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Karl-Otto Sattler
Eine polnische Perle für die verwirrte
deutsche Oma
Pflegekräfte aus Osteuropa
Sie kommen in Bussen, die quer durchs Saarland
touren und zielgenau an diversen Haltepunkten Station machen: Die
Polinnen steigen aus, klettern in wartende Autos und lassen sich
aufs Dorf oder in die Stadt kutschieren - wo sie für drei
Monate demenzkranke oder körperlich gebrechliche alte Leute
versorgen und pflegen. Danach sammelt ein Bus die Frauen wieder
ein, sie fahren in die Heimat, andere "Kolleginnen" rücken
für die nächste "Schicht" an.
Im Internet offeriert eine "examinierte
Krankenschwester" aus Polen ("gute Deutschkenntnisse") ihre Dienste
für einen Haushalt in Sachsen oder Brandenburg. Eine
Landsmännin verweist in ihrer Web-Annonce bei der Stellensuche
darauf, dass sie "klaine Deutsch sprechen". An der Mosel und in der
Eifel kursieren unter Verwandten und Bekannten Telefonnummern von
Polinnen wie auch von professionell arbeitenden
Vermittlungsagenturen, vorzugsweise im Raum Frankfurt, die jemanden
fürs Kochen, Bettenmachen und Einkaufen, fürs
Spazierengehen mit alten Leuten, fürs Legen von Verbänden
oder für die regelmäßige Verabreichung von
Medikamenten zur Hand haben. Zwischen Ostsee und Alpen geben auch
schon mal Ärzte Angehörigen einen Tipp. In Polen,
Tschechien, Ungarn, der Slowakei oder im Baltikum haben wiederum
Frauen unter sich Netzwerke geknüpft, um sich gegenseitig die
begehrten Jobs in Deutschland zu verschaffen - oder sie bedienen
sich eben effizienter Agenturen, die alles erledigen.
Einst brauchten die Helferinnen ein
dreimonatiges Touristenvisum für die Einreise, seit dem
EU-Beitritt der betreffenden Länder ist dies nicht mehr
erforderlich. Nötig ist eine Arbeitserlaubnis, eigentlich, nun
ja.
Osteuropäerinnen als Pflege- und
Haushaltskräfte bei deutschen Familien - diese Grauzone
gereicht beiden Seiten zum Vorteil: Die Frauen erhalten in der
Regel 850 Euro im Monat, hinzu kommen freie Kost und Logis - und
850 Euro bedeuten in der Heimat ein Mehrfaches an Kaufkraft.
Für Deutsche ist die Beschäftigung einer Litauerin oder
Ungarin oft die einzige Möglichkeit für eine
häusliche Rund-um-die-Uhr-Betreuung der kränkelnden
Eltern: Mit den Zuschüssen der Pflegekassen lassen sich
professionelle ambulante Dienste nicht bezahlen, und aus eigener
Tasche können sich Durchschnittsverdiener diese enormen
Aufwendungen ebenfalls nicht leisten. Die Verlegung älterer
Menschen ins Heim würde viel Geld kosten, und die meisten
Pflegebedürftigen bleiben auch lieber in den gewohnten vier
Wänden.
Es wäre nicht verwunderlich, würde
sich Werner Ballhausen über diese Zustände empören.
Ist es nicht so, dass Europa, dass die EU-Billigkonkurrenz ins Land
schwemmt, dass dies bei sozialen Diensten
und augenfällig bei der ambulanten
Pflege zu dramatischen Verwerfungen mit inzwischen 40.000
arbeitslosen Pflegekräften führt, dass viele hiesige
Anbieter um die Existenz kämpfen oder Pleite gehen? Doch der
Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien
Wohlfahrtspflege, der die großen Sozialverbände
angehören, bleibt in seinem Berliner Büro recht gelassen.
Ballhausen rückt den Blickwinkel zurecht: "Nicht die EU und
auch nicht die EU-Ausdehnung schaffen die Probleme. Die
Öffnung der Grenzen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat
dafür gesorgt, dass die Menschen beweglich wurden und sich
Arbeit suchen". Die EU-Osterweiterung, betont Ballhausen, "bietet
die Chance, diese Dinge rechtlich zu regeln".
Dringender Handlungsbedarf ist
unübersehbar. Über die Zahl osteuropäischer
Helferinnen kursieren nur Schätzungen, von bundesweit bis zu
60.000 ist die Rede. Ballhausen: "Seriöse Daten gibt es nicht,
aber 60.000 ist zu niedrig gegriffen". Ambulante Dienste kämen
"kaum noch in den Markt der häuslichen Pflege", es gebe ein
"spürbares Absterben" bei diesen Unternehmen.
In einem Brandbrief an die Wiesbadener
Sozialministerin Silke Lautenschläger lässt eine
"Initiative ambulanter und stationärer Pflegeeinrichtungen in
Hessen" die Alarmglocken schrillen: Immer mehr reguläre
Arbeitsplätze gingen verloren, "weil sie gegenüber einer
sich etablierenden Schwarzarbeit nicht konkurrenzfähig sind",
wo "Dumping-Löhne" gezahlt würden. In der Altenpflege
"drohen gewachsene Strukturen zusammenzubrechen", es seien bereits
Insolvenzen zu beklagen, so Sprecher Jochen Rindfleisch-Jantzon.
Die Initiative fordert die Ministerin auf, "der unkontrollierten
Billigpflege durch osteuropäische Hilfskräfte" einen
Riegel vorzuschieben.
Pflegeeinrichtungen warnen, dass die
"Amateure" aus dem Osten mangels Qualifikation die Betreuung alter
Leute nicht angemessen wahrnehmen und deshalb Probleme wie etwa
Wundliegen auftauchen könnten. Auch bei dieser Frage zeigt
sich Werner Ballhausen gelassen: "Die Polinnen arbeiten
hervorragend, die sind hoch motiviert". In der Grauzone sind diese
Frauen in der Tat darauf angewiesen, ihre "Arbeitgeber" zufrieden
zu stellen und so eine "Kündigung" zu vermeiden. Im
Übrigen, ergänzt Ballhausen, dürfe man die
Tätigkeit der Osteuropäerinnen nicht an der Leistung
professioneller Dienste messen, sondern müsse dies mit dem
Engagement von Familienangehörigen vergleichen.
Werde die Pflege der Eltern medizinisch
komplizierter, könne man ja für einzelne Handreichungen
zusätzlich Profis heranziehen. Und wenn es ganz ernst werde,
existiere immer noch das Heim. Der massenhafte Einsatz
preisgünstiger Osteuropäerinnen im ambulanten Sektor
könnte im stationären Bereich eine ohnehin zu
beobachtende Tendenz verstärken: In solchen Institutionen
landen zusehends nur noch Schwerstfälle, gelegentlich ist
schon das Wort von "Sterbeheimen" zu hören. Ballhausen: "Das
Heim kommt erst dann ins Spiel, wenn es gar nicht mehr anders
geht". Bei Pflegeeinrichtungen kursiert bereits die
Befürchtung, dass Heimplätze nicht mehr belegt werden
können - eben weil das die Polin zu Hause billiger erledigt.
Diese Sorge teilt Ballhausen nicht: "Meist haben wir immer noch
lange Wartezeiten". Allerdings verändere sich das Klima in
Heimen: "Früher hatten wir zum Beispiel viele Kulturkreise,
dazu sind die meisten Bewohner mittlerweile nicht mehr
fähig."
Erst am Anfang steht eine andere Entwicklung:
Deutsche Träger eröffnen Pflegeheime im EU-Ausland. Die
Kassen zahlen jedenfalls jenseits der Grenze ihre Zuschüsse
nach den hierzulande geltenden Kriterien, wie eine Sprecherin der
DAK erläutert. So unterhält die Diakonie bereits zwei
Häuser in Spanien, eines auf Mallorca, eines auf dem Festland:
In diese Heime können auch Einheimische ziehen, in erster
Linie sind sie indes gedacht für Deutsche, die schon
länger als "Residenten" auf der iberischen Halbinsel leben und
auch im Pflegefall dort bleiben möchten. Oder am Bosporus
managen inländische und deutsche Betreiber gemeinsam ein Heim
für Türken, die nach ihrer Berufsphase in der
Bundesrepublik zurückgekehrt sind.
Als Generalsekretär von Eurodiaconia,
der europäischen Vertretung nationaler evangelischer
Sozialverbände, schätzt Albert Brandstätter, dass
sich in attraktiven Regionen wie Spanien oder den Masuren ein
gewisser internationaler Markt auftun könnte - mit gut
betuchten Zielgruppen wie etwa den Schweden, die sich in
großer Zahl in Spanien niedergelassen haben.
"Keine große Zukunft" gibt der
Österreicher indes immer mal wieder diskutierten Ideen, in
billigen EU-Ländern wie etwa Tschechien oder Polen Pflegeheime
zu gründen - die dann zum Beispiel für Deutsche eher
erschwinglich wären als zu Hause. Brandstätter: "Ich bin
skeptisch, ob jemand im Alter und dann noch als
Pflegebedürftiger in die Fremde umsiedelt." So sieht es auch
Manfred Carrier vom deutschen Diakonie-Bundesverband, dem bei einem
solchen Gedanken "die Haare zu Berge stehen": Es sei "ethisch nicht
vertretbar", solche Menschen ins Ausland zu verlagern, "die Leute
wären doch völlig isoliert". Die Wohlfahrtspflege
orientiere sich an der wohnortnahen Betreuung auch bei einer
Heimunterbringung.
In erster Linie macht sich die Öffnung
der Grenzen bislang bei ambulanten Pflegediensten bemerkbar. Werner
Ballhausen kann sich vorstellen, dass sich eines Tages auch bei der
Betreuung Behinderter osteuropäische Kräfte tummeln.
Voraussetzung wäre allerdings, dass sich das zurzeit noch in
Modellprojekten getestete "persönliche Budget" durchsetzen
sollte: Der Behinderte erhält eine gewisse Summe an Geld, mit
dem er sich "auf dem Markt" Versorgungsleistungen "einkauft" - und
dann könnten Polinnen oder Tschechinnen billiger als deutsche
Anbieter sein, so wie jetzt bei der Pflege.
Die von Ballhausen erhoffte Regelung
grenzübergreifender Grauzonen mit Hilfe der Politik
dürfte noch eine Weile auf sich warten lassen. Nach dem neuen
deutschen Zuwanderungsgesetz können Osteuropäerinnen
unter bestimmten Bedingungen eine offizielle Arbeitsgenehmigung als
Haushaltshilfe in Familien mit Pflegebedürftigen erhalten -
das soll nicht für Pflegetätigkeiten gelten, doch im
Alltag dürfte genau das stattfinden, nun eben in einer Art
Halblegalität.
Protest in der Pflegebranche löst die
zurzeit in Brüssel diskutierte Dienstleistungsrichtlinie aus,
die EU-weit für diesen Sektor und damit auch für soziale
Dienste eine rechtliche Basis schaffen soll. Dieses noch nicht
verabschiedete EU-Gesetz proklamiert das "Herkunftslandprinzip":
Nach dem Willen der Brüsseler Kommission würden Anbieter
etwa aus Tschechien, Polen oder dem Baltikum in der Bundesrepublik
ambulante Pflegedienste nach Regeln offerieren können, die in
ihrer Heimat gelten - wo die Löhne niedriger sind, andere
Normen bei der Betreuung alter Leute praktiziert werden und sich
auch die Aufsicht nicht so abspielt wie in Deutschland.
Massive Kritik an der EU-Richtlinie übt
der Deutsche Verein für öffentliche und private
Fürsorge: Hiesige Qualitätsstandards könnten
"erodieren und sich verschlechtern". Bei der Pflege müssten
die einzelnen Staaten, verlangt der Verband, für ihr
Territorium souverän das Leistungsniveau festlegen, das die
Anbieter zu erbringen haben. Stephanie Scholz vom Diakonischen Werk
sieht die deutsche Pflegeaufsicht in Form des Medizinischen
Dienstes in Gefahr, nirgendwo sonst in der EU existierten so
präzise Regeln wie in der Bundesrepublik. Scholz warnt zudem
vor der "drohenden Erschütterung des nationalen Lohn- und
Tarifgefüges": Anders als im Bausektor würden die
sozialen Dienste nicht vor Lohndumping geschützt.
Der Streit um die EU-Richtlinie
beschäftigt jenseits öffentlicher Wahrnehmung bisher
vorwiegend die Fachwelt. Zu den wenigen Politikern, die auf die
Barrikaden gehen, gehört die saarländische
SPD-Landtagsabgeordnete Isolde Ries. Für einen Landesparteitag
Anfang März hat sie einen Antrag eingebracht, der von der
EU-Kommission den Rückzug des Entwurfs und dessen
vollständige Überarbeitung verlangt. Die SPD-Politikerin
fürchtet "das Ende der öffentlichen Gesundheitsversorgung
in Deutschland", auf dem Prüfstand stehe das europäische
Sozialmodell. Die ambulante Pflege sei von der EU-Politik am
schlimmsten betroffen. Ries: "Zu der Schwarzarbeit der
Osteuropäerinnen holen wir uns noch die legale
Billigkonkurrenz ausländischer Dienste ins Land."
Das Übel an der Wurzel packen lässt
sich aus Sicht Werner Ballhausens am ehesten durch eine bessere
finanzielle Ausstattung der Pflegekassen: Nur höhere
Leistungen für alte Menschen könnten in die Lage
versetzen, hiesige ambulante Dienste zu deren höheren Tarifen
zu beschäftigen. Seit Jahren seien die Pflegesätze nicht
einmal an die Inflation angepasst worden: "Wir müssen mehr
Geld in die Pflege geben."
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