Hans-Martin Schönherr-Mann
Derrick - Symbol sittlicher Ordnung
Ein ehemaliger TV-Intendant plädiert
für mehr Fernsehverzicht
Vera Drombusch, Protagonistin einer der erfolgreichsten
deutschen Fernsehserien, ist aus ihrer Mitte herausgetreten. Sie
hat den Blick für das Ganze verloren. Die rechte Mitte als
eine alte Metapher der aristotelischen Ethik spiegelt sich heute im
Fernsehen: Denn Medium heißt Mitte; ergo stellen die Medien
die Mitte der Gesellschaft dar. Die Welt ist definitiv in Ordnung,
wenn der Mensch umgekehrt die Mitte der Medien ist.
Die Mitte zerfällt dagegen, wenn sich mit der
Kommerzialisierung die Geschmacklosigkeit ausbreitet, sich die
Medien nicht mehr auf den Menschen ausrichten. Bei solchen Thesen
handelt es sich nicht um das bekannte Lamento vom Wertezerfall.
Denn das Fernsehen und die moderne Mediengesellschaft werden von
Dieter Stolte durchaus verteidigt, der von 1982 bis 2002 Intendant
des ZDF war, heute Herausgeber der "Welt" und der "Berliner
Morgenpost" ist.
1950 startete das Fernsehen in Deutschland mit dem Monopol der
ARD. 1963 begann mit dem ZDF das öffentlich-rechtliche
Oligopol. 1984 entstand das duale System aus
öffentlich-rechtlichem und Privat-Fernsehen. Stolte hat als
ZDF-Intendant die Entwicklung des Privatfernsehens von Anfang an
begleitet. Das Buch erscheint folglich als eine Rechtfertigung der
eigenen Tätigkeit, wie es auch ein lebhaftes Plädoyer
für dieses duale System darstellt.
Moralische Perspektive
Natürlich spart Stolte nicht mit Kritik an der Konkurrenz.
Dabei wählt er vornehmlich die moralische Perspektive und
wirft den Programmmachern des Privatfernsehens eine
eingeschränkte und rein ökonomische Sicht vor. Fernsehen
trage aber eine totale Verantwortung, somit auch beispielsweise die
Verantwortung für ethische Tabubrüche. Es könne sich
daher nicht mit verändertem Moralverständnis der
Bürger entschuldigen.
Infotainment beschleunigt eine negative Entwicklung, wenn
dadurch die Grenzen zwischen Ernst und Spiel verschwimmen und der
Zuschauer die Authentizität des Lebens nicht mehr richtig zu
beurteilen vermag. Daher muss das Fernsehen seine Fernwirkungen
beachten. Stolte beruft sich hierbei auf Hans Jonas, der mit seinem
"Prinzip Verantwortung" 1979 eine Ethik für die technologische
Zivilisation entwarf. So fordert Stolte auch vom Zuschauer Verzicht
auf Medienkonsum. Es geht ihm darum, den ansonsten sich
einstellenden Wandel im Menschenbild zu verhindern.
Daher plädiert Stolte für den Erhalt des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks, weil dieser sich nicht am
Markt, sondern am Menschen und am Gemeinwohl orientiere. Die
Verantwortung eines ZDF-Intendanten gleiche der totalen
Verantwortung des Politikers. Natürlich dürften ZDF und
ARD nicht auf die Quote verzichten. Doch deren Ideal heiße
Quote durch Qualität. Dabei gehe es um geschmackvolle
Unterhaltung, die auch Haltung und Pflichtbewusstsein vermittele.
Derrick verkörpert in diesem Sinne die sittliche Ordnung.
Abgesehen davon, dass manches in diesem Buch etwas
schwarzweiß gemalt erscheint, drückt es vor allem die
Sehnsucht nach einer stabilen sittlichen Ordnung aus, die ein
Aristoteles vielleicht noch kannte, wenn der Mensch seine Mitte nur
findet, indem er maßvoll handelt. Spätere
Großgesellschaften, erst recht jene des 20. Jahrhunderts,
bieten dem Einzelnen solche Überschaubarkeit nicht mehr, so
dass sich das richtige Maß des jeweiligen individuellen
Handelns nur selten noch verallgemeinern läßt. Um so mehr
verwundert, dass just das Fernsehen zur Überschaubarkeit und
zur rechten Mitte beitragen soll, wenn es doch an deren
Auflösung beteiligt ist.
Beinahe staatsmännisch formuliert Stolte denn am Ende des
Buches zehn Imperative für das Fernsehen, um dem Wandel des
Menschenbildes zu widerstreiten. Trotz bedeutungsschwangerer
Anlehnung ans mosaische Vorbild geraten die neuen zehn
Fernseh-Gebote einerseits reichlich kompliziert und
unübersichtlich. Auf den jeweiligen Punkt gebracht klingen sie
eher banal: Kreativität wecken! Kultur pflegen!
Solidargemeinschaft stärken! Globalen Überblick
liefern! Orientierungshilfe leisten! Das müssen die Kollegen
von der privaten Konkurrenz nur noch beachten. Stolte sagt
jedenfalls, wo es in der Mediengesellschaft lang geht.
Dieter Stolte, in Zusammenarbeit mit Joachim Haubrich
Wie das Fernsehen das Menschenbild verändert.
Verlag C.H. Beck, München 2004; 204 S., 19.90
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