Gieri Cavelty
Handel und Wandel und Wilhelm Tell
Zwei Bücher zu Europa "mit einer Prise
Schweiz"
Außenpolitik bedeutet für die Schweiz seit jeher auch
und vor allem Außenwirtschaftspolitik. Wie hoch im Kurs dieser
"sacro egoismo" in Bern auch nach dem Schweizer UNO-Beitritt im
September 2002 ist, zeigt die 15 Monate später erfolgte Wahl
Christoph Blochers in die Landesregierung, den Bundesrat:
Während der 90er-Jahre hat der Pfarrerssohn als Politiker per
Beschwörung der angeblich gottgewollten Neutralität
maßgebend zur Abstinenz der Eidgenossenschaft von der EU
beigetragen. Gleichzeitig operierte er weltweit als
Chemieunternehmer; seine Familie zählt mit einem
geschätzten Vermögen zwischen zwei bis drei Milliarden
Schweizer Franken zu den reichsten des Landes. An Blocher gibt es
selbst dann kein Vorbei.
Jürg Altwegg widmet dem populistischen Justiz- und
Polizeiminister in seiner Anthologie mit Beiträgen von
Politikern, Intellektuellen, Diplomaten und einem Ballonfahrer
einen luziden Essay. Darin schildert der Schweizer
Kulturkorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Blocher
als eine Art Rattenfänger von Helvetien. Da die
Tellensöhne und -töchter kurz vor Ende des Kalten Krieges
an der Urne über Beibehalt oder Abschaffung der Armee befinden
mussten, seien sie nahezu kollektiv in eine Identitätskrise
gefallen. "Blocher war mit einem intakten Feind-, Welt- und
Schweizbild zur Stelle. Wie die marxistischen Intellektuellen der
frühen 68er-Jahre versteht er die Politik als Kulturkampf um
die geistige Hegemonie." Das aber habe nichts Positives bewirkt, im
Gegenteil: Der heutige Bundesrat präsentiere sich "als
unwürdiges, gespaltenes Kabinett, das nach jeder Abstimmung
als Verlierer dasteht".
Was aber sind Helvetias Leistungen und Möglichkeiten? Die
beiden Alt-Parlamentarierinnen Gret Haller und Lili Nabholz
reflektieren über ihre Tätigkeit als Troubleshooter in
zwei sehr verschieden gelagerten ethnischen Konflikten. Die
Sozialdemokratin Haller amtete zwischen 1996 und 2000 als
Ombudsfrau für Menschenrechte in Sarajevo. Das in ihrer Heimat
gepflegte Nebeneinander der Kulturen könne auf den Balkan
gewiss nicht unmittelbar übertragen werden. Allerdings habe
"ein Verweis auf die schweizerische Praxis" Einwände immer
sehr rasch zum Verstummen gebracht.
Als "Impuls gebendes Beispiel" lässt die freisinnige Lili
Nabholz "die schweizerische Art des Umgangs mit Minderheiten"
ebenfalls gelten. In ihrer Funktion als Berichterstatterin des
Europarates zur Sprachenfrage in Belgien ist sie indes zur Einsicht
gelangt, dass Schweizer Vorschläge in Westeuropa nur in dem
Fall Gehör finden, wenn diese sich ihrerseits an
europäischen Rahmenabkommen orientieren.
Anders die Erfahrungen von Bruno Kaufmann: Das
Gründungsmitglied des Bürgernetzwerkes "eurotopia" nimmt
für sich und seine Weggefährten in Anspruch, Europa um
"eine Prise Schweiz" bereichert zu haben. In seinem etwas
umständlichen Aufsatz schildert er die jahrelange Lobbyarbeit,
bis endlich ein unverbindliches Initiativrecht in den
EU-Verfassungsentwurf aufgenommen wurde.
Unverblühmt
Der Lausanner Psychiater Bertrand Piccard, der als erster Mensch
die Erde in einem Ballon umkreist hat, sieht Chancen einer
umwelttechnologischen Vorreiterrolle der Schweiz. Dagegen solle das
Land nicht dieselben Irrtümer begehen wie seine Nachbarn:
"Wenn man sieht, wie es in politischer Hinsicht um Europa steht,
kann man die Gegner eines EU-Beitritts verstehen. Und noch mehr
Verständnis muss man haben, wenn man an die wirtschaftlichen
Verhältnisse denkt. Viele Staaten Europas stehen am Rand des
Ruins. Es gibt für die Schweiz keinen Grund, sich an ihrem
Bankrott zu beteiligen."
In welchem Echoraum solche Worte überhaupt fallen
können, erfährt man in "Bilderkult und Bildersturm", dem
zentralen Text des jetzt auch im Softcover vorliegenden Buches "Die
tintenblauen Eidgenossen" mit Essays, Reden und
Schriftstellerportraits aus der Feder Peter von Matts. Der
emeritierte Zürcher Literaturprofessor ist ein origineller
Kopf und brillanter Stilist. Gute Geschichten, sagt er, "tauchen,
wie ein tüchtiger Seehund, meistens dort wieder auf, wo man
sie am wenigsten erwartet". Damit beschreibt von Matt gleichsam
seine eigene assoziative Art, die politische Geschichte der Schweiz
anhand literaturhistorischer Begebenheiten nachzuzeichnen.
Der eigentlicher Kern ist dabei der Mythos Wilhelm Tell. Seit
fünf Jahrhunderten schlage der Freiheitsheld die Schweizer
immer wieder in seinen Bann. Die "emotionalen Patrioten" berausche
er, eine Zielscheibe für Zorn und Spott sei er den "kritischen
Patrioten". Letztere hätten die Lüge helvetischer
Heroendiskurse zwar aufgezeigt, ihrer Wahrheit seien sie nicht
gewachsen gewesen. Die Vorstellung einer 700-jährigen
Erfolgsstory als tapfere Willensnation bilde daher nach wie vor
einen "realpolitischen Faktor von existenzieller Bedeutung".
Das Schweizbild von Christoph Blocher und Bertrand Piccard
bezeugt die anhaltende Wirkungsmacht der Gründungslegende.
Autoren wie Robert Walser, Max Frisch und nicht zuletzt Peter von
Matt zeigen umgekehrt, wie inspirierend der Tanz um den alten Tell
eben auch sein kann. Ihre Arbeiten über den Urner
Meisterschützen gehören mitunter zum besten, was Helvetia
der Welt zu bieten hat.
Jürg Altwegg (Hrsg.)
Helvetia im Außendienst.
Was Schweizer in der Welt bewegen.
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2004; 189 S., 15,90
Euro.
Peter von Matt
Die tintenblauen Eidgenossen.
Über die literarische und politische Schweiz.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004; 319 S.,
12,90 Euro.
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