Andrea K. Riemer
National Interest - ein UN-Begriff?
Das Gewinnen des Friedens scheint komplizierter
als der Gewinn eines Krieges
Kaum ein Begriff wurde im Zusammenhang mit der
Diskussion um den Irakkrieg mehr strapaziert als jener der
nationalen Interessen. Den USA warf man vor, Machtgier und
hegemoniale Ambitionen unter dem Etikett der Absicherung nationaler
Interessen zu verstecken. Manche Kritiker konnten eine gewisse
Schadenfreude nicht verbergen, als die USA zur Kenntnis nehmen
mussten, dass das Gewinnen eines Krieges offenbar leichter ist als
das Gewinnen eines Friedens.
Im Rahmen der Flutkatastrophe in Asien
2004/2005 war von nationalen Interessen kaum die Rede. Vielmehr
ging es um Gemeinschaftsinteressen, um die Linderung von
großer Not und um Trost in emotional kaum vorstellbaren
menschlichen Dramen. Europa durfte endlich das tun, was es am
Besten kann - spenden und mitfühlen.
Man darf aber davon ausgehen, dass die
umfangreiche finanzielle Hilfe seitens europäischer Staaten
auch als eine Möglichkeit gesehen wird, sich für
künftige wirtschaftliche und politische Aktivitäten den
Platz in der ersten Reihe zu sichern. Das Notwendige kann mit dem
Nützlichen verbunden werden. Europa kann seinem Ruf als
saturierter, im Wohlstand versinkender, kriegsverweigernder
Kontinent entkommen, gleichzeitig Entschiedenheit beweisen und
Flagge zeigen. Europa tut dies anders, als dies die USA bislang
immer taten. Wesentlich ist, dass Europa konkrete Schritte setzt,
Interessen definiert und gegebenenfalls auch machtpolitische
Instrumente (wie zum Beispiel finanzielle Unterstützung)
einsetzt.
In der Politik gibt es kein karitatives
Engagement. Interessen und offizielle Verpflichtungen (als
Deck-mantel für nationale Interessen) sind die Triebfedern
für politisches Handeln. Bereits Max Weber meinte, dass
materielle und immaterielle Interessen die Handlung von Menschen
dominieren. Nationale Interessen sind der Kern geopolitischer und
gesamtstrategischer Interessen.
Das Beispiel Irak zeigt, dass, wenn alle
Möglichkeiten ausgeschöpft sind und die US-Interessen
substantiell gefährdet sind, man nationale Interessen auch mit
Waffengewalt durchzusetzen bereit ist. Dies ist der amerikanische
Weg, der sich vom europäischen Vorgehen erheblich
unterscheidet, wie sich 2002/2003 zeigte. Die Verstimmung in den
transatlantischen Beziehungen rührt auch aus unterschiedlichen
Zugängen zur Definition von nationalen Interessen
her.
Nationale Interessen finden sich in
Grundzügen bereits bei Machiavelli. Ihm ging es in seinen
Ausführungen um die Schaffung der Einheit Italiens und die
Befreiung von den Besatzungsmächten. Im Zentrum stand der
Fürst. Seine Ziele waren Machterreichung und Machterhalt. Dies
bedurfte eines klar abgesteck-ten Rahmens und rechtfertigte den
Einsatz von Gewalt, um die Interessen zu erreichen und
abzusichern.
Selbst höchste moralisch gerechtfertigte
Ziele können nur mit der entsprechenden Macht und dem Willen,
diese zu nutzen, erreicht werden. Staaten sind künstliche
Gebilde und somit amoralisch - im Gegensatz zu Menschen, die sowohl
eine Seele als auch Moral haben. Staaten haben kein "Nachleben in
einer himmlischen Welt"; Menschen hingegen haben - zumindest nach
der Religion - diese Möglichkeit. Ein kleiner Rest
mittelalterlicher Denker verblieb in der
Nationalen-Interessen-Debatte: Machiavellis Zutritt führte zu
einer Zurückdrängung idealistischer Ansätze, die auf
der jüdisch-biblischen Moral beruhten und von Thomas von Aquin
vertreten wurden.
Auch bei Thomas Hobbes finden sich weitere
Ideen, die die Konzeption der nationalen Interessen maßgeblich
beeinflussten. In einer Hobbes'schen Welt, in der Gewalt, Terror
und Anarchie herrschen, müsste man sich den rauen
Gepflogenheiten anpassen und nach den "Gesetzen des Dschungels"
verfahren. Hobbes hat unter dem Eindruck des
Dreißigjährigen Krieges im Kapitel 13 des Leviathan
festgehalten: "Die Zeit aber, in der kein Krieg herrscht,
heißt Frieden". Im Frieden werden allenfalls "faktische
Feindseligkeiten" eingestellt, die vom "Vorsatz" getrieben sind,
"Gewalt mit Gewalt zu vertreiben". Auch der Machtanalytiker Michel
Foucault bezeichnete Frieden als nachrangiges Phänomen. Er sei
nur eine andere "Form des Krieges".
Krieg, Frieden und nationale Interessen
wurden zu einem untrennbaren Netz verwoben. Im Regelfall verbindet
man heute die Durchsetzung nationaler Interessen mit einer hohen
Gewaltbereitschaft - aufgrund der historischen Erfahrung nicht ganz
zu Unrecht.
Clausewitz argumentierte hingegen, wohl unter
dem Einfluss seiner Erfahrungen im 19. Jahrhundert, dass Staaten
durch das Bedürfnis zu überleben und zu wachsen,
vorangetrieben werden. Das Konzept der Staatsräson
beeinflusste das europäische Denken maßgeblich und
prägte so die Wahrnehmung der nationalen Interessen ebenso wie
Bismarcks Realpolitik.
Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zur Wende.
Wohl unter dem Einfluss der Idealisten wurden nationale Interessen
moralisch-legalistisch definiert (zum Beispiel durch B. Woodrow
Wilson). Der Begriff erhielt eine positive Konnotation - offenbar
unter dem Eindruck der Stimmung "Nie wieder Krieg".
Nach der Zwischenkriegszeit, die von einem
starken Brain Drain aus Europa gekennzeichnet war, setzte sich der
Realismus in den amerikanischen Denkschulen und an den
Universitäten durch. Das Pendel konnte zur anderen Seite
ausschwingen, da die Ideen der Idealisten historisch belegbar
kläglich versagt hatten.
Das realistische Gedankenbild geht von der
Annahme aus, dass Politik auf objektiven Gesetzen basiert, die in
der menschlichen Natur verwurzelt sind und sich nicht
verändern. Seine These lautet: "Der Kern der Politik ist der
Kampf um Macht". Das Konzept des Interesses bleibt konsistent,
während sich Form und Natur der Macht eines Staates
verändern können. Das Verhalten des Staates wird vom
Kampf ums eigene Überleben bestimmt. Moral und ethische
Prinzipien finden nur auf der Individualebene
Berücksichtigung.
Nationale Interessen bedeuten in diesem
Verständnis die Gleichsetzung mit Macht im Sinne von power.
Nimmt man das Hobbes'sche Weltbild, auf das sich die Vertreter des
Realismus berufen, so geht man von einem Kampf der Staaten
untereinander aus, wobei das Überleben ("survival") im Zentrum
steht. Nationales Interesse ist damit nationales Überleben,
das die rational kalkulierte Ausübung von Macht
rechtfertigt.
Es ist bekannt, dass nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges das Ausbrechen neuer Konflikte in Europa nur
durch ein "Gleichgewicht des Schreckens" verhindert worden ist.
Schon die glaubhafte Androhung, den Feind notfalls mit einem
atomaren Gegenschlag zu vernichten, hat Krieg verhindernd und
Frieden erhaltend auf die beiden Großmächte und ihre
Satellitenstaaten in Europa gewirkt. Manche Autoren wie Paul
Wolfowitz, James Woolsey und Eliot Cohen nennen diese Phase den
Dritten Weltkrieg, den die USA durch Wettrüsten und
Eindämmung des kommunistischen Antagonisten gewonnen
hätten. Das nationale Interesse war nationales Überleben
in einem feindlichen Umfeld unter teilweise extremen Bedingungen,
die mit jenen des 30-jährigen Kriegs vergleichbar
sind.
In den 90er-Jahren kam es in den USA zu einer
Kehrtwende, die alles andere als eine "strategische Atempause" war.
Es begann ein Umdenkprozess, der die nationalen Interessen neu
beurteilte und definierte. Der "unipolare Moment" (Charles
Krauthammer) und die Erklärung des universellen Nationalismus
zur Staatsdoktrin gingen an den Europäern vorbei, da sie mit
sich selbst befasst waren.
Aus der Sicht der USA hat die Welt seit 1990
nur noch einen Pol. Eine einzige Supermacht erhebt sich über
den Rest der internationalen Gemeinschaft und gestaltet die Welt
nach ihren Interessen und Idealen.
Mitte der 90er-Jahre präsentierte Paul
Wolfowitz ein Papier, in dem künftige US-Außenpolitik in
ihren Grundzügen umrissen wird: Festschreibung der
US-Dominanz, Präemption als präventive Kriegsführung
und Regimewechsel als legitimes Mittel der Politik.
Dieser Neuorientierung ist von den meisten
anderen Staaten und Nationen lange Zeit keine große Bedeutung
beigemessen worden. Vor allem Europa reagierte auch dann nicht, als
die USA begannen, sukzessive aus internationalen Vereinbarungen,
Protokollen und Verträgen mit anderen Staaten oder
Organisationen auszusteigen. Die Bühne für "neue
nationale Interessen" - amerikanische Interessen - war
bereitet.
Der Schwerpunkt hatte sich nach Zentralasien,
in den Mittleren Osten und nach Fernost verschoben. Europa hatte
sich offenbar vom Lächeln Bill Clintons täuschen lassen.
Signale aus der Administration, die auf einen "Multilateralismus
à la carte" (Richard A. Haass) hindeuteten, wurden
überhört.
Bereits unter Bill Clinton machte in
Washington die Rede von der "indispensible nation" die Runde; schon
damals gab es eine Reihe an Beschwerden über die Arroganz und
Selbstüberschätzung des Hegemons und die harte Ausnutzung
seiner Machtposition; bereits 1996 war die Militärplanung der
USA auf der Grundannahme gebaut, dass man in der Lage sein
müsste, gleichzeitig zwei Kriege in verschiedenen Regionen der
Welt zu führen und zu gewinnen. Die Bush-Administration hat
dieser Politik neuen Schwung verliehen. Der 11. September 2001
hatte einen dramatischen Beschleunigereffekt für den
ausgeprägten Unilateralismus und die "neuen nationalen
Interessen".
Begründet wird dies mit einem
"Hobbes'schen Zustand": Die größte Bedrohung für die
Sicherheit der USA sind failed states. Sie gefährden die
Durchsetzung nationaler Interessen der USA. In jeder Ecke und in
jedem Winkel dieser Erde könnte der Feind lauern und mit
Massenvernichtungswaffen die Sicherheit des Landes bedrohen, an der
Heimatfront ebenso wie im Ausland, vor allem im Greater Middle
East.
Diese Kombination wird als
sicherheitsgefährdend wahrgenommen - und es gibt dafür
aus amerikanischer Sicht auch genügend Sachbeweise. Nationale
Interessen dienen als Argument, um sicherheitsrelevanten Aspekten
zum Durchbruch zu verhelfen. Dieser Weg hat die USA und das Konzept
des nationalen Interesses in die internationale Kritik gebracht,
weil es aufgrund der Negativbesetzung der Begriffe Macht,
Machtpolitik, Realpolitik und der missbräuchlichen Verwendung
des Konzeptes zu Konfrontationen "im Namen desselben" kam. Weil der
hohe Interpretationsspielraum durch den politischen
Entscheidungsträger das Konzept überflexibel werden
ließ und so mit zu einer missbräuchlichen Verwendung
beitrug, die Eingebundenheit von politischen Entscheidungen in
einen so genannten "größeren Kontext" nicht ausreichend
berücksichtigt werden kann. Zum Beispiel wird ein politischer
Machtwechsel kaum mit einem "sauberen Schnitt" vollzogen; vielmehr
"erbt" der Entscheidungsträger die Ausgangssituation von
seinem Vorgänger; dies kam sehr deutlich in den diversen
Hearings vor der 9/11-Commission des US-Congress heraus. Der
Begriff des "National Interest" in Bezug auf die USA findet sich
seit 1776 in zahlreichen Aufsätzen und Büchern. Der
spezifische amerikanische "National Interest" ist durch eine
Fülle an Faktoren geprägt, die sich nur bedingt auf
europäische Verhältnisse umlegen lassen.
Würde man ausschließlich den
US-Ansatz zum Nationalen Interesse auf andere Staaten anzuwenden
versuchen, so würde man einen quasi-historizistischen Weg
wählen. Die Individualität und das Situative würden
nicht ausreichend oder gar nicht Berücksichtigung finden.
Dennoch bietet eine Analyse des "US-National Interest" einen von
mehreren möglichen Wegen, vielleicht sogar eine Art Ideal-
oder Maximalvariante, wie man den Begriff definieren kann. Einen
Definitionsversuch startet man günstigerweise mit eine Reihe
von Fragen, die einander bedingen und beeinflussen.
Daraus ergeben sich Einflüsse aus den
Bereichen der Ideologie, des globalen Systems, der
öffentlichen Meinung, der Meinung von Eliten, den
Massenmedien. Abrundend wirkt auch das systeminhärente
Beharrungsvermögen der Politik auf die Festlegung des
Nationalen Interesses ein. Es bleiben die Fragen:
- Welches sind vitale Interessen, welche
weniger wesentliche Interessen?
- Wie kann man sich über diese vitalen
Interessen ein klares Bild machen?
- Welche Methoden helfen dabei?
- Welchen Herausforderungen und welchen
Möglichkeiten wird der Staat in den kommenden zehn Jahren
gegenüber stehen?
Ein zu hoher Detaillierungsgrad ist nicht
sinnvoll, da es sich um ein Gesamtbild handelt, welches das
nationale Interesse ergibt.
Die Beantwortung der Frage, was Europa tun
kann, ist Grundbedingung, wenn sich der Kontinent auf der globalen
Bühne als ernstzunehmender Akteur positionieren will. Gerade
die nationale Fragmentierung von Interessen ist einer der
europäischen Schwachpunkte. Es geht daher darum,
europäische Interessen zu finden und sich darauf zu
verständigen. Dann wird man vielleicht in der Lage sein, eine
ernstzunehmende "europäische Grand Strategy" zu erarbeiten.
Diese kann als Grundlage für ein ernstzunehmendes Europa
dienen, bedingt aber auch, dass Europa sich selbst ernst nimmt. Um
in die richtige Richtung zu gelangen, bedarf es noch einiger
Korrekturen - vor allem aber eines gemeinsamen europäischen
politischen Willens, denn Interessenfestlegungen sind letztlich
Willensbekundungen. Daran mangelt es Europa - noch.
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