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Christian Hacke
Das Böse lässt sich nun mal nicht
wegidealisieren
Hans Joachim Morgenthau und das Erbe des
außenpolitischen Realismus
Immanuel Kants Traktat vom Ewigen Frieden
beflügelt bis heute liberale Idealisten, die seitdem eine
demokratische Friedensordnung zum Ziel der Weltpolitik
erklären. Ihnen gegenüber stehen seit der Antike
Realisten wie zum Beispiel Thukydides, die zutiefst bewegt von den
menschlichen Unzulänglichkeiten und den permanenten dunklen
Momenten der politischen Geschichte ihr Augenmerk auf die
tatsächlichen Widersprüche richten. Geschichtlicher
Fortschritt in Richtung ewigen Friedens oder ewiger Kreislauf
zwischen Krieg und Frieden? So lautet die Frage zwischen Idealisten
und Realisten seit der Antike.
Nach der Zeitenwende von 1989/90 und
insbesondere im Zuge des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums wurde
die Welt von der Hoffnung beseelt, jetzt würden Demokratie,
Menschenrechte und Globalisierung zu einer neuen Weltordnung
führen. Folglich dominierten idealistische Theorien die
Entwürfe für das 21. Jahrhundert. Doch spätestens
seit dem 11. September 2001 wurde die Welt brutal aus ihrem
Dornröschenschlaf gerissen.
Warum erlebt militärische Macht seit den
90er-Jahren eine ungeahnte Renaissance? Warum streben Menschen und
Staaten immer wieder nach Macht, führen Kriege und suchen mit
Gewalt Herrschaft über andere? Warum ist die Perspektive eines
globalen Friedens also erneut in weite, ja unerreichbare Ferne
gerückt? Während die meisten Wissenschaftler von der
Internationalen Politik auch heute noch primär über das
Wünschbare sinnieren, blicken Realisten auf die unbequeme
Wirklichkeit.
Einer, der vor den machtpolitischen
Realitäten niemals die Augen verschlossen hat, war der Vater
des außenpolitischen Realismus im 20. Jahrhundert, Hans
Joachim Morgenthau. Anders als Immanuel Kant geriet Morgenthau in
seiner deutschen Heimat in Vergessenheit. Morgenthau, der im
letzten Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, war
geprägt vom Kaiserreich, von der deutschen Niederlage im
Ersten Weltkrieg, den Wirren der Weimarer Republik und vom
aufkommenden Nationalsozialismus. Als Jurist war er enttäuscht
von der Naivität der liberalen Demokraten und abgestoßen
vom nackten, machtpolitischen Freund-Feind-Denken Carl
Schmitts.
Schließlich floh er angesichts der
Bedrohung, der er als Deutscher jüdischen Glaubens ausgesetzt
war, in die Vereinigten Staaten, wo er als Professor in Chicago
Weltruhm erlangte. Mit seinem 1948 erschienenen Hauptwerk "Macht
und Frieden" inspirierte er mehrere Generationen von
Wissenschaftlern und Politikern, weil er mit den Zentralbegriffen
von Macht und Interesse ein realistisches Muster für das
Studium der internationalen Beziehungen vorlegte. Dabei war
für ihn entscheidend, dass in der internationalen Politik
moralische und ethische Prämissen für das
Verständnis allein nicht ausreichen, sondern dass
Machtinteressen und ethische Normen ausbalanciert werden
müssen.
Überzogener Idealismus war ihm suspekt,
weil dieser die pessimistischen historischen Erfahrungen in der
Weltpolitik weitgehend negierte. Sein berühmter Schüler
Henry Kissinger, der ebenfalls aus Nazi-Deutschland nach Amerika
fliehen musste, hat einmal erklärt: "Hans Morgenthau hat das
gegenwartsbezogene Studium der internationalen Beziehungen zu einem
wesentlichen Wissenschaftszweig gemacht. Alle von uns, die dieses
Fach nach ihm unterrichten, mussten von seinen Ansätzen
ausgehen." Die Wissenschaft von der Internationalen Politik kann
keinen Begründer zum Beispiel vom Range eines Sigmund Freud
vorweisen, aber wenn jemand diesem Anspruch nahe kommt, dann
Morgenthau. Er diagnostizierte, dass in der Politik
zwangsläufig eine Ethik des Bösen mitwirkt, weil -
insbesondere in der Außenpolitik - Entscheidungen weniger der
freien Wahl, als vielmehr Dilemmata unterliegen. Der Staatsmann
kann nur selten zwischen gut und böse, richtig und falsch
wählen, sondern oft nur zwischen schlimm und
schlimmer.
Morgenthau als Realist betont in all seinen
Arbeiten wiederholt diese tragische Dimension außenpolitischen
Handelns, das zumeist von widrigen Umständen geprägt ist.
Er formulierte daher eine situationsbedingte Ethik, die Macht und
Moral gemäß der Verantwortungsethik Max Webers
zusammenzwingt. Das Scheitern des Völkerbundes, die
Eindrücke der Zwischenkriegszeit, das Wüten des
Faschismus, die Gefahr des Kommunismus und die Entwertung der
Demokratie als Regierungsform überzeugten ihn, dass Moral
alleine in der internationalen Politik wirkungslos bleibt, ja die
Existenz des Staates gefährden kann. Deshalb müssen
nationale Interessen vorrangig berücksichtigt werden,
allerdings mit Blick auf internationales Gleichgewicht.
Für Morgenthau reichen moralische und
ethische Prämissen allein nicht aus, sondern Macht, Interesse
und ethische Normen müssen ausbalanciert werden. Deshalb
urteilte er ziemlich hart über gutmeinende Idealisten:
"Weltverbesserungsideen gehören ins Backfischalter." Seine
Maxime dagegen lautete: "Feststellen, was ist, wie es ist,
erscheint als etwas Höheres, Ernsteres als jedes ,so sollte es
sein'."
Der Unterschied zwischen Sein und Sollen,
zwischen Wirklichkeit und Ideal, bestimmte seine Analyse der
internationalen Politik, die zu seiner Leidenschaft wurde und die
er, wie der Arzt, mit kaltem und wissendem Auge sezierte: "Mir ist
die Brutalität der realistischen Fragestellung lieber als die
zerfahrene Sentimentalität, die vor lauter Gefühlsduselei
die eigenen Interessen vernachlässigt und nicht zur Sache
kommt." Dabei konzentrierte er sich vor allem auf das menschliche
Streben nach Macht, das für ihn den Kern des Politischen
bildet. Der Machttrieb mache den Menschen asozial, denn der Mensch
will alles für sich und nichts für den
Nächsten.
Wegen dieser realistischen Diagnose wird
Morgenthau fälschlicherweise oft als Apologet einer
schrankenlosen Machtpolitik dargestellt. Doch besitzt der
außenpolitische Realismus eine eigene moralisch-ethische
Dimension, die allerdings als situationsbedingte Ethik eine
Auffassung von Ordnung impliziert, in der nicht moralische
Entrüstung oder Überheblichkeit, sondern eine
ethisch-moralische Instrumentalisierung der Macht angestrebt wird.
Macht, Moral und Gerechtigkeit stehen in einem
Wechselverhältnis.
Morgenthaus Forderung nach Begrenzung und
Relativierung von Moral und Macht in der internationalen Politik
und sein Plädoyer für Toleranz, Balance und
Selbstbeschränkung bilden vielleicht den ansprechendsten
Aspekt des Realismusmodells. Viel zu lange wurde verkannt, dass
Morgenthau selbst das Feuer und den Impetus des Moralisten in sich
trägt. Er war nicht nur auf der realistischen Suche nach dem
Sein, sondern auch ein Idealist, der um letzte Werte ringt. Mit Max
Weber stimmte er darin überein, dass Wertentscheidungen
rational nicht begründbar, dass weltanschauliche Postulate
wissenschaftlich nicht legitimierbar sind. Daraus folgte für
ihn, dass jede Wissenschaft, die aus Prinzip wertfrei und
inhaltsneutral bleibt, sich im Grunde wehrlos den Mächten der
Zeit ausliefert, ganz gleich, ob diese gut oder böse, liberal
oder sozialistisch, demokratisch oder totalitär
sind.
Folglich kritisierte Morgenthau schon in den
50er- Jahren amerikanische Interventionen auf dem asiatischen
Festland und mahnte eine Konzentration auf die amerikanischen
Interessen in Europa an. Wie auch sein realistischer Zeitgenosse
George Kennan hoffte Morgenthau langfristig auf Eindämmung und
friedliche Koexistenz mit der Sowjetunion. Unter dem Eindruck der
Dialektik des Atomzeitalters plädierte er für eine
Doppelstrategie der militärischen Stärke und der
Bereitschaft zur politischen Entspannung.
Das endgültige Schicksal der Sowjetunion
sah Morgenthau schon 1964 visionär und illusionslos zugleich.
Er war überzeugter Antikommunist, wusste aber, dass die
Sowjetunion nicht von außen zu besiegen war, sondern nur von
innen verändert werden konnte. Nicht nur harte, sondern ebenso
weiche Machtfaktoren würden sie zusammenbrechen
beziehungsweise implodieren lassen.
Morgenthau überzeugt durch sein
Eintreten für Maß und Balance und durch seinen Mut zu
Wahrheit und Unpopularität, um freiheitliches Leben im Sinne
der jüdisch-christlichen Tradition in der Welt zu bewahren.
Die "Atlantische Zivilisation", dieser Begriff stammt von seiner
Freundin und intellektuellen Weggefährtin Hannah Arendt, blieb
für ihn der zentrale geistige und politische Ort, den es zu
erhalten gilt. Mussolini, Hitler und Stalin verkörperten
für ihn das Böse. Umgekehrt war ihm Winston Churchill der
Inbegriff des demokratisch-kämpferischen Staatsmanns, der
nicht nur zweckmäßig handelte, sondern die
ethisch-demokratischen Prinzipien der Atlantischen Zivilisation vor
den totalitären Herausforderungen seiner Zeit zu bewahren
suchte.
Auch im 21. Jahrhundert entwickelt sich die
Welt nicht im idealistischen Sinne. Die hehren Prinzipien des
zwischenstaatlichen Friedens, der innerstaatlichen Demokratisierung
und des sich universell verbreitenden Liberalismus führen eben
nicht zum "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama), sondern die
Welt war, ist und bleibt ein gefährlicher und
konfliktbeladener Ort. Vor diesem Hintergrund ist Morgenthau
aktueller denn je, weil die Wissenschaft von der Internationalen
Politik durch die Sucht nach Neuem und durch die Hybris
gegenüber der Geschichte in eine tiefe Krise gestürzt
ist. Rückbesinnung auf den Realismus und seine kluge
Weiterentwicklung tut not.
Auch wenn die Vertreter der Disziplin der
Internationalen Beziehungen sich gerade in Deutschland seit Jahren
bemühen, den Realismus für tot zu erklären und
seinen wissenschaftstheoretischen und moralischen Bankrott
nachzuweisen, sind Morgenthaus faktische Erklärungskraft und
seine Aktualität bis heute ungebrochen. Während
idealistische Erklärungsansätze immer dann Konjunktur
haben, wenn die Weltpolitik in eine Ruhephase eintritt und es sich
wohlfeil über neue kühne Integrationskonstrukte
räsonieren lässt, müssen sie im Angesicht von Krisen
und aufkommendem Sturm die Brücke sofort räumen. Erst
wenn Ruhe, Ordnung und Langeweile eintreten, beginnt erneut das
Träumen von der Schönen Neuen Welt.
Aller Idealismus bleibt ohne die
realistischen Prämissen orientierungslos und ohne
realpolitische Bodenhaftung: Der Idealismus betont die
Notwendigkeit von Kooperation und gemeinsamer Interessendefinition
im Rahmen von internationalen Institutionen, um den Anforderungen
einer sich immer weiter globalisierenden Welt gewachsen zu sein.
Der Realismus betont das Handeln souveräner Staaten, die ihr
Überleben in einer anarchischen Welt sicherstellen müssen
und daher Machtpolitik betreiben. Erst im Zusammenspiel beider
Ansätze kann eine Annäherung an die Wirklichkeit
erreicht, kann Internationale Politik sinnvoll analysiert werden.
So gesehen bleibt der außenpolitische Realismus ein
unverzichtbares Korrektiv.
Professor Hacke lehrt Politikwissenschaft an
der Universität Bonn; in ergänzter Auflage kam gerade
sein Buch über die Außenpolitik der USA
heraus.
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