"Wir sind ein merkwürdiges Volk"
Im Gespräch: Nino Burdschanadse, Georgiens
Parlamentspräsidentin
Nino Burdschanadse gehörte zu den
Führungspersönlichkeiten der demokratischen Opposition in
Georgien, die Präsident Eduard Schewardnadse wegen Wahlbetrug
bei der Parlamentswahl am 22. November 2003 zum Rücktritt
zwangen. Seit Januar 2004 ist sie Parlamentspräsidentin.
Das Parlament: Welche Fortschritte
gibt es in Georgien ein Jahr nach der
"Rosen-Revolution"?
Nino Burdschanadse: Wir können
eine ganze Liste mit Erfolgen vorweisen. Allerdings wissen wir
auch, dass wir in einer so kurzen Zeit nicht alle Probleme, die wir
von unseren Vorgängern geerbt haben, lösen können.
Immerhin stand Georgien an der Grenze zur Katastrophe. Unser
wichtigster Erfolg ist, dass die Georgier jetzt endlich
spüren, dass Menschen an der Macht sind, die alles tun, um sie
nicht zu enttäuschen. Wir führen einen harten Kampf gegen
die Korruption, die früher das ganze Land lähmte. Wir
haben angefangen, grundlegende Reformen in allen Bereichen
durchzuführen. Konsequent versuchen wir, die staatlichen
Institutionen zu festigen.
Das Parlament: Wie steht es um die
Stabilität der georgischen Institutionen?
Nino Burdschanadse: Faktisch herrschte
ein gewaltiges Korruptionssystem, das unsere nationale Sicherheit
gefährdete. Gleichzeitig funktionierten die staatlichen
Institutionen nicht. Alles hing von einer bestimmten Person ab. Es
war gefährlich für unseren Staat, dass alles von einem
Mann abhing.
Das Parlament: Meinen Sie
Präsident Eduard Schewardnadse?
Nino Burdschanadse: An der Spitze
ja.Auf jeder weiteren Stufe waren es natürlich andere. Jetzt
versuchen wir, einen wirklichen demokratischen Staat aufzubauen, so
wie Deutschland. Einen solchen Rechtsstaat wollen wir auch bei uns
etablieren.
Das Parlament: Man hört aus
Georgien, dass die korrupten Politiker zwar festgenommen werden,
nach Entschädigungszahlungen aber schon bald wieder frei
kommen.
Nino Burdschanadse: Wir haben dazu ein
Gesetz verabschiedet. Wie in den USA wird derjenige wieder auf
freien Fuß gesetzt, der das entwendete Geld zurückgibt.
Wir haben nicht die Absicht, alle korrupten Georgier ins
Gefängnis zu stecken. Wenn man in Georgien alle, die am
Korruptionssystem beteiligt waren, inhaftieren wollte, müsste
man fast die Hälfte der Beamten und Politiker einsperren. Das
wollen und können wir nicht.
Das Parlament: Wie reagieren die
Menschen darauf?
Nino Burdschanadse: Wir Georgier sind
ein merkwürdiges Volk. Vor der Wahl waren alle sauer, dass
Schewardnadse die Korruption nicht bekämpft und niemanden
verhaftet hat. Als wir an die Macht kamen und begannen, die
Verbrecher festzunehmen, wurden wir deswegen kritisiert. Jetzt
reden wir nicht mehr allzu laut darüber. Sicher ist jedoch,
dass wir der Korruption einen tödlichen Schlag versetzt
haben.
Das Parlament: Welche Rolle soll das
Parlament spielen?
Nino Burdschanadse: Ich habe es
abgelehnt, die Stelle des Ministerpräsidenten zu
übernehmen, weil ich es enorm wichtig finde, das Parlament zu
stärken. Seit der Revolution stellen wir die Regierung und
verfügen über eine klare Mehrheit im Parlament. Genau das
ist aber eine Gefahr für uns. Wir alle kommen aus derselben
Mannschaft, der Präsident, die Parlamentspräsidentin, die
Regierungsmitglieder. Wenn wir nicht selbstkritisch unsere eigene
Politik betrachten, wird der Staat darunter leiden. Das Parlament
ist am besten geeignet, eine gewisse Distanz zur Regierung zu
wahren, als Kontrollinstanz zu fungieren. Präsident
Saakaschwili unterstützt mich dabei.
Das Parlament: Wie kann der Konflikt
mit Südossetien gelöst werden?
Nino Burdschanadse: Das Volk und die
Regierung Georgiens wollen diesen Konflikt friedlich beilegen.
Präsident Saakaschwili hat Südossetien eine
Autonomie-Lösung angeboten. So sollen die Osseten in der
Schule in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. Außerdem
bieten wir ihnen nicht nur auf der regionalen Ebene eine Teilhabe
an der Macht an, sondern auch auf der zentralen Ebene.
Das Parlament: Soll es bestimmte
Quoten geben?
Nino Burdschanadse: Nein. Ich bin
grundsätzlich gegen Quoten. Ich wäre ungern
Parlamentspräsidentin nur weil ich eine Frau bin. Wir wollen
die Minderheiten schützen und mit ihnen die Macht teilen. Wir
wollen aber keine Gegenreaktionen der Mehrheitsbevölkerung
provozieren, sondern die Sicherheit der südossetischen
Minderheit durch eine internationale Garantielösung
gewährleisten. Wir wollen den Dialog. Aber wir sind nicht
bereit, ewig zu warten, bis eine Handvoll Separatisten bereit ist,
mit uns zu verhandeln. Deshalb bitten wir die internationalen
Organisationen um Unterstützung. Wir sollten den Separatisten
klar machen, dass es für sie keine andere Lösung als auf
dem Verhandlungsweg gibt.
Das Parlament: Wie ist die russische
Haltung zu Südossetien
Nino Burdschanadse: Wir haben die
internationalen Organisationen - also UNO, EU, OSZE, NATO und den
Europarat - gebeten, auf Russland Druck auszuüben. Zwar stellt
es sich offiziell als Vermittlerstaat dar, in Wirklichkeit aber
betreibt es eine doppelgleisige Politik. Einerseits erkennt Moskau
die territoriale Integrität Georgiens an, andererseits
unterstützt es offen die Separatisten.
Das Parlament: Gilt das auch für
den Abchasien-Konflikt?
Nino Burdschanadse: Hier ist das
Problem komplizierter als in Südossetien. Denn die Osseten
sind stärker in die georgische Gesellschaft integriert als die
Abchasen. Sicher ist jedoch, dass wir auch mit Abchasien eine
gemeinsame Regelung finden können. Die Abchasen erhalten von
uns die höchste Stufe der Autonomie mit allen internationalen
Garantien.
Das Parlament: Wie stehen die Abchasen
zu diesem Angebot?
Nino Burdschanadse: Sie sagen immer
dasselbe, dass sie den Krieg gewonnen hätten und ihre
Unabhängigkeit international anerkannt sei. Es gibt keine
Bereitschaft zum Dialog mit uns.
Das Parlament: Die Beziehungen zu
Russland gelten als gespannt. Wie ist die Lage heute?
Nino Burdschanadse: Unsere Beziehungen
waren kompliziert. Nach der Revolution hofften wir, dass sie sich
verbessern würden. Wir haben Anstrengungen in dieser Richtung
unternommen, Russland kam uns entgegen. So haben sich die Russen
während des demokratischen Machtwechsels in Adscharien nicht
eingemischt. Allerdings beschwert uns die Existenz russischer
Militärstützpunkte auf georgischem Staatsgebiet. Moskau
führt mit uns bislang keine ernsthaften Verhandlungen
über den Truppenabzug.
Das Parlament: Hat Russland
Bedingungen für den Truppenabzug präsentiert?
Nino Burdschanadse: Russland
beunruhigen unsere engen Beziehungen zur NATO. Deshalb hat uns
Moskau ein Ultimatum gestellt. Bevor die russischen Truppen
Georgien verlassen, müssen wir verbindlich festschreiben, dass
keine andere Armee Stützpunkte bei uns errichten darf. In
einer solchen Erklärung sehen wir kein besonderes Problem, da
wir selbst großes Interesse daran haben, dass in Georgien
keine fremden Truppen stationiert sind. Aber das ist keine
Angelegenheit zwischen Georgien und Russland. Ich schließe
nicht aus, dass wir ein Gesetz verabschieden, in dem wir die
Stationierung fremder Truppen auf unserem Territorium
ausschließen. Aber das ist abhängig von der weiteren
Entwicklung unserer Beziehungen zu Moskau.
Das Parlament: Bietet Georgien im
Pankisi Tal Al-Kaida-Terroristen Unterschlupf?
Nino Burdschanadse: Russland will mit
diesem Thema Georgien in ein schlechtes Licht rücken. Dabei
hat es die Entsendung einer OSZE-Beobachter-Mission in die Region
verhindert. Sie hätte objektiv über die Lage vor Ort
berichten können. Daran hat Russland aber kein Interesse.
Stattdessen will es Georgien eine Zusammenarbeit mit Terroristen
andichten, um uns so international zu brandmarken. Gleichwohl haben
sich Geheimdienste aus den USA, aus Russland und Georgien gemeinsam
davon überzeugen können, dass im Pankisi Tal keine
Terroristenlager existieren.
Das Parlament: Wird Georgien auf
Moskauer Druck auf die NATO-Mitgliedschaft verzichten?
Nino Burdschanadse: Auf keinen Fall.
Die Mitgliedschaft Georgiens in NATO und EU ist und bleibt das
Hauptziel unserer Außenpolitik. Wir respektieren, dass
Russland seine südlichen Grenzen gesichert sehen will. Aber
wir sind ein souveränes Land und entscheiden selbst, mit wem
wir freundschaftliche Beziehungen unterhalten. Die Mitgliedschaft
in der NATO hat für uns Priorität. Es geht dabei nicht
nur um Sicherheit, sondern auch um gemeinsame Werte. Georgien ist
ein Teil Europas, kulturell und politisch. Im Unterschied zu
Russland wollen wir die Demokratie nicht an die eigenen nationalen
Traditionen anpassen. Unserer Meinung nach sind die demokratischen
Werte universell. Es ist realistisch, dass wir ab 2006 die
NATO-Beitrittsprogramme erfüllen können. Zudem hoffe ich,
dass wir bis 2007 oder 2008 assoziiertes EU-Mitglied
sind.
Das Parlament: Die georgische
"Rosen-Revolution" hat die zweite Welle des demokratischen
Umbruches im postsowjetischen Raum eingeleitet. Warum erst
jetzt?
Nino Burdschanadse: Unsere Völker
sind sehr geduldig. Nach dem Zerfall der UdSSR wollten sie keinen
neuen Umsturz, da die Menschen Angst von weiteren
Destabilisierungen, Krisen und Blutvergießen hatten. Aber jede
Geduld hat Grenzen.
Das Parlament: Wieso hat ein
erfahrener Politiker wie Eduard Schewardnadse es so weit kommen
lassen?
Nino Burdschanadse: Er hatte jedes
Gefühl für die Realität verloren. Deshalb
schätzte er die Situation falsch ein und bekam das, was er
verdiente. Ich habe gehofft, dass die ukrainische Regierung die
Fehler Schewardnadses nicht wiederholen würde.
Schließlich hatten sie unser Beispiel vor Augen. Die Georgier
und die Ukrainer können selbst entscheiden, wer ihr
Präsident sein soll.
Das Parlament: Via Fernsehen konnte
die ganze Welt die Entmachtung Schewardnadses verfolgen. Er hatte
den Ausnahmezustand ausgerufen.
Nino Burdschanadse: Mir war bewusst,
was das Volk von mir erwartete. Hunderttausende standen hinter uns,
ich durfte sie nicht enttäuschen. Angst hatte ich nicht um
mich, sondern um die Menschen vor dem Parlamentsgebäude,
darunter auch mein Sohn, der sein Studium in England unterbrochen
hatte und nach Georgien gekommen war. Er sagte: Die anderen Kinder
stehen auf der Straße, dein Sohn hat kein Recht, nicht dabei
zu sein. Ich war stolz auf ihn.
Das Interview führte Aschot
Manutscharjan
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