Hans-Eckehard Bahr
Entgegen allen Vorurteilen: soziales Handeln
lässt sich erlernen
Plädoyer für einen verpflichtenden
europäischen Aufbaudienst
Thea Bauriedl, Leiterin des Instituts für politische
Psychoanalyse München, berichtet von einem beispielhaften
Experiment aus Berlin. Dort hatte eine junge Sozialarbeiterin
Jugendliche dazu bewegen können, Medikamente für
Weißrussland zu sammeln. Die Aktion wurde durch
rechtsorientierte arbeitslose Jugendliche gestört. Deren
Parole: Man müsse den Russen in ihrem Land helfen, damit "sie
nicht auch noch zu uns kommen". Die Sozialarbeiterin griff diese
Parole auf, schlug den aggressiven jungen Leuten vor, sie
könnten die Spenden nach Minsk fahren, einen Abenteuerkonvoi
riskieren. Das war das Stichwort. Die jungen Männer hatten
einen "Kick". Sie fuhren los, wurden in Minsk akzeptiert und
herumgereicht. Zurückgekommen, wurden sie auch im Berliner
Stadtteil positiv wahrgenommen - zum ersten Mal. Der Kommentar Thea
Bauriedls: "Wenn ein Mensch etwas Gutes getan hat, dann ist er viel
weniger gefährdet, gewalttätig zu werden."
Das Berliner Beispiel ist exotisch. Es enthält aber
zentrale Bedingungen jener politischen Beteiligung, die seit langem
von vielen Vertretern öffentlicher Instanzen gefordert wird.
Es ist obendrein auch ein Beispiel für ein neues
"staatsbürgerliches Engagement". Der wachsenden Verlassenheit
Jugendlicher begegnet man nicht mehr
beschäftigungstherapeutisch von oben und außen, sondern
durch Stimulierung von aktivierender Lebenslust,
Selbstständigkeit und spielerischer Gruppenzusammenarbeit.
Könnte das Beispiel der Reise Berlin-Minsk nicht eine Art
Mikro-Muster für einen großen, verpflichtenden
Aufbaudienst im alten Europa werden?
Wie könnte sich eine politische Motivation der jungen
Europäer entwickeln, die Ich-Entwicklung verbindet mit einem
Überlebensengagement für den eigenen Planeten? Meine
These: Nur im praktischen eigenen Erleben eines solchen
europäischen Aufbaudienstes.
Glücklicherweise liegen entsprechende Erfahrungen der
klassischen freiwilligen Friedensdienste wie die der "Aktion
Sühnezeichen" längst vor. Sie brauchen nur auf alle
jungen Bürger in der EU angewandt zu werden. Seit 1959 haben
schließlich Tausende von Jungen und Mädchen in den
Freiwilligendiensten eine solche Rekonstruktions-Arbeit schon
geleistet.
Bundeswehr oder internationale Sozialarbeit? Militärdienst
oder ein strikt ziviler Aufbaudienst, mit ökologischen und
sozialem Auftrag - ist das die neue Alternative? Mitnichten. Es
sollte im neuen Europa vielmehr mehrere Dienste geben,
nebeneinander und gleichberechtigt. Konkret sähe das Modell so
aus:
1. Die Bundeswehr wird zu einer gesamteuropäischen
Krisenpolizei (Berufsarmee anstelle der jetzigen
Wehrpflicht-Armee).
2. Mehrere neue gesamteuropäische Aufbaudienste, zivile,
ökologisch-soziale Überlebens-Dienste - obligatorisch
für Mädchen und Jungen in der Bundesrepublik Deutschland
und später auch in anderen Ländern der EU. Diese neuen
zivilen Friedensdienste träten nicht an die Stelle des
Militärs, sondern würden die bisherige Parallelität
von Bundeswehr und klassischem Zivildienst vielmehr ergänzen.
In einer späteren Phase würde der jetzige Zivildienst
dann aufgehen können in die europäischen Aufbaudienste,
jene neuen Dienste der Zukunft. Die jetzige Bundeswehr wird
gleichzeitig in eine hochprofessionelle Berufsarmee
umgewandelt.
Der neue europäische Sozial- und Aufbaudienst sollte
fünf verschiedene Arbeitsbereiche anbieten:
1. Sozialdienste: Alten- und Behindertenpflege, Arbeit in
Rettungswerken, Pflegeheimen, Jugendtreffs.
2. Umweltschutz-Dienste: Aufforsten, Begrünen, kommunale
und regionale Stadt-Ökologie-Planung, Kontrollieren von
Wassersystemen, Errichten von Natur-Parkzonen, Umwandlung von
industriellen Altlastzonen zu Kulturparks.
3. Technische Aufbaudienste: Pionier- und
Katastrophenschutzeinsatz, Wiederaufbau der noch nicht sanierten
Industriestädte, Gebäude-Sanierung, Errichten von
Kindertagesstätten, Mütter-Erholungsheimen,
Jugendzentren, Familienferienanlagen und anderen soziale
Zentren.
4. Entwicklungsdienst in Übersee: Sozialarbeit,
Erziehungshilfe, medizinische Prophylaxe, Landwirtschaft- und
Fischfangprojekte etcetera.
5. Bildungs- und Kulturdienste: Von der Kindergartenarbeit bis
zu kommunalen Kulturprogrammen für Arbeitslose, alternativen
Initiativen in der Bildungsarbeit mit Älteren.
Eine spezifische Berufsausbildung während der Dienstzeit
mit dem Ziel hoher Fachqualifizierung ist allerdings die
Voraussetzung der neuen Dienste, einer der wichtigsten Unterschiede
zum heutigen Zivildienst. So würde das Dilettantische
vermindert und das Professionelle ermöglicht werden.
Soziale Aufbaudienste dieser Art können natürlich nie
die hauptamtliche Sozialarbeit, geschweige denn die
öffentlichen Aufgaben der Pädagogik vom Vorschulbereich
bis zur Erwachsenenbildung ersetzen. Sie fungieren jedoch vielfach
längst als Kriseneingreifdienste, träten also zur
staatlichen Sozialpolitik als Hilfsdienste hinzu. Überdies
befördern sie die Zusammenarbeit zwischen Profis und Laien und
öffnen die althergebrachten Großinstitutionen in Richtung
zu mehr Selbsthilfe und Improvisation.
"Arbeit mit Menschen kann nicht verordnet werden", erklärt
der Deutsche Caritasverband. "Wir setzen auf Freiwilligkeit",
sekundiert das Diakonische Werk. Bundesfamilienministerin Renate
Schmidt (SPD), die FDP und die Grünen sagen, in seltener
Einigkeit: ohne uns. Hartnäckig wird dabei wiederholt, was die
pädagogische Erfahrung schon seit Jahren widerlegt hat, was
zahllose empirische Analysen längst eruiert haben: dass man
pro-soziale Haltung, ja sogar Empathie eben auch lernen kann.
Ein echter Friedens- und Sozialdienst kann nur mit ganzem
Herzen, also freiwillig, geleistet werden? Dieses Argument verkennt
den "two-step-flow of motivation", das Nacheinander zweier
Lernphasen. Schon in der Schule muss jedes Kind bekanntlich durch
staatlichen Zwang mitmachen. Dann aber kommt es darauf an, dass ein
junger Mensch Lust bekommt, in der Schulstunde von selbst
mitzumachen, die so genannte intrinsische Motivation
entwickelt.
Ein solches Prinzip des einladenden Zwanges kennen auch die
Zivildienstleistenden. Gerade sie beweisen Tag für Tag, dass
ein Höchstmaß an persönlicher Hilfsbereitschaft und
echter Zuwendung auch bei anfänglichem Dienstzwang
möglich sind.
Demgegenüber die klassischen, die freiwillig begonnenen
Dienste. Ihr Dilemma: Sie sprechen die bereits Hochmotivierten an,
nicht die 99-Prozent-Mehrzeit. Eliteprogramme für idealistisch
Engagierte - das Lieblingsprojekt der linken Aktiven in der
Nachkriegszeit und der heutigen Wohlfahrtsverbände. Sie
beharren noch immer auf dem längst brüchig gewordenen
Vorurteil, soziales Engagement könne nicht durch Pflicht
"kaputtgemacht" werden. Nun, die Möglichkeit für ein
besonderes freiwilliges Engagement wird in einer Welt, die von
Gewalt besessen ist, immer da sein müssen. Diese
Möglichkeit aber allein für die verschwindend kleine Zahl
der Hochmotivierten offen zu halten, liefe auf eine elitäre
Exklusivität hinaus. Heute ist die Zeit reif dafür, die
Erfahrung der klassischen Freiwilligendienste allen Bürgern
institutionell zugänglich zu machen, ihnen nicht länger
vorab schon die Lernfähigkeit abzusprechen.
Seit Jahren ist die Diskussion über Ziele und Methoden
schulischer Bildung in Deutschland belastet von der
ungeprüften These, die Generation der zwölf- bis
25-Jährigen sei immer selbstbezogener geworden. Von Ulrich
Becks Individualisierungs-These (1986) bis zur 14. Shell-Studie von
2002 und den Folgeuntersuchungen wird die Story von der wachsenden
Beziehungsunfähigkeit aufgetischt. Eine "Spaß"-Tendenz
sei dominant. Das Zerrbild einer Generation ohne Solidarität
und ohne politisches Interesse gilt als genereller Befund. Dieser
Karikatur vom Solidaritätsschwund in einer ganzen Generation
widersprechen aber neuartige Erfahrungen mit sozialem Lernen in
Schule und gesellschaftlichen Diensten.
Seit 1992 erproben die Freien Katholischen Schulen in
Baden-Württemberg ein breit angelegtes
fächerübergreifendes, verpflichtendes Sozialpraktikum.
Das Neue an diesem Programm ist die langfristige Zusammenarbeit
aller Unterrichtsfächer vor und nach dem drei bis
vierwöchigen Praktikum. Die Schüler werden mit extremen
Situationen konfrontiert, die im klassischen Unterricht zwar
besprochen, aber nie unmittelbar erlebt werden. Sie arbeiten auf
Pflegestationen, in sozialen Brennpunkten, mit schwer erziehbaren
Kindern, mit Demenzkranken oder in "sozial schwachen" Familien. Die
Auswertung der dabei gemachten Erfahrungen zeigt ein
überraschendes Resultat. Die Schüler verbuchen ihr
Sozialpraktikum für sich als unerwarteten persönlichen
Gewinn. Nur widerstrebend beginnen sie das Pflicht-Praktikum, um
dann umso begeisterter ihre Eindrücke zusammenzufassen:
"Wir wurden sofort voll akzeptiert. Die Pfleger im Hospital, die
Kindergärtnerinnen, die Sonderschullehrer, die haben mich
nicht erst mal argwöhnisch betrachtet. Ich wurde vom ersten
Tag an wie ein vollwertiges Mitglied im Arbeitsteam ernst genommen.
Und ich konnte dann auch, ich weiß nicht wie, das alles, was
ich gar nicht kannte."
"Diese Arbeit hat mir wahnsinnig Spaß gemacht. Immer mehr.
Ich war richtig dabei. Nein, nicht aus Mitleid; und überhaupt
nicht diese scheinheilige Ich-opfere-mich-Haltung. Es war einfach
toll, wie alle, ja, richtig zusammenspielten, gerade die
Alten."
"Seit langer Zeit zum ersten Mal das Gefühl, mal was
richtig Sinnvolles zu tun."
Die Erfahrung der Schüler zeigt, dass Jugendliche durchaus
zu sozialem Engagement bereit sind, wenn sie die Möglichkeit
dazu bekommen. Sie stellen fest, dass in erster Linie nicht
karitatives Mitleid gefragt ist, sondern
Einfühlungsvermögen, Freundlichkeit und Geduld. Soziales
Engagement und Lust-Erlebnis gehen hier Hand in Hand.
Ein Sozialpraktikum während der Schulzeit, ein Aufbaudienst
danach - schön und gut, aber warum verpflichtend? Millionen
junger Frauen und Männer umfasst ein Jahrgang der heute
18-Jährigen in der Europäischen Union. Die Hälfte
von ihnen wird vielleicht noch einen gesicherten Arbeitsplatz
bekommen, prognostizieren Ökonomiefachleute. Ein zweiter
Arbeitsmarkt außerhalb des Systems wird ihre vielleicht
einzige Chance sein. Dort aber werden unternehmerische Kompetenzen
gefragt sein, wie sie jeder in einem solchen Dienstjahr zwischen
Schule und Beruf ausbilden könnte.
Ein verpflichtender europäischer Aufbaudienst wäre
auch eine Gelegenheit zur Berufsfindung. Keiner der Millionen
Jungbürger in der EU weiß heute, ob man später vier
oder fünf Berufe haben wird oder überhaupt keinen mehr.
Jeder sollte deshalb ein Jahr lang Schlüssel-Qualifikationen
ausbilden müssen, technisch-instrumentelle ebenso wie
kommunikative, die helfen, selbständig zu überleben und
nicht der Demütigung staatlicher Almosen ausgesetzt zu
sein.
Prof. Dr. Hans-Eckehard Bahr ist Theologe und Politologe
(Forschungsprojekt "Jugendgewalt und Stadtfrieden" an der
Ruhr-Universität Bochum).
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