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Martin Teschke
Die Zivis gehen - die Jobs kommen?
Die Gesundheitswirtschaft gilt als
Zukunftsbranche
Der Jobmotor brummt. Glaubt man den Experten,
dann entstehen in den nächsten Jahren hunderttausende neue
Stellen. Und zwar nicht irgendwelche Jobs zum Billigtarif, sondern
ganz reguläre Arbeitsplätze - den Umwälzungen im
Bereich der sozialen Dienste sei Dank. Doch läuft der Motor
wirklich so rund, wie viele Beobachter uns weismachen wollen?
Josef Hilbert muss es wissen. Der Direktor
des Forschungsschwerpunktes Gesundheitswirtschaft und
Lebensqualität am Institut Arbeit und Technik Gelsenkirchen
macht in großen Teilen der sozialen Dienste eine
"hochinteressante Umbruchsituation" aus. Erstens seien die sozialen
Dienste dabei, ein neues Niveau der Effizienz zu erreichen. Im
Klartext: Sie hätten erkannt, dass sie billiger und besser
werden müssten. Zweitens seien sie auf dem Weg, ihr
Zusammenspiel mit dem Ehrenamt zu verbessern. Und drittens - das
ist für Hilbert der Beschäftigungsmotor schlechthin -
"sehen sich viele Bereiche der sozialen Dienste nicht mehr nur als
Teil der Versorgungsinfrastruktur, sondern als
Wirtschaftsbranche".
Soziale Dienstleister wollen also nicht mehr
nur die Grundversorgung sicherstellen, sondern mit der Befriedigung
von Zusatzbedürfnissen auch Geld verdienen. Als Beispiel nennt
der Gelsenkirchener Wissenschaftler (nicht nur wegen der
hinlänglich bekannten demografischen Entwicklung) die
Seniorenwirtschaft, für die sich inzwischen schon der
wohlklingende Begriff der "silver economy" herausgebildet hat.
Abgedeckt werden damit haushaltsnahe Dienstleistungen wie
Einkaufengehen ebenso wie Seniorenreisen abseits der Kaffeefahrten
mit Heizdecken-Verkaufsshows und anderen "Highlights".
Aber woher nimmt Hilbert den Optimismus, dass
nun massenhaft reguläre Stellen entstehen? "In keiner anderen
Branche sind in den vergangenen 20 Jahren so viele
Arbeitsplätze entstanden wie in der Gesundheitswirtschaft",
sagt er. Derzeit arbeiteten dort 4,6 Millionen Beschäftigte -
eine Million mehr als vor 20 Jahren. Eine
Zukunftsbranche.
Für Nordrhein-Westfalen rechnet Hilbert
bis 2015 mit 200.000 neuen Arbeitsplätzen in der
Gesundheitswirtschaft. Prognos spricht von 600.000 Stellen bis 2020
in ganz Deutschland. Das Diakonische Werk schätzt allein den
Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften in den kommenden 20
Jahren auf 400.000 - allesamt
Vollzeitarbeitsplätze.
Und das dürfte womöglich nicht
alles gewesen sein. Peter Tobiassen, Geschäftsführer der
Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer
aus Gewissensgründen, sieht durch Privatisierungen im Bereich
der sozialen Dienste ebenfalls eine Möglichkeit, neue Stellen
zu schaffen. "Es sind doch schon längst Arbeitsplätze
entstanden", sagt er. "Zum Beispiel in der privaten Altenpflege.
Allein schon deshalb, weil dort keine Zivildienstleistenden
arbeiten dürfen."
Hintergrund: Tobiassen wirbt hartnäckig
dafür, dass der Zivildienst abgeschafft und die Arbeit von
Zivildienstleistenden komplett von regulären
Vollzeitbeschäftigten erledigt wird. Er verfährt nach
einer klaren Faustregel: Zwei Arbeitsplätze ersetzen drei
Zivildienststellen. Die Berechnung ist einfach. Ein
Zivildienstleistender kostet im Jahr 15.000 Euro (7.000 Euro
für Unterkunft, Verpflegung und Arbeitsentlohnung; 8.000 Euro
schießt der Bund zu). Macht für drei Zivildienstleistende
45.000 Euro im Jahr. Und diese Summe entspreche genau dem Gehalt
von zwei Stationshilfen zu je 22.500 Euro jährlich
(Arbeitgeberbrutto). Tobiassen: "Nichts ist also einfacher, als aus
den heute 75.000 Zivildienststellen schon morgen 50.000
Vollzeitstellen zu machen."
Eine Milchmädchenrechnung? Nicht
unbedingt. Dirk Meyer, Professor für Volkswirtschaftslehre am
Institut für Wirtschaftspolitik an der
Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr
Hamburg, und nicht von vornherein ein Gegner von Wehrpflicht und
Zivildienst, kommt zu dem Schluss: "Volkswirtschaftlich wäre
eine Abschaffung des Zivildienstes zu fordern." Meyer verficht
einen konsequent marktwirtschaftlichen Kurs.
Wohlfahrtsverbände hätten durch den Einsatz von
Zivildienstleistenden einen Wettbewerbsvorteil gegenüber
privat-gewerblichen Unternehmen und würden eben dort die
Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindern. Da zudem
Zivildienstleistende nicht effektiv eingesetzt würden, sieht
der Professor - zugespitzt formuliert - eine Verschwendung von
Humankapital und vor allem von Steuergeldern. Wissenschaftlich
ausgedrückt: "Fis-kalisch würde der Wegfall
günstiger Arbeitskräfte die Belastung der Sozialhaushalte
erhöhen. Zugleich führt der Wegfall dieser naturalen
Sondersteuer zu vermehrter Steuergerechtigkeit. Die Akquirierung
zusätzlicher finanzieller Mittel über die
Sozialversicherungsbeiträge würde einen regressiven, die
über vermehrte Steuereinnahmen einen eher progressiven
Umverteilungseffekt bewirken."
Aber nicht nur der Wegfall des Zivildienstes
könnte demnach die Arbeit der sozialen Dienste effizienter und
besser werden lassen. Wie der Wissenschaftler Hilbert aus
Gelsenkirchen sieht auch Meyer die Notwendigkeit, über die
Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen neu nachzudenken. Ein
Zahlenbeispiel, das die Dimension des Ehrenamts verdeutlicht: Nach
Berechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien
Wohlfahrtspflege (BAGFW) vor wenigen Jahren arbeiten 2,5 Millionen
Freiwillige wöchentlich im Schnitt 4,5 Stunden im sozialen
Bereich; das ergibt ein Arbeitsvolumen von jährlich 585
Millionen Stunden - umgerechnet etwa 345.000 Vollzeitstellen. Zudem
ist laut Meyer der Einsatz von Freiwilligen nicht selten
unwirtschaftlich. Wegezeiten hätten am wöchentlichen
Arbeitseinsatz einen Anteil von 20 Prozent, Fort- und
Weiterbildungskurse seien kostspielig, und der Fiskus gewähre
Freiwilligen einen persönlichen Freibetrag von knapp 2.000
Euro für Aufwandsentschädigungen. Geld, das
womöglich bei der Schaffung von Arbeitsplätzen
fehlt.
Nun will natürlich niemand - und das sei
ausdrück-lich betont - das Ehrenamt abschaffen. Aber es geht
den Experten um mehr Wettbewerbsmöglichkeiten und damit
letzten Endes um neue Beschäftigungschancen. Wenn auch nicht
in dem erhofften Umfang. Tobiassen, der Geschäftsführer
der Zentralstelle für Recht und Schutz der
Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, sieht sehr wohl
die Gefahr, dass selbst bei einer Abschaffung des Zivildienstes
nicht einfach 50.000 neue Stellen geschaffen werden, sondern dass
einige Arbeiten sicher auch von den so genannten Ein-Euro-Jobbern
erledigt würden. Aber er wehrt sich vehement gegen die
Befürchtung, Ehrenamtliche könnten künftig die
Arbeit etwa der Zivildienstleistenden übernehmen: "Wer
freiwillig arbeitet, lässt sich nicht so leicht ausnutzen wie
die Zivis, die ja gezwungen werden, zum Beispiel den Müll
rauszutragen." Ehrenamtliche stärkten vielmehr die
Qualität sozialer Dienstleistungen.
Tobiassen ruft die Wohlfahrtsverbände
daher auf, die Bereitschaft junger Leute stärker zu nutzen,
sich in einem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) zu engagieren. "Das
ist eine gute Werbung für die sozialen Dienste." Diese
Imagekampagne sei schon allein deshalb dringend geboten, um den
künftigen Arbeitskräftebedarf decken zu
können.
Dem kann der Wissenschaftler Hilbert, Experte
für die Gesundheitswirtschaft nur beipflichten. Er
befürchtet zwar auch, dass es in der derzeitigen
Umbruchsituation der sozialen Dienste noch viele "windige Formen
von Beschäftigung" geben werde. Das sei allerdings eine
Übergangsphase. "Sehen Sie sich doch nur die ,Mucki-Buden'
an", sagt Hilbert, der Fitness-Center zur Gesundheitsbranche
zählt. "Diesen Bereich übernehmen jetzt die Ketten, die
sich viel besser organisieren und damit eine höhere
Qualität anbieten können."
Die nächste Welle sieht Hilbert in
haushaltsnahen Dienstleistungen, also Einkaufsdienst, Unterhaltung
vereinsamter Menschen etcetera. "Da wird in diesem Jahr viel
experimentiert werden", prophezeit er. Natürlich auch mit
"windigen" Beschäftigungsformen. "Aber am Ende werden die
regulären Arbeitsplätze dominieren." Wenn sich erst die
Spreu vom Weizen getrennt habe, dann werde es sich keiner leisten
können, mangelhafte Dienstleistungen anzubieten. Hilbert:
"Diese Leistungen können nur regulär Beschäftigte
erbringen." - Und der Jobmotor kann langsam warm laufen.
Martin Teschke arbeitet als freier Journalist
in Berlin.
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