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Ralf Hanselle
Erinnerung formiert sich immer wieder neu
60 Jahre nach dem Nationalsozialismus sucht
Deutschland noch immer nach einem angemessenen Gedenken
Der Satiriker Wiglaf Droste hatte jüngst
eine kuriose Idee. Etwas irritiert von der ständigen
Präsenz nationalsozialistischer Figuren in Film und Fernsehen,
schlug er vor, jeder Bundesbürger möge sich einen
Nachmittag lang in seine Wohnung einschließen und unentwegt
den Namen Hitlers vor sich hin sagen. Irgendwann, so Drostes
Konzept, würde es ihm zu den Ohren herauskommen. Die Causa
wäre erledigt.
So eine Form von
Vergangenheitsbewältigung kann natürlich nur in der
Satire gelten - provozierend und wirklichkeitsfremd zugleich. Dabei
mag Drostes Diagnose tatsächlich auf etwas Wahres hindeuten.
Im 60. Jahr nach Kriegsende findet Erinnerung aus verschiedenen
Perspektiven statt, sehr divergent, manchmal sogar
widersprüchlich: Holocaust und militärischer "Endkampf",
Bombenkrieg und Vertreibung, Einmarsch der Roten Armee und Ankunft
der westlichen Besatzungsmächte. Es gibt die Sicht der Opfer
und der Täter, die des In- und Auslands, und es gibt den
Willen zur ernsthaften Auseinandersetzung genauso wie den
Vermarktungswillen der Unterhaltungsindustrie, die sich oftmals dem
Diktat der Spannung beugt.
Gerade Letztere hat im Moment in
Nichtfachkreisen eine große Deutungshoheit übernommen.
Spätestens seit Bernd Eichingers Kinoerfolg "Der Untergang"
besinnen sich Medien und Öffentlichkeit auf eine alte
Weisheit: Nationalsozialismus "sells"! Verging schon früher
kaum ein Jahr, in dem es Hitler nicht mindestens einmal auf das
Titelblatt eines Hamburger Nachrichtenmagazins gebracht hatte, so
ist im Erinnerungsjahr die düstere Epoche zwischen 1933 und
1945 dauerpräsent. Mal ist es ein neuer Titel aus der
Historienindustrie des Guido Knopp, mal Marc Rothemunds Film
über Sophie Scholl. Mal ein Arte-Themenabend, mal ein neuer
deutscher Familienroman. In diesem Takt schlingert sich Erinnerung
in die Zukunft.
Dabei sah das vor Jahrzehnten noch anders
aus. Übte sich Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit
in Scham und Vergessen, so codierte man sich bald zu einer Opfer-
und Notgemeinschaft um. Gedacht wurde vornehmlich der Opfer aus
einer vermeintlich "sauberen" Wehrmacht oder der aus den einstigen
Ostgebieten Vertriebenen. Erst mit dem Auschwitz- und dem
Eichmann-Prozess drangen die eigentlichen Opfer Hitlers ins
kollektive Bewusstsein. Es sollte jedoch noch gut weitere 20 Jahre
dauern, bis ein deutscher Bundespräsident die historische
Wahrheit benennen konnte. Richard von Weizsäckers Rede zum 40.
Jahrestag des Kriegsendes setzte Maßstäbe. Erstmals
wurden nicht nur alle Opfergruppen benannt, erstmals wurde der 8.
Mai unmissverständlich als "Tag der Befreiung" begangen. Ein
Knoten war zerschlagen, der authentische Erinnerung möglich
machen konnte. Doch dann bekam die Diskussion erneut einen anderen
Klang. Martin Walsers umstrittene Friedenspreisrede in der
Paulskirche von 1998, bei der er von der "Moralkeule Auschwitz"
sprach, löste bei vielen die Befürchtung aus, dass
Erinnerung in naher Zukunft nur noch eine Sache für Fachkreise
sein werde. Das Wort von der "Historisierung" ging um. Mit dem Tod
der Zeitzeugen, so befürchteten viele, wäre Geschichte im
öffentlichen Bewusstsein vergangen. Doch die Kritiker haben
sich geirrt. Längst ist aus "History" "Memory", aus Geschichte
Gedächtnis geworden.
Der Generationswechsel scheint erfolgreich
vollzogen worden zu sein, ohne dass die Gegenwart des
Nationalsozialismus geringer geworden ist. Indes: Ein zweites
Hinschauen ermöglicht einen skeptischeren Blick. Der
Historiker Norbert Frei etwa fürchtet in seinem gerade
erschienenen Buch "1945 und wir" einen "Rückfall in die
Deutungsmuster der 50er-Jahre". Die Publikationen von Jörg
Friedrich, Uwe Timm oder Wibke Bruhns haben in ihm den Verdacht
wach gerufen, dass man mancherorts lieber wieder auf die eigenen
Opfer der Hitlerei gucken möchte, als die Zerstörung in
den Kontext einer von Deutschland losgetretenen Vernichtungs- und
Rassenpolitik zu stellen.
Vollkommen aus der Luft gegriffen sind solche
Sorgen nicht. Dabei muss nicht einmal nur an die Ränder des
Politischen geschaut und an das vollkommen unsägliche NPD-Wort
vom "Bombenholocaust" erinnert werden. Längst macht sich in
der Mitte der Gesellschaft so etwas wie Entkontextualisierung
breit. Dort, wo authentische Geschichte am nächsten scheint,
ist sie bisweilen am weitesten weg. Frei zumindest ist sich sicher,
dass Hitler vielerorts nur noch eine "Gruselgröße einer
multimedialen Populärkultur" ist. Andere Kritiker pflichten
dem bei. Die Faszination des Bösen, die in den letzten Jahren
manchen Fernsehredakteur zur Produktion immer neuer Geschichtsdokus
animierte, hat längst zu so innovativen Vokabeln wie der des
"Nazi-Westerns" geführt.
Nicht in der vermeintlichen "Historisierung"
liegt gegenwärtig die Gefahr, sondern in einer zunehmenden
Ahistorisierung. So haben etwa die Kontroversen um den Kinofilm
"Der Untergang" stellenweise zu unzeitgemäßen
Betrachtungen geführt. Die Diskussion darum, ob es erlaubt
sei, Hitler als Mensch zu zeigen, klangen nicht selten gestrig. Als
hätte es die spätestens mit dem Frankfurter
Auschwitz-Prozess einsetzende Diskussion um die feingewobene
Struktur der Vernichtung und um die Teilhabe breiter
Bevölkerungsschichten nie gegeben, wollten manche immer noch
an dem Diabolus von "Outer Space" festhalten, an einen
Verführer, der mit kosmischer Kraft über die Deutschen
kam. Solche Gedanken atmen in der Tat den einseitigen Geist der
50er Jahre. Der Historiker Habbo Knoch hat vor einigen Jahren in
seiner Untersuchung über das Bildmaterial zu den Verbrechen
des Nationalsozialismus festgestellt, dass solche Anschauungen
Produkte der unmittelbaren Nachkriegszeit sind. Bis Anfang der
60er-Jahre kursierten in westdeutschen Medien vornehmlich Bilder
von Hitler und einer weit entrück -ten Führungsriege.
Opfer oder Mittäter waren medial nicht präsent. Die Nazis
waren eben die anderen. Und die kamen von irgendwo, nur nicht aus
dem Herzen der deutschen Gesellschaft. Denn wenn der Untergeher
tatsächlich ganz irdisch war, dann muss er, um mit Brecht zu
sprechen, mindestens auch einen Koch und einen Friseur gehabt
haben. Bis dato durfte davon ausgegangen werden, dass dies
Selbstverständlichkeiten sind, die nicht nur in Fachkreisen
verbreitet sind. Die Kontroverse aber hat gezeigt: Tief im Magen
des Volkskörpers rumort noch immer etwas
Unverdautes.
Doch es geht bei der Enkelgeneration nicht
nur um das Verdrängen einer Schuld, die ohnehin nicht erblich
ist. Auch das eigentlich Gutgemeinte agiert mehr und mehr in
luftleeren Sphären. Wenn etwa am 10. Mai das Mahnmal für
die ermordeten Juden Europas von Architekt Peter Eisenman
eingeweiht wird, dann kann auch dies eine erinnerungstechnische
Doppelbödigkeit haben. Schon früh gab es deshalb eine
große Koalition der Kritiker. Berlins ehemaliger Regierender
Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) fand den Entwurf "zu
beliebig", und Michael Naumann erkannte gar etwas
"Albert-Speer-Haftes". Der verständliche Wunsch, dem
kollektiven Gedächtnis einen bleibenden Erinnerungsraum zu
geben, ist schwer umsetzbar. Eisenmans Vorstellung, dass sich die
Vergangenheit heute nur noch "durch eine Manifestation in der
Gegenwart" verstehen ließe, hat sich noch längst nicht
bewährt. Noch immer steht zu befürchten, dass sein
Entwurf, der in seiner bewussten Symbollosigkeit und seiner grauen
Nacktheit die historischen Realien außen vor lässt, zum
steinernen Manifest einer neuen Erinnerungskultur werden
könnte. In dieser wird der Geschichte zwar gedacht, ihre
Inhalte aber werden nicht gezeigt. Ohnehin: Auschwitz erschien in
den letzten Jahren mehr und mehr wie ein Ort jenseits von Zeit und
Raum. Der Politikwissenschaftler Lothar Probst geht soweit, in ihm
den Topos einer "europäischen Zivilreligion" zu
sehen.
2005 ist ein besonderes Gedenkjahr. Bis zum
8. Mai wird kaum ein Tag vergehen, an dem nicht irgendeine
europäische Stadt ihrer Befreiung und ihrer Opfer gedenken
wird. Der immer wieder befürchtete Schlussstrich ist
ausgeblieben. Noch immer ringen die Nachgeborenen um die Formen des
Gedenkens. Vielleicht mag es unmöglich sein, bei der Vielzahl
der Opfer- und Tätergruppen und bei den unzähligen
Perspektiven auf die Geschehnisse allgemein gültige Figuren
und Ausdrucksweisen zu finden. Vielleicht ist es gerade die
Polyphonie der Stimmen, die authentische Erinnerung möglich
macht, zum ersten Mal möglich macht. Ein Chor, den bis dato
niemand besser zum Ausdruck gebracht hat, als Walter Kempowski in
seinem gerade abgeschlossenen kollektiven Tagebuch "Das Echolot".
Erinnerung bedeutet hier nicht weniger als den unmöglichen
Versuch, jede einzelne historische Stimme über die Zeit zu
retten. Bereits vor 40 Jahren schrieb in diesem Sinne der
Schriftsteller Heinrich Böll: "Große Sachen zu bereuen
ist ja kinderleicht: Politische Irrtümer, Ehebruch, Mord,
Antisemitismus - aber wer verzeiht einem, wer versteht die
Details?"
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