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Claudia Heine
Mit Rückenmassagen zum Lernerfolg
Das ambitionierte Projekt "fit for live" in
Schwerin versucht, Schüler wieder für das Lernen zu
gewinnen
Rechts neben der grünen Tafel hängt
ein kleiner Zettel mit einem Spruch von Albert Einstein an der
Wand: "Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu
können, muss man vor allem ein Schaf sein." Die sieben
Schüler der achten Klasse wollen genau das lernen: wie sie
wieder den Weg zurück in eine Gemeinschaft finden. Die
14-jährige Christiane sagt: "Eigentlich war ich seit der
zweiten Klasse nicht mehr regelmäßig in der Schule. Ich
hatte Angst vor meinen Klassenkameraden, die mich ständig
gehänselt und verprügelt haben. Aber jetzt ist alles
anders." Wie die meisten ihrer Mitschüler stammt auch sie aus
einem sozial schwierigen Elternhaus. Ihre Eltern sind geschieden,
der Stiefvater sitzt gerade im Gefängnis. Vor einem Jahr
wechselte das zierliche blonde Mädchen von ihrer normalen
Schule in die Schulwerkstatt "fit for live", ein Projekt, das sich
in Schwerin ausschließlich um so genannte Schulverweigerer der
Stadt kümmert.
Jetzt steht Biologie auf dem Stundenplan, und
Katharina Dutz, die Lehrerin, fragt: "Was würdest du an dir
verändern, wenn du könntest?" Christiane überlegt
nicht lange: "Ich hätte gern blaue Augen und nicht so einen
Mischmasch wie jetzt." Am Nebentisch bekommt Rüdiger, der sich
früher oft mit Mitschülern geprügelt hat, gerade
eine Rückenmassage von Sabine Gschwentas. Die
Sozialpädagogin ist zusammen mit der Lehrerin für die
Betreuung der Klasse verantwortlich. Finden die Jugendlichen solche
Massagen nicht seltsam? "Im Gegenteil. Sie brauchen diese
körperliche Nähe, und manchmal rutscht ihnen dann noch
ein ?Mama' heraus", sagt sie. Ihre Massagen lenken die Schüler
nicht vom Stoff ab, sondern sind Teil eines
verhaltenstherapeutischen Ansatzes, in dem emotionale Zuwendung,
Lob und Anerkennung entscheidend sind.
Seit 2002 bietet "fit for live" für
insgesamt 24 Schüler in den Klassenstufen fünf bis acht
einen solch speziellen Unterricht an. In dieser "Mini-Schule",
untergebracht in einem schmucklosen Wohncontainer-Gebäude
mitten in Schwerin, sollen sie wieder Spaß an der Schule und
am Lernen finden. "Wenn sie merken, dass wir sie als Person ernst
nehmen und nicht als Schüler XY betrachten, dann bleiben sie
auch", erklärt Katharina Dutz das Erfolgsgeheimnis. Jeweils
eine Lehrerin und eine Sozialpädagogin begleiten die
Schüler einer Klasse von der ersten bis zur letzten
Schulstunde des Tages. Auf diese Weise werden sie zu festen
Bezugspersonen, die den Schülern in der familiären
Umgebung oft fehlen. "Meine Mutter hat lange gar nicht gemerkt,
dass ich nicht mehr zur Schule gegangen bin", berichtet der
15-jährige Rüdiger. In der Schulwerkstatt paukt er nun
nicht das ganze versäumte Biologie-Wissen der vergangenen
Jahre. "Es geht nicht in erster Linie um Wissen, sondern um das
Erlernen sozialer Kompetenz, um Dinge wie
Konzentrationsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Erst wenn
diese Basis vorhanden ist, schieben wir das Wissen hinterher",
erläutert Sabine Gschwentas die Idee von "fit for
life".
Der Auftrag des von der Caritas getragenen
und vom Schulamt der Stadt mitfinanzierten Projektes ist klar:
Schüler, die bisher als Schulverweigerer galten, wieder in das
Regelschulsystem zu integrieren. Mit Zwang funktioniert das nicht,
alle Schüler sind freiwillig hier. Mittlerweile gibt es schon
eine Warteliste für die wenigen Plätze, von denen jeder
100 Euro am Tag kostet. "Entweder werden wir von der jeweiligen
Schule oder aber von der Jugendhilfe angesprochen. Danach reden wir
mit den Schülern, die sich nach einer Probezeit entscheiden
können, ob sie bleiben möchten", erläutert die
Leiterin der Schulwerkstatt, Sieglinde Weißmann, den Weg der
Schüler zu ihnen. Manche bleiben ein halbes Jahr, andere zwei
Jahre. Abhängig von ihren individuellen Fortschritten besuchen
sie nach einer gewissen Zeit wieder stundenweise den Unterricht
einer Regelschule. Nach einem Jahr sind es bei Christiane vier
Fächer, für die sie regelmäßig "pendelt". Weit
ist ihr Weg nicht, denn die Kooperationsschule von "fit for life"
liegt gleich auf dem Nachbargrundstück. "Durch diese enge
Zusammenarbeit ist es uns möglich, den Entwicklungsprozess der
Kinder weiter zu beobachten, auch wenn sie nicht mehr bei uns
sind", erklärt Weißmann.
In drei Sonderstunden pro Woche dürfen
die Schüler machen, was sie wollen, sich eine Stunde den
Rücken massieren lassen oder aber in der angeschlossenen
Tischlerwerkstatt mit den ebenfalls zum Team gehörenden zwei
Handwerkern von "fit vor life" arbeiten. Bei
Regelverstößen allerdings wird ihnen diese freie Zeit
genommen, denn auch das gehört zum Konzept: "Die Schüler
erleben hier einen ganz ritualisierten Tagesablauf mit festen
Regeln und Normen", so Katharina Dutz. Aberkannte Freistunden
begreifen die Lehrer daher nicht als Bestrafung, sondern als Teil
des Rituals. Nicht um persönliches Versagen geht es hier,
sondern darum, das eigene Verhalten zu reflektieren und positive
Schlüsse daraus zu ziehen. Ein Umstand, der im regulären
Schulbetrieb meistens zu kurz kommt. In der Diskussion um die
PISA-Studie wiesen Experten wiederholt darauf hin, dass Fehler von
Kindern und Jugendlichen zu selten positiv gewendet und konstruktiv
genutzt werden. Statt dessen werden sie von den Schülern als
Ausdruck eigenen Versagens interpretiert.
Neben Störungen im sozialen Umfeld oder
Angst vor Lehrern und Mitschülern liegt in der Furcht vor
Schulversagen eine der Ursachen für Schulverweigerung. Dabei
ist das Fernbleiben nur die letzte Stufe einer sehr weit
verbreiteten Schulmüdigkeit, die von Unlust zu passiven Formen
des inneren Ausklinkens über punktuelles zum
regelmäßigen Schwänzen führt. Eine halbe
Million deutscher Schüler bleibt dem Unterricht
regelmäßig fern.
Auch Rüdiger hat nicht nur den
Unterricht geschwänzt, sondern sich vorher schon verweigert:
"Ich habe einfach gemacht, was ich wollte und mich oft
geprügelt." Im Mittelpunkt wollte er stehen. Zwischen den
Kumpels gab es einen regelrechten Wettbewerb um die schlechtesten
Noten. Nur Fünfen und Sechsen standen da im Zeugnis. Als er
vor zwei Jahren in die Schulwerkstatt kam, wollte er zunächst
so weiter machen wie in der alten Schule. "Aber das ging nicht",
sagt er, "weil ich dann immer sehr viel darüber schreiben
musste und eine Sonderstunde nach der anderen dafür drauf
ging." Und, weil ihm seine Lehrerin solche Fragen stellt: "Wie war
deine Pause heute, Rüdiger? Was war gut, und was war nicht so
gut an ihr?" Nicht nur um Biologie, sondern um die Schüler
selbst geht es. In der Herausforderung der Lehrerin, über sich
selbst nachzudenken, spüren sie echtes Interesse. Heute hat er
in den meisten Fächern eine Drei, und sich zu prügeln
findet er nicht mehr interessant. Die Aufmerksamkeit bekommt er auf
andere Weise: Bei "fit for life" beginnt jeder Tag mit dem
Morgenkreis, einer Stunde, in der die Lehrerin aus einem Buch
vorliest, im Hintergrund entspannende Musik läuft und die
Schüler ihre Erlebnisse vom letzten Tag berichten. "Das
Vorlesen kennen viele Schüler gar nicht, sie holen hier etwas
Elementares nach. Dadurch merkt man eine sehr starke emotionale
Veränderung bei ihnen", sagt Katharina Dutz.
Die Lehrerinnen sind sich wohl bewusst, dass
"fit for life" letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein
ist. "Wir haben hier keinen Zauberstab", resümiert Sieglinde
Weißmann. Und doch setzen sie um, was einige
Sozialwissenschaftler schon lange fordern: Lehrer müssten mehr
sein als Pädagogen, sie sollten am besten alles in einer
Person sein: Lehrer, Therapeut und manchmal auch
Elternersatz.
Überfordert wirken die Frauen
keineswegs, und der Erfolg scheint ihnen Recht zu geben. "Von den
44 Schülern, die wir bisher hier hatten, konnten wir 38 wieder
integrieren, darauf sind wir stolz", sagt Weißmann. Bei
500.000 regelmäßigen Schulschwänzern in Deutschland
und einer noch höheren Zahl anderweitig Auffälliger wird
jedoch deutlich, wie im Umfang klein dieses Projekt in Schwerin
ist. Ihre ambitionierten Lehrer sind wichtig für Christiane
und Rüdiger, eine generelle Lösung des Problems liegt
jedoch woanders - zu Hause.
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