|
|
Robert Kaltenbrunner
Urbanität aus Wohlgefühl und
Lebensfreude
Die "europäische Stadt" und ihr
öffentlicher Raum
Als Georg Simmel 1903 schrieb, die Stadt sei
keine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern
eine soziale Tatsache, die sich räumlich formt, lebte nur ein
knappes Zehntel der Menschheit in Großstädten. Heute ist
es längst mehr als die Hälfte. Und mit der drastisch
zunehmenden Verstädterung sind - namentlich in der Dritten
Welt - auch die räumlichen Formen des Zusammenlebens immer
bizarrer und menschenfeindlicher geworden. Weil der globale Trend
zur Megalopolis, insbesondere die ihr zugeschriebenen Kennzeichen
(wie Segregation, Gewalt, Slums, Verkehrschaos) als Bedrohung
empfunden wird, stellt man ihm seit einiger Zeit die Tradition der
europäischen Stadt, gleichsam als positive Alternative,
entgegen. Das aber birgt auch die Gefahr einer gewissen
Idealisierung. Zwei Bücher befassen sich nun, auf je
unterschiedliche Weise, mit eben diesem Leitbild-Charakter.
Beim Stichwort "europäische Stadt" haben
wir in aller Regel historisch gewachsene, klar voneinander
abgegrenzte Zentren vor Augen. Straße, Platz oder Park sind
Orte des Austauschs, der zufälligen Begegnung, des
Kennenlernens von Andersartigem, hier spielt sich
gesellschaftliches Leben ab. Diese Orte haben damit eine wichtige
soziale Funktion Wenngleich sich empirisch nicht mit letzter
Sicherheitnachweisen lässt, welche Räume wie auf ihre
Nutzer wirken, so ist doch festzustellen, dass die Ausgestaltung
dieser Räume keineswegs ohne Einfluss auf die Art und Weise
der hier stattfindenden Prozesse ist.
Dass also ihre Plätze die
"lächelnden Augen" einer Stadt darstellen, ist eine so
eingängige wie zutreffende Metapher. Bleibt man im Bild, dann
wird man allerdings heute konstatieren müssen, dass viele
dieser "Augen" leider "blind" geworden sind: Ohne wahrnehmbaren
baulichen Rahmen, gefräst durch überbreite Straßen,
von Autos durchbraust oder zugeparkt, ungastlich und bar jeglicher
Aufenthaltsqualität: So offenbaren sich nicht nur hierzulande
viele Plätze.
Es geht auch anders, sagt der Bildband von
Frank Maier-Solgk und Andreas Greuter. Gezeigt werden gelungene,
attraktive Piazzas, wie man sie aus Italien kennt, - klare
räumliche Fassung, erkennbar historisch und gewachsen, mit
stupenden Aufenthaltsqualitäten. Auf suggestive Weise ruft der
Band damit ins Bewusstsein, was als unverzichtbarer Bestandteil der
städtischen Kultur mal vernachlässigt, mal in hypertrophe
Künstlichkeit gesteigert wird - den öffentlichen Raum
städtischer Plätze, seine Gestalt und Wirkung.
45 zumeist historische Beispiele werden hier
präsentiert, die - wie der Marktplatz in Hildesheim, die
Piazza dei Signori (Vicenza), der Bedford Square (London) oder der
Grote Markt (Antwerpen) - nicht nur, so der Untertitel,
"Mittelpunkte urbanen Lebens" sind, sondern exemplarisch für
eine Revitalisierung der ?res publica', die kulturelle Tradition
und sinnliche Gestaltung zu verweben weiß. Die raumbildende
und funktionelle Vielfalt solcher Plätze stellt etwas dar, das
zurückzuerobern sich lohnt und das ausweislich neuerer Anlagen
- etwa das Centre Pompidou (Paris) oder der Shouwburgplein
(Rotterdam) - auch schon gelungen ist. Obgleich oder gerade weil
hier auf theoretische Zusammenhänge verzichtet wird, vermag
dieses Buch Anschaulichkeit zu wahren und zu sensibilisieren
für eine Qualität des Stadtraums, die mehr ist als
geschönte Erinnerung. Darüber darf aber die politische
Diskussion über Wesen und Zukunft der europäischen Stadt
nicht vergessen werden.
Eben dies ist das Anliegen von Walter Siebel
ediertem Aufsatzband. Der Modellfall eines sozial ausgeglichenen,
kulturell integrierten und prosperierenden Gemeinwesens wird hier
gleichsam ins Kreuzverhör genommen - nicht in der Absicht, ihn
angesichts globalisierungsbedingter Tendenzen zu demontieren,
sondern um seine Tauglichkeit für die Zukunft zu bestimmen.
Gerade weil der "F.I.R.E.-Sektor (Finance, Insurance, Real Estate)
mit seinen Raum- und Statusbedürfnissen" (Peter Marcuse) die
Stadtzentren zu dominieren droht, braucht die Stadtpolitik eine
neue strategische Ausrichtung, die sich durchaus auf endogene
Potentiale stützen mag.
Für den renommierten Soziologen Siebel
ist die europäische Stadt die Keimzelle der westlichen
Moderne. Fünf Merkmale seien für sie grundlegend: (1.)
"Präsenz von Geschichte", also eine vormoderne Geschichte im
Alltag des Städters; (2.) "Stadt als Hoffnung", die
verkörperte Aussicht, sich aus beengten politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen befreien zu
können; (3.) "die Stadt als besonderer Ort", - eine
spezifische, eben urbane Lebensweise, geprägt durch die
Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit; (4.) der
physischen Gestalt in ihrer Überlieferung und Kontinuität
kommt ein symbolischer und identifikatorischer Wert zu; (5.) die
sozialstaatliche Regulierung, die ihre Lebensbedingungen
formen.
Die 33 Essays insgesamt machen deutlich, dass
die europäische Stadt kein Fundament für eine
Idealisierung bietet. Beispielsweise hatte sie insofern einen
ambivalenten Charakter, als sie eine ex post interpretierte Form
der Zivilgesellschaft darstellt, die immer noch auf ihre Herkunft
als "gebildete Bürgergesellschaft" zu verweisen scheint und
eine gewisse Exklusivität für sich beansprucht.
Gehörten doch zur genuin städtischen Tradition bewusst
die Ungleichheit sozialer Status- und Rechtspositionen, die
Ausgrenzung von beruflichen, ethnischen oder religiösen
Gruppen, die Bevormundung der "unterbürgerlichen" Gruppen oder
die strikte ökonomische Verregelung vom Marktrecht bis zur
Gewerbeordnung.
Der vielbeschworenen Integrationsmaschine
Stadt steht also ihr gleichzeitiges Exklusionskonzept
gegenüber. Nur von kultureller Seite her ließe sich ihre
eigentlich "europäische" Qualität bestimmen. Doch auch
damit ist es für Siebel nicht mehr weit her - greife doch der
Prozess der "Einhausung" und damit der Privatisierung über den
engen Bezirk der Wohnung und des Betriebes hinaus und erfasse immer
weitere noch im öffentlichen Raum verbliebene Funktionen.
Damit erodiert nicht nur die bisherige Differenz von
Öffentlichkeit und Privatheit, sondern das Idealbild selbst
wird massiv in Frage gestellt.
Wenn mit der "europäischen Stadt" nicht
bloß eine normative Orientierung gesucht, wenn die zentralen
Konstituenten dahinter erkannt und stabilisiert würden, dann
kann hierin auch ein neuer "Möglichkeitssinn"
liegen.
Freilich lässt sich aus dieser
Doppel-Lektüre keine eindeutige Botschaft ziehen; wohl aber
darf man sie mit einer literarischen Metapher illustrieren: Die
Stadt stellt Bühne wie Kulisse für ein Theaterstück
dar, das vom ökonomischen System verfasst, vom politischen
System inszeniert und von Schauspielern dargeboten wird, die urbane
Verhaltensweisen gelernt haben müssen. Wenn der
Stückeschreiber, der Regisseur und die Schauspieler schlecht
sind, dann macht auch das beste Bühnenbild daraus kein gutes
Theater. Und während das eine Buch sich auf die
Qualitäten des Bühnenbilds konzentriert, nimmt das andere
gleich das ganze Theater ins Visier.
Walter Siebel (Hrsg.)
Die europäische Stadt.
edition suhrkamp, Frankfurt/M. 2004; 480
S., 16,- Euro
Frank Maier-Solgk (Text) und Andreas Greuter
(Fotos)
Europäische
Stadtplätze.
Mittelpunkte urbanen
Lebens.
Deutsche Verlags-Anstalt, München
2004; 160 S., 86,- Euro
Zurück zur Übersicht
|