Christel Steylaers
Emanzipation am Pflegebett
Frauen in den sozialen Diensten
Das Thema Pflege und Pflegeversicherung wurde im politischen
Raum bisher viel zu wenig unter geschlechtsspezifischer Sichtweise
betrachtet. Im Pflegebericht der Bundesregierung von 2003 gibt es
auf 230 Seiten ganze acht inhaltliche Textfundstellen für das
Wort "Frauen", Männer tauchen zweimal als Zivildienstleistende
auf. Zum Thema "Qualität der Pflege" wird gar nicht unter dem
Aspekt "Geschlecht" berichtet. Dieses mutet seltsam an angesichts
folgender Fakten:
- Seit dem Jahr 2000 besteht durch die Gemeinsame
Geschäftsordnung der Bundesministerien eine
Selbstverpflichtung zu Gender Mainstreaming.
- Der Frauenanteil an den rentenversicherungspflichtigen
Pflegepersonen beträgt 90 Prozent.
- In der gesetzlichen Pflegeversicherung beträgt der
Frauenanteil 76 Prozent an den stationär und 64 Prozent an den
ambulant Pflegebedürftigen.
Wenn man darüber spricht, stärker als bisher
häusliche Pflege zu propagieren, ist es zunächst
erforderlich, deren derzeitiges Ausmaß zu betrachten: 92
Prozent der Pflegebedürftigen werden laut Infratest
Sozialforschung (2002) privat in der Regel von
Familienangehörigen betreut. Die Familie wird somit zu Recht
als der größte Pflegedienst der Nation bezeichnet. Eine
Ausweitung scheint vor dem Hintergrund dieser Zahl sowie der
demografischen Entwicklung eher unrealistisch zu sein. Schon diesen
enorm hohen Prozentsatz zu halten, dürfte schwerlich
gelingen.
Wahrscheinlich wünscht sich jeder Mensch, in Würde
selbstbestimmt in der eigenen Wohnung altern und sterben zu
können. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies eintreffen wird, ist
für Männer deutlich höher als für Frauen: Die
Männer der jetzt höher betagten Generation sind
häufig mit einer jüngeren Partnerin verheiratet und
werden bei Notwendigkeit von dieser wahrscheinlich gepflegt werden.
So erklärt sich, dass ein großer Anteil der
Pflegepersonen selbst schon das sechzigste Lebensjahr
überschritten hat. Die ihren Ehemann überlebende Frau
wird hingegen auf die Pflege ihrer Angehörigen angewiesen
sein, so diese dazu in der Lage sind.
Von den derzeitigen Hauptpflegepersonen unter 60 Jahren mussten
- laut einer Expertise der Universität Dortmund zur
gesundheitlichen Situation von pflegenden Angehörigen in
Nordrhein-Westfalen (2003) - 25 Prozent ihre Erwerbstätigkeit
einschränken oder ganz aufgeben. Es muss stark bezweifelt
werden, dass Frauen zukünftig in größerem Umfang
dazu bereit sein werden.
Frauen der jüngeren Generationen haben eine weitaus
stärkere Erwerbsneigung als ihre Mütter: Haben sie doch
nach der Familienphase seit den 80er-Jahren an Programmen wie
"Neuer Start ab 35" und "Zurück in den Beruf" teilgenommen und
sich dann sehr bewusst für eine Erwerbstätigkeit
entschieden. Die ersten Teilnehmerinnen dieser Maßnahmen
stehen jetzt selbst bereits kurz vor dem Rentenalter. Noch
jüngere Frauen haben ihre Erwerbstätigkeit nur für
die Elternzeit unterbrochen. Der immer größer werdende
Anteil von kinderlosen Frauen weist sogar eine ununterbrochene
Erwerbsbiografie auf.
Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Die wichtigen gleichstellungspolitischen Maßnahmen der
letzten 25 Jahre zielten auf eine Verbesserung der Vereinbarkeit
von Beruf und Familie ab - auch wenn hier immer noch große
Defizite bestehen. Davon, dass reine Familientätigkeit zu
Altersarmut führt, muss man heute niemanden mehr
überzeugen.
Obwohl der Arbeitsmarkt nach wie vor stark geschlechtsspezifisch
segmentiert ist, haben sich Verschiebungen zu Gunsten von Frauen
ergeben: Die Ausweitung des Dienstleistungssektors führte auch
zu einer Ausweitung des von Frauen in Anspruch genommenen
Arbeitsplatzpotenzials, auch wenn es sich überwiegend um
Teilzeitarbeitsplätze handelt (eine Problematik, auf die an
dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann).
Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik und in jüngster Zeit auch
Familienpolitik zielten also auf eine Erhöhung des
Erwerbspotenzials von Frauen ab. Pflege in noch größerem
Umfang als bisher in die Familien verlagern zu wollen, würde
einen gesellschaftlich auch im europäischen Kontext kaum
darzustellenden Paradigmenwechsel voraussetzen.
Doch nicht nur auf die Erwerbstätigkeit hat die
häusliche Pflegetätigkeit starke Auswirkungen: Eigene
Bedürfnisse müssen ständig zurückgestellt
werden mit negativen Folgen zum Beispiel für die Gesundheit.
Emanzipatorische Bestrebungen der letzten 25 Jahre zielten darauf
ab, selbstbestimmt leben und freie Entscheidungen treffen zu
können. Die Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen
stellt diese Lebenskonzeption wieder völlig auf den Kopf.
Gleichzeitig hat die Heimpflege ein schlechtes Image, obwohl sie
strengen Auflagen und Qualitätskontrollen unterliegt.
Angehörige, die sich um die Pflegebedürftigen nicht
(mehr) hauptverantwortlich kümmern können oder wollen,
sehen sich den Vorwürfen ihrer Umwelt ausgesetzt, die
Angehörigen "ins Heim abzuschieben". Dies fällt
insbesondere Frauen schwer und sie stehen unter einem weitaus
größeren Rechtfertigungsdruck als Männer, da von
ihnen erwartet wird, dass sie als Ehefrauen, Töchter und
Schwiegertöchter die Pflegeaufgaben übernehmen. Nur ein
verschwindend geringer Prozentsatz der Pflegepersonen unter 60
Jahren ist männlich. Männer delegieren die Pflege an ihre
Ehefrauen oder Schwestern und haben anscheinend keine Probleme
damit.
Die sich ergebende Frage "Gäbe es negative Folgen für
die Emanzipation von Frauen bei einer stärkeren
Inanspruchnahme häuslicher Pflege?" lässt sich eindeutig
bejahen. Es gibt viel zu wenig
Unterstützungsmöglichkeiten bei der Vereinbarkeit von
Beruf und Pflege, es gibt eindeutige
Zuständigkeitszuschreibungen an Frauen und es gibt zu wenige
Hilfsangebote für Pflegepersonen, was sich beispielsweise auch
im tabuisierten Bereich der häuslichen Gewalt in Bezug auf die
Pflege ausdrückt.
Unsere Gesellschaft hat einen Weg zur stärkeren
Individualisierung beschritten. Diesen Weg gehen viele Frauen heute
auch: Sie bleiben selbst kinderlos und stehen für eine
Pflegetätigkeit in Zukunft kaum mehr zur Verfügung. Ein
Mehr an häuslicher Pflegetätigkeit zu fordern, bedeutet,
den derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess für
Frauen und Männer verändern zu müssen. Eine
Gesellschaft kann nicht einerseits individualisiertes,
wirtschaftsorientiertes, effizientes Handeln belohnen und
fördern und andererseits die Auflösung der
Familienstrukturen beklagen. Daher müssen Anforderungen an
eine geschlechtergerechte Pflegepolitik gestellt werden, die den
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung tragen. Die Tatsache,
dass Frauen überwiegend pflegen, wird sich kaum kurzfristig
ändern lassen. Ändern lässt sich jedoch, diese
Tatsache als gegeben hinzunehmen und dem nicht entgegen zu
wirken.
Altenpflegeberufe haben das Image, hart, nervenaufreibend und
schmutzig bei schlechter Bezahlung und ungünstigen
Arbeitszeiten zu sein. Diese Berufe müssen eine
gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Gegenwärtig passiert
allerdings das Gegenteil: Mit der Einrichtung der so genannten
Ein-Euro-Jobs im Bereich der Pflege wird suggeriert,
(menschenwürdige) Pflege ließe sich von ungelernten
Kräften mit möglicherweise geringer psychischer
Belastbarkeit für einen Minilohn verrichten.
Auch Männer müssen ihren Anteil an der häuslichen
Pflege ihrer Eltern, Schwiegereltern oder Großeltern
übernehmen. Das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie
umfasst nicht nur die Kinderbetreuung, sondern auch eine Ausweitung
von Angeboten der Tagespflege.
Ebenso wichtig ist es, dass alternde Menschen sich
frühzeitig Gedanken über eine mögliche
Pflegebedürftigkeit machen. Sie können nicht
selbstverständlich davon ausgehen, dass sie in der Familie
gepflegt werden. Neue Wohnformen im Alter könnten entstehen,
damit auch neuartige Dienstleistungen und neuartige
Arbeitsplätze.
Die Heimpflege muss entstigmatisiert werden: Qualitativ
hochwertige Pflege durch gut ausgebildetes weibliches und
männliches Personal kommt den Bedürfnissen von Menschen,
die möglicherweise lange vor ihrer Pflegebedürftigkeit
allein gelebt haben, sehr viel mehr entgegen als eine entfremdete,
überforderte Familie.
Die Pflegeversicherung berücksichtigte bei ihrer
Einrichtung keine Geschlechtsspezifika. Man versäumte es, sich
zu fragen: "Wem nutzt die Pflegeversicherung?" und orientierte sich
am durchschnittlichen männlichen Erwerbstätigen. Die
meisten Frauen verfügen jedoch über so geringe
Renteneinkünfte, dass sie (auch) bei Pflegebedürftigkeit
auf Sozialhilfe beziehungsweise Grundsicherung angewiesen sind. Den
Betroffenen bleibt es nicht erspart, als
"Taschengeldempfängerinnen" ihren Lebensabend zu fristen. Doch
genau dies sollte eigentlich mit der Einführung der
Pflegeversicherung verhindert werden. Die Leistungen der
Pflegeversicherung dienen in diesen Fällen lediglich dazu, den
Kommunen Kosten zu ersparen oder den Angehörigen das Erbe zu
sichern.
Wir wissen heute, dass diese Versicherung, will man sie nicht
kollabieren lassen, schon wieder reformiert werden muss. Dabei
müssen alle Konzepte dazu, wie Pflegebedürftige leben,
gleichermaßen gefördert werden. Vor allem aber muss sie
sich an der unterschiedlichen Lebenssituation von Frauen und
Männern orientieren.
Die Autorin ist Diplom-Politologin und Sprecherin der
Bundesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros und
Gleichstellungsstellen.
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