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Martin Teschke
"Wir machen uns doch selber Konkurrenz"
Ein-Euro-Jobs in den sozialen
Diensten
Drehtag im Berliner Osten: Die 25 Schüler der Klasse 9.2
des Carl-von-Ossietzky-Gymnasiums Pankow sind ausgelassen. Zu
Recht. Statt Vokabeln zu pauken, spielen sie heute in einem
Kurzfilm mit. Am Projekttag ihrer Schule lernen sie neue
Berufsfelder kennen. Angeleitet werden sie von sechs Männern
und Frauen, die in der Welt der Medien erste Erfahrungen gesammelt
haben. Was die Schüler nicht wissen: Ihre Betreuer, von der
Kamerafrau bis zum Regisseur, sind so genannte Ein-Euro-Jobber.
Eine von ihnen, die Schauspielerin Nanna M., zeigt den
Schülern, wie sie sich vor der Kamera verhalten sollen. Mit
ihren 31 Jahren zählt Nanna bereits zu den
Langzeitarbeitslosen, zu jenen Menschen, die seit Beginn des Jahres
Arbeitslosengeld (ALG) II beantragen müssen und seit Oktober
vergangenen Jahres mit Hilfe der Ein-Euro-Jobs bis zu 240 Euro im
Monat dazuverdienen können. Nanna macht das freiwillig, lernt
etwas Neues, kann natürlich das Geld ganz gut gebrauchen und
findet es spannend zu beobachten, wie sich die Schüler
entwickeln. "Aber eine Perspektive für mich sehe ich hier
nicht."
Das sollte sie aber. Für Bundeswirtschaftsminister Wolfgang
Clement bieten "die Zusatzjobs Langzeitarbeitslosen die
Möglichkeit, wieder ins Arbeitsleben einzusteigen". Dem Bund
ist diese Maßnahme immerhin 6,35 Milliarden Euro wert. Im Zuge
der Hartz-IV-Reform hofft Clement auf 600.000 solcher - wie sie
offiziell heißen - "Arbeitsgelegenheiten mit
Mehraufwandsentschädigung" (MAE). Die Bundesagentur für
Arbeit in Nürnberg geht allerdings nur von 300.000 Jobs aus,
die in diesem Jahr entstehen könnten.
Unabhängig davon, wie viele es letzten Endes werden,
unterliegen Ein-Euro-Jobs mehr oder minder klaren Regeln. Sie
werden ausschließlich ALG-II-Empfängern angeboten; seit
Januar können Arbeitslose unter Androhung einer empfindlichen
Kürzung ihres Arbeitslosengeldes auch verpflichtet werden,
solch eine Arbeit zu übernehmen. Ein-Euro-Jobs dürfen
nicht länger als 30 Stunden pro Woche und höchstens sechs
bis neun Monate in Anspruch nehmen; die Arbeitslosen erhalten ein
bis zwei Euro pro Stunde. Die Anbieter der Stelle bekommen bis zu
500 Euro monatlich, wovon sie auch die MAE zahlen. Und:
Ein-Euro-Jobs müssen im öffentlichen Interesse,
gemeinnützig und zusätzlich sein, sie dürfen also
keine Stellen auf dem ersten Arbeitsmarkt verdrängen.
Genau hier fangen die Probleme an. Wer überprüft
eigentlich, ob die Zusatzjobs nicht doch reguläre Arbeit
ersetzen? Raimund Rügenberg von der Berliner Regionaldirektion
für Arbeit versichert, dass jeder Antrag von den
Arbeitsgemeinschaften (ARGEs) aus Arbeitsagenturen und Kommunen
geprüft wird, gesteht aber auch ein, dass der
tatsächliche Einsatz der Arbeitslosen vor Ort nicht
flächendeckend überwacht werden kann: "Wir müssen
uns da auf die Richtigkeit der Angaben verlassen."
Die 41-jährige spanische Künstlerin Chus L., wie Nanna
M. eine Ein-Euro-Jobberin im Medienprojekt für die Pankower
Schüler, will sich auf nichts verlassen. "Wir machen uns doch
selber Konkurrenz", meint sie. "Ich qualifiziere mich jetzt zwar
für eine neue Aufgabe, aber wenn die neun Monate vorbei sind,
wird ein anderer Ein-Euro-Jobber meine Arbeit weitermachen. Warum
sollte denn die Schule auch eine reguläre Stelle schaffen und
dafür viel mehr Geld ausgeben?" Würde ihre Arbeit von
Profis erledigt, kostete das nach Schätzung der Schauspielerin
Nanna 150 bis 200 Euro pro Stunde.
Unterstützung erhalten Nanna und Chus von Expertenseite.
Matthias Knuth, wissenschaftlicher Geschäftsführer im
Institut Arbeit und Technik Gelsenkirchen und Fachmann für
Beschäftigungspolitik, hält die Ein-Euro-Jobs für
nichts anderes als "eine Wiederauflage der gescheiterten
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) aus den 90er-Jahren - nur
mit anderen Entlohnungsmechanismen". Knuth: "Es ist doch
verrückt. Das Ganze soll der Integration dienen. Aber wie soll
denn Integration ohne reguläre Jobs funktionieren?"
Vergleichbar mit den Minijobs im Einzelhandel schaffe man
Positionen, die über einen längeren Prozess unverzichtbar
würden und die Entstehung regulärer Stellen verhinderten.
Er kann sich gut vorstellen, dass "gerade im sozialen Bereich aus
Finanzknappheit Stellen gestrichen werden, um sie dann nach einer
Schamfrist wieder mit Ein-Euro-Jobbern zu besetzen".
Ohnehin gelten die sozialen Dienste als geradezu
prädestiniert für Ein-Euro-Jobber. Im sozialen Bereich
wird mit einem Potenzial von 100.000 Jobs gerechnet. Allein die
Wohlfahrtsverbände wollen bundesweit 30.000 Zusatzjobs
anbieten - mit der Ausweitung des Freizeitangebots in Altenheimen,
mit der Hilfe bei Behördengängen für Behinderte, mit
der Förderung des Kulturverständnisses von Migranten, mit
mobiler Ernährungsberatung für Familien, mit
Unterstützung der Suppenküchen für Obdachlose und,
und, und. Die Einsatzmöglichkeiten der Ein-Euro-Jobber setzen
offenbar viel kreatives Potenzial frei.
Zum Beispiel bei Ruth Anhäusser. Die
Geschäftsführerin der Pfefferwerk Stadtkultur GmbH in
Berlin, Mitglied des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, sah
sich Mitte September vergangenen Jahres plötzlich damit
konfrontiert, innerhalb einer Woche ein Konzept für 50
Ein-Euro-Jobs vorzulegen. Herausgekommen ist dabei unter anderem
das Medienprojekt für die Pankower Gymnasiasten.
Anhäusser will, dass die Ein-Euro-Jobs in ihrem Unternehmen
mehr sind als reine "Arbeitsgelegenheiten", wie es im Amtsdeutsch
heißt. "Wir wollen eine dauerhafte Beschäftigung
schaffen." Aber wie? Die Geschäftsführerin stellt
ausschließlich Leute ein, die ins Team passen. Leute also, die
freiwillig herkommen und die hoch motiviert sind. Während des
neunmonatigen Ein-Euro-Jobs werden die Arbeitslosen
weiterqualifiziert, im Team verankert und persönlich betreut.
"Wir versuchen herauszubekommen, welche anderen Möglichkeiten
auf dem Arbeitsmarkt noch bestehen und vermitteln dann weiter."
Außerdem erhalten die Teilnehmer ein Zeugnis; und das Team
fragt ein halbes Jahr nach der Maßnahme nach, was aus den
Arbeitslosen geworden ist. Nicht jeder erhält die Chance, bei
Pfefferwerk einen Ein-Euro-Job zu bekommen. Aber wer es schafft -
davon geht Anhäusser aus -, hat später bessere
Chancen.
Also lieber Klasse statt Masse beim Einsatz von
Langzeitarbeitslosen? Zugespitzt formuliert lautet so auch die
Empfehlung von Hermann Scherl, Professor an der
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Für den hessischen Landtag hat er ein Memorandum "für
einen überlegten Ausbau von ,Zusatzjobs'" verfasst. Er
verurteilt Ein-Euro-Jobs nicht in Bausch und Bogen, spricht aber
die "Gefahr politischer Kurzsichtigkeit" an. Seine Argumentation:
Die Politik könnte sich allzu schnell damit zufrieden geben,
mit den bis zu 600.000 Ein-Euro-Jobs die Arbeitslosenstatistik zu
schönen. Ein-Euro-Jobs tauchen nicht in der Statistik auf. Und
2006 sind Bundestagswahlen. Wer sich aber auf die Schaffung von
Stellen im so genannten dritten Arbeitsmarkt konzentriert, verliert
den ersten Arbeitsmarkt aus dem Blick. Dabei sind es doch gerade
die festen Stellen, in die die Langzeitarbeitslosen mit Hilfe der
Ein-Euro-Jobs zurückfinden sollen ...
Sendepause. Für die Schüler der Klasse 9.2 des
Carl-von-Ossietzky-Gymnasiums Pankow ist der Drehtag vorbei. Sie
wissen immer noch nicht, dass sie von Ein-Euro-Jobbern unterrichtet
worden sind. Nanna M., Chus L. und die anderen werden es ihnen auch
nicht sagen. Es ist den Arbeitslosen unangenehm zu erzählen,
dass sie für einen Euro oder 1,50 Euro die Stunde arbeiten.
"Man hält uns doch für bekloppt", glaubt Nanna. Das macht
sie wütend. Das - und die fehlende Aussicht auf "richtige
Arbeit".
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