Michael Edinger
Skandale in der Diktatur
Öffentliche Empörung im NS-Staat und
in der DDR
Skandale haben Konjunktur - das bezeugt nicht nur die
Boulevardpresse, sondern auch das gestiegene wissenschaftliche
Interesse. Der Blick ist dabei bislang durchweg auf westliche
Demokratien gerichtet gewesen. Nur in demokratischen Systemen
können Medien frei über Verfehlungen berichten. Nur hier
existiert eine autonome Öffentlichkeit, die als konstitutiv
für die Ingangsetzung der Dynamik von Missstand, Aufsehen und
Empörung gilt.
Mit dem vorliegenden Sammelband stellt Martin Sabrow diese
"conventional wisdom" in Frage. Skandale, so der Herausgeber in
seinem programmatischen Einführungsartikel, hat es auch in den
beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts gegeben. Da
Skandale ohne Öffentlichkeit ein Widerspruch in sich sind,
muss er allerdings einen "deskriptiven" Öffentlichkeitsbegriff
zu Grunde legen: Versteht man öffentliche Räume als die
Gesamtheit vom Regime nicht vollständig reglementierter
sozialer Kommunikation, so hat es im Nationalsozialismus wie auch
in der DDR verschiedene (Teil-)Öffentlichkeiten gegeben.
Sabrow unterscheidet drei Typen von Skandalen in der Diktatur:
inszenierte, affirmative und Fundamentalskandale. Inszenierter
Skandal meint die kontrollierte Erzeugung öffentlicher
Empörung durch die Herrschenden zum Zwecke der Machtsicherung
oder des Machtausbaus. Im Gegensatz dazu fordern die von "Unten"
initiierten Fundamentalskandale das bestehende Regime heraus und
nutzen dafür eine Gegenöffentlichkeit beziehungsweise
bauen diese auf. Affirmative Skandale schließlich zeichnen
sich dadurch aus, dass sie politische Missstände zwar
thematisieren, von einer Verantwortung des herrschenden Systems
jedoch gezielt ablenken. Mittels eines fingierten Konsenses
zwischen Regime und Bevölkerung wird die Empörung
stattdessen gegen einzelne Funktionsträger oder
innerparteiliche Gegner gerichtet.
Die Fallstudien des Sammelbandes, von denen fünf Skandale
während der NS-Herrschaft analysieren und die vier weiteren
sich auf Fälle öffentlicher Empörung im SED-Staat
beziehen, bieten Beispiele für alle drei Typen von Skandalen.
So veranschaulichen Susanne zur Nieden und Sven Reichardt, wie bei
der blutigen Entmachtung der SA-Führung 1934 die Ausschaltung
innerparteilicher Gegner geschickt zur Legitimierung des Regimes
genutzt wurde. Während die Ermordung Röhms und seiner
Gefolgsleute den Charakter einer Inszenierung trug, stellte der
Flug von Hitlers Stellvertreter Heß nach England 1941 das
Gegenteil dar: Er traf das NS-Regime gänzlich unvorbereitet
und hatte zugleich alle Ingredienzien eines Skandals. Armin Nolzen
dokumentiert in seinem Beitrag zum England-Flug, wie es dem
NS-Regime gelang, durch Verschweigen, Repression und kommunikative
Gegenoffensive den aufgezwungenen Skandal zu unterdrücken
beziehungsweise sogar in einen affirmativen umzuwandeln. Ein
seltenes Beispiel für einen Fundamentalskandal im
totalitären Staat analysiert Winfried Süß mit der
Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen gegen die
Euthanasie im Sommer 1941. Begünstigt durch eine
Legitimationskrise des Dritten Reiches und die Ablehnung
kirchenfeindlicher Maßnahmen in Teilen der Bevölkerung
trug der schnell inner- und außerhalb der Kirchen verbreitete
Protest nach Auffassung von Süß zur zeitweiligen
Aussetzung der Massentötung von Kranken bei.
Havemann und Biermann
Von den vier Beiträgen zur DDR thematisieren zwei
Skandalisierungsversuche, die gegen das System gerichtet waren: die
Herausforderung der SED durch Robert Havemann (Bernd Florath) sowie
ein Vergleich von Skandalen während der Hoch- und der
Spätphase der DDR (Martin Sabrow). Sabrow stellt den
Zusammenbruch des SED-Regimes dabei als eine spätestens mit
der Fälschung der Kommunalwahlen 1989 einsetzende Kette von
Skandalisierungen des real existierenden Sozialismus durch die
Gegenelite dar. Anders als noch 1976 bei der Selbstverbrennung des
Pfarrers Brüsewitz gelang es dem in seiner Legitimation
angeschlagenen Regime Ende der 80er-Jahre nicht mehr, der
öffentlichen Erregung propagandistisch zu begegnen.
Die große Bandbreite der untersuchten Skandale - darunter
auch der Sturz des Gauleiters Streicher 1940 (Christiane
Kuller/Axel Drecoll) und die Ausbürgerung Biermanns 1976
(Stefan Wolle) - unterstreicht zugleich ihre Verschiedenartigkeit.
Ob ein Missstand als solcher wahrgenommen und bekannt gemacht wird,
ob er dann zur Entrüstung in der Öffentlichkeit oder
einer Teilöffentlichkeit führt und ob die Skandalisierung
schließlich das System stabilisiert oder seine Legitimation
untergräbt - all dies hängt zumal in Diktaturen
entscheidend von den konkreten Rahmenbedingungen ab.
Martin Sabrow (Hrsg.)
Skandal und Diktatur.
Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der
DDR
Wallstein Verlag, Göttingen 2004; 269 S., 28,-
Euro
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