarbeit nachwiesen, dass sie Kinder unter 16
Jahren erzogen, Familienmitglieder im eigenen Haushalt pflegten
oder sich nachweislich eine bestimmte Zeit pro Woche für die
Betreuung Behinderter oder Pflegebedürftiger engagierten. Das
Bürgergeld wurde mit dem individuellen Einkommen verrechnet.
Je mehr man über die Erwerbsarbeit verdiente, desto geringer
war das Bürgergeld. Ab einem bestimmten Einkommen erhielt man
kein Bürgergeld mehr. Außerdem achtete die Regierung
darauf, dass bezahlte Stellen nicht durch Freiwillige ersetzt
wurden.
Wie in Deutschland üblich, löste
diese Reform eine heftige Diskussion ein. Doch nach und nach
veränderte sie die Gesellschaft. Das Bürgergeld
ermöglichte es vielen Menschen, ihre Arbeitszeit zu
verkürzen und ihr Einkommen durch Bürger-Engagement
aufzubessern. Jahrzehntelang hatten sich die Mauern zwischen
Erwerbsarbeit und anderen Formen von Arbeit als undurchdringlich
erwiesen. Jetzt wurden sie durchlässiger, weil das
Bürgergeld die finanziellen Verluste begrenzte oder sogar
ausglich. Auch ältere Menschen entdeckten die Vorteile des
Bürgergeldes. Rentner engagierten sich wieder, weil ihr
Engagement honoriert wurde. Sie waren wieder Teil der Gesellschaft,
die sie zuvor aufs Altenteil verbannt hatte.
Über diese Entwicklung war auch die
Regierung erleichtert. Hatten doch die Koalitionspartner mit
großen Schwierigkeiten gerechnet und lange über die
Finanzierung des Bürgergeldes gestritten. Sie waren sich alle
einig gewesen, dass das Bürgergeld einige Sozialleistungen wie
Erziehungs- oder Pflegegeld vollkommen ersetzen würde. Aber
sie wussten auch, dass das nicht reichen würde. Doch die
dramatischen Warnungen der Opposition vor einem riesigen
Staatsdefizit bewahrheiteten sich nicht. Das Bürgergeld half
nämlich, die Arbeitslosigkeit zu senken, weil Millionen
Menschen ihre Arbeitszeiten verkürzten - und Platz machten
für Arbeitslose. Dadurch sparte die Regierung
Milliardenbeträge, mit denen sie das Bürgergeld bezahlen
konnte. Das letzte finanzielle Risiko beseitigte eine so genannte
Wertschöpfungsabgabe für alle Unternehmen. Auf diesen
Begriff hatte man sich geeinigt, weil der immer stärkere
Einsatz von Maschinen die Wertschöpfung der Betriebe in die
Höhe trieb - aber auch die Arbeitslosigkeit. Warum sollten die
Unternehmen also nicht einen kleinen Teil der Wertschöpfung
durch Technik an den Staat abtreten, damit dieser mehr Geld in die
sozialen Dienste für Menschen investieren konnte?
Diese Chance nutzte auch Werner H. Im Jahre
2016 ging er in seiner Bank auf Teilzeit. Endlich hatte er Zeit
für jenes Engagement, das er sich in den Vereinigten Staaten
ausgemalt hatte: Er verbrachte den Vormittag in der Bank - und die
Nachmittage zumeist im Pflegeheim, um Alzheimer-Kranke zu betreuen,
wie Maria Simons. Doch nicht nur Werner H. erfüllte sich
seinen Traum von einem anderen Arbeitsleben. Deutschland erlebte
eine Aufbruchstimmung, wie es sie lange nicht mehr gegeben hatte.
Jetzt zeigte sich, dass die Menschen zu sozialem Engagement
für andere Menschen bereit waren, wenn sie dafür
finanziell honoriert wurden.
Werner H. fragte sich nur, warum all dies so
lange gedauert hat. Dann jedoch erinnerte er sich an eine Bemerkung
seines Sozialkundelehrers. Dieser hatte einmal eine Geschichte von
einem ehemaligen Bundeskanzler namens Willy Brandt erzählt.
Der war gefragt worden, wie viele Jahre vergehen, bis eine
politische Idee Wirklichkeit werde. Brandts Antwort: mindestens 20
Jahre.
Wolfgang Kessler ist Wirtschaftspublizist und
Chefredakteur der kirchenunabhängigen christlichen Zeitschrift
"Publik-Forum". Zusammen mit Stephan Hebel gibt er das Buch
"Zukunft sozial. Wegweiser für mehr Gerechtigkeit" heraus
(Publik-Forum Verlag 2004).
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