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Ulrike Baureithel
Wer sorgt für die Schwächsten?
Die sozialen Dienste zwischen Freiwilligkeit und
Kommerzialisierung
Die Diskussion über das Schicksal der
Wehrpflicht und des Zivildienstes hat auch die Zukunft der sozialen
Dienste in den Mittelpunkt gerückt. Vor dem Hintergrund der
demografischen Entwicklung, so fürchten Experten, sei die
Versorgung von hilfsbedürftigen Menschen nicht mehr
ausreichend gesichert. Auch der Rückzug der Kommunen aus der
Sicherstellung und die Kommerzialisierung der Dienste durch private
Anbieter setzen die traditionellen Träger unter Druck und
bedrohen das Qualifikationsniveau.
Vor ungefähr einem Jahr alarmierten
Sozial- und Wohlfahrtsverbände die deutsche
Öffentlichkeit über die erwarteten Folgen des zum 1.
Oktober 2004 geänderten Zivildienstes. Nicht nur die
Verkürzung der Dienstzeit von zehn auf neun Monate bereitete
den Trägern Sorge, sondern auch die aufgrund der
demografischen Entwicklung zurückgehende Zahl der derzeit noch
rund 90.000 Ersatzdienstleistenden; schon heute können 65.000
Plätze nicht mehr besetzt werden, und mancher Träger
zieht sich aus dem Zivildienstsystem zurück. Betroffen, so die
Verbände, seien insbesondere Schwerstbehinderte, deren
Rundumbetreuung vielerorts von Zivildienstleistenden
übernommen wird und von anderen Diensten nicht aufzufangen
ist. Die Lage könnte sich dramatisieren, sollte die derzeitige
Debatte um den Wehrdienst damit enden, dass die allgemeine
Wehrpflicht - und damit auch der Ersatzdienst - zugunsten einer
Berufs- beziehungsweise Freiwilligenarmee ganz entfällt. Seit
den 80er-Jahren wird deshalb in regelmäßigen
Abständen immer wieder einmal ein "soziales Pflichtjahr"
für Jugendliche eingefordert.
Die Zivildienstleistenden sind nur eine
kleine, besonders scharf umrissene Gruppe von Menschen, die in
unserer Gesellschaft dafür sorgen, dass Kinder betreut und
erzogen, Kranke und Alte gepflegt, Behinderte versorgt, Familien
begleitet, Hilfesuchende beraten, Straffällige wieder
eingegliedert und Opfer geschützt, kurz Menschen auf Hilfen
zurückgreifen können, die ihre jeweilige Lebenslage
erleichtern, die sie selbst aber nicht oder nur teilweise
finanzieren können. Die sozialen Dienste sind - neben den
Leistungen der Familien und der freiwillig Engagierten - der Kitt,
der eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Deshalb sind
sie auch Seismograf: Wenn die Versorgung von Kindern und Alten
nicht mehr sicher gestellt ist, wenn einerseits bislang unbezahlte
Leistungen nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten
organisiert und kommerzialisiert werden und andererseits bislang
professionelle Hilfe nur noch in Form ehrenamtlicher Tätigkeit
angeboten werden kann, dann ist dies ein Gradmesser dafür, was
einer Gesellschaft ihre schwächeren Teile wert sind und wie
viel soziale Arbeit sie sich leisten will.
Die beiden traditionellen Säulen der
Daseinsvorsorge - die kommunalen Dienste und der von
Sozialverbänden, freier Wohlfahrtspflege und Kirchen
abgedeckte "dritte Sektor" - erlebten in den letzten beiden
Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel. Der Staat und insbesondere
die Kommunen ziehen sich aus finanzpolitischen Gründen
zunehmend aus der direkten Anbieterposition zurück.
Ursprünglich kommunale soziale Dienste werden seit Jahren auf
andere Träger ausgelagert oder werden privatisiert: Das gilt
für Kitas ebenso wie für die sozialen Dienste der Justiz,
die Kommunen privatisieren Krankenhäuser und "outsourcen"
Beratungsstellen, ganz zu schweigen von der Altenpflege, in die,
seitdem die Pflegeversicherung eine gesicherte Finanzierung
verspricht, zunehmend auch private Dienstleister vorstoßen.
Dem Staat obliegt also nurmehr eine regulative Funktion - die
Feststellung eines Bedarfs, die Koordination der Anbieter und die
Sicherstellung bestimmter Qualitätsstandards. Die
Kommerzialisierung der Dienste macht auch vor der freien
Wohlfahrtspflege nicht Halt, die immer stärker unter Kosten-
und Effizienzdruck gerät. Seitdem kommerzielle Anbieter mit
den gemeinnützigen Trägern im Pflegeversicherungsgesetz
gleichgestellt sind, konkurrieren diese mit den Verbänden,
indem sie vergleichbare Leistungen billiger anbieten oder besseren
Service zu leisten versprechen. Die Sozialdienste entwickeln sich
zu einem expandierenden Marktsegment, auf dem Menschen nicht nur
Arbeit finden, sondern auf dem auch Gewinne zu machen
sind.
Unterstützung erfahren kommerzielle
Anbieter, die sich in Deutschland zahlenmäßig noch in
einer nachgeordneten Position befinden, von außen, seitens der
liberalen Wirtschaftspolitik der EU und der globalen
Umstrukturierungen des Dienstleistungssektors. Die im Januar 2004
vorgelegte, kontrovers diskutierte Dienstleistungs-Richtlinie des
EU-Wettbewerbskommissars Bolkestein erstreckt sich auch auf soziale
Dienstleistungen im grenzüberschreitenden Verkehr und
untersagt jegliche Beeinträchtigung oder steuerliche
Benachteiligung von Angeboten aus den Mitgliedsstaaten. Unter
anderem könnte dies das Ende der steuerlich privilegierten
Position gemeinnütziger Träger bedeuten. Besonders
umstritten ist, dass die rechtliche Kontrolle der Unternehmen beim
Herkunftsland liegt und Verstöße im Anbieterland nicht
oder nur in Ausnahmefällen verfolgt werden
können.
Konsequenzen für die nationalen Dienste
ergeben sich auch aus dem Abkommen über den internationalen
Handel mit Dienstleistungen (GATS). Der Vertrag sieht zwar
Ausnahmeregelungen für hoheitliche und nicht-kommerzielle
Dienstleistungen vor, doch scheint die Abgrenzung zwischen
wirtschaftlichem und nicht-wirtschaftlichem Handeln problematisch.
Als sicher gilt deshalb, dass gemeinnützige Träger
gezwungen sein werden, die wirtschaftlich profitablen Teile ihrer
Angebotspalette auszulagern.
Seitens der traditionellen Anbieter wird aber
nicht nur der ökonomische Wettbewerb gefürchtet, sondern
vor allem der damit einher gehende Druck auf das in den Jahrzehnten
nach dem Krieg mühsam erkämpfte Qualifikationsniveau im
sozialen Dienstleistungsbereich. Mit seiner Vielzahl von
Arbeitsformen - von professionalisierten, gut bezahlten Jobs bis
hin zu freiwilligen unbezahlten Tätigkeiten - ist hier die
Gefahr schleichender Entqualifizierung besonders
groß.
Noch zeichnet sich eher ein Ergänzungs-
beziehungsweise Ersetzungs- als ein Verdrängungswettbewerb ab:
Es werden also nicht qualifizierte zugunsten niedrig- oder
unqualifizierter Kräfte entlassen, sondern wegbrechende
Arbeitskräftepotentiale wie die Zivildienstleistenden
könnten von Mini-Jobbern oder ALG-II-Beziehern ersetzt werden.
Wie viele "Arbeitsgelegenheiten" nach Hartz IV entstehen werden,
ist heute noch nicht abzusehen. Die Verbände setzen dabei aber
explizit auf Freiwilligkeit und Qualifizierungsangebote, die den
Betroffenen die spätere Integration auf dem ersten
Arbeitsmarkt ermöglichen soll. Hierfür, so fordern sie,
sollen die 870 Millionen Euro, die der Staat derzeit für den
Zivildienst ausgibt, verwendet werden.
Darüber hinaus strebt die
Bundesregierung die Formalisierung des ehrenamtlichen
bürgerschaftlichen Engagements an, beispielsweise mit
Angeboten eines generationsübergreifenden
Freiwilligendienstes. Für diesen hat die Enquete-Kommission
"Impulse für die Zivilgesellschaft" im vergangenen Jahr
Vorschläge ausgearbeitet.
Die Nachfrage und Bereitschaft, sich sozial
zu engagieren, das zeigen alle einschlägigen Untersuchungen,
ist vielfach vorhanden und bei weitem nicht ausgeschöpft. An
die Politik richtet sich der Wunsch, hierfür attraktive
Rahmenbedingungen zu schaffen. Attraktiv im Sinne der Freiwilligen
heißt lokale, inhaltlich und zeitlich flexible Angebote mit
dem Akzent auf Freiwilligkeit und weitgehender
Gestaltungsmöglichkeit. Es fehlt nicht am Willen,
zivilgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, doch das
freiwillige Engagement darf nicht, wie Bundesfamilienministerin
Renate Schmidt betont, "zum Ausfallbürgen für den ersten
Arbeitsmarkt" werden.
Ulrike Baureithel ist Redakteurin der
Wochenzeitung "Freitag".
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