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Thilo Castner
Fatale Folgen sozialer Spaltung
Deutsche Zustände
Wie rassistisch, antisemitisch, ausländerfeindlich und
aggressiv gegenüber Homosexuellen, Obdachlosen oder
Behinderten sind wir Deutschen? Wilhelm Heitmeyer, Leiter für
interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der
Universität Bielefeld, hat ein auf zehn Jahre angelegtes
Langzeitprojekt aufgelegt, in dem dieser Frage intensiv
nachgegangen wird. In jährlichem Abstand veröffentlicht
Suhrkamp die aktuellen Forschungsergebnisse.
Der jetzt vorliegende dritte Band befasst sich primär mit
den Folgen sozialer Spaltung, hervorgerufen durch die ständig
wachsenden Vermögens- und Einkommensunterschiede: Einerseits
gibt es von Jahr zu Jahr mehr Einkommensmillionäre,
andererseits greifen Lohnkürzungen, drohender
Arbeitsplatzverlust und sozialer Abstieg um sich. Denn in der
globalisierten Weltwirtschaft versuchen die meisten Unternehmungen,
das Marktrisiko an die Beschäftigen weiterzugeben in Form von
Mini-Jobs, Leih- und Zeitarbeit und Teilzeitbeschäftigung,
oder sie drängen ihre Mitarbeiter in Ich-AGs ab.
So entstehen "Zonen der Prekarität und der Entkopplung".
Wer noch beschäftigt ist, befürchtet, demnächst als
Sozialhilfeempfänger oder Dauerarbeitsloser dazustehen.
Soziale Desintegration aber, und das ist eine Kernaussage der
Untersuchung, fördert "menschenfeindliche Einstellungen".
Warum?
Der vom Abstieg Betroffene oder Bedrohte sucht nach
Minderheiten, die noch unter ihm stehen und an denen er Frust und
Minderwertigkeit abreagieren kann. So ist das "Zustimmungspotential
für rechtspopulistische Positionen" von 2002 bis 2003 von 20
auf 25 Prozent gestiegen, ist das Risiko, durch judenfeindliche
Äußerungen in der Öffentlichkeit negativ
aufzufallen, signifikant geringer geworden.
Entsprechend hat die Attraktivität rechtsextremer Parteien,
vorwiegend in den ostdeutschen Ländern, enorm zugenommen, wie
die Erfolge der DVU und NPD bei den Landtagswahlen in Sachsen und
Brandenburg belegen. Die Angebote ultrarechter Läden,
Gaststätten und Musikvertriebe sind im Osten, wie Heitmeyer
konstatiert, "beinahe schon Normalität".
Auch die Vorbehalte gegenüber Ausländern haben sich
weiter verstärkt. Der Aussage "Es leben zu viele
Ausländer in Deutschland" stimmten 2002 55 Prozent zu, 2004
bereits 60 Prozent. Wohnungsanzeigen mit dem Zusatz "Keine
Ausländer" oder Taxibestellungen "nur mit deutschen Fahrern"
sind Alarmzeichen, ebenso wenn neuerdings von "christlich und
islamistisch befreiten Zonen" die Rede ist, also von Regionen, in
denen sich Schwule nicht mehr in der Öffentlichkeit zu zeigen
trauen. 38 Prozent der christlichen Mehrheit, so ein Ergebnis der
Studie, ist für eine "Abwehr expressiv homosexuellen
Auftretens in der Öffentlichkeit", obwohl sich viele
Prominente wie Wowereit oder Westerwelle geoutet haben und
Homosexualität offiziell akzeptiert ist. Dennoch: je funda-
mentalistischer die religiöse Einstellung - bei Christen wie
bei Muslimen -, desto vehementer die Vorbehalte gegen Schwule und
Lesben, auch wenn bisher meist hinter vorgehaltener Hand.
Die streng wissenschaftlich ausgerichtete Darstellung über
Erscheinungsformen, Ursachen und Entwicklungen gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit wird aufgelockert durch eine Reihe von
Fallgeschichten, zum Beispiel über Morde an einem Jungen, den
die Täter für einen Juden halten, oder an einem
Hausbewohner, der erschlagen wird, weil er gegen das laute
Abspielen von Naziliedern protestiert.
Beklemmend ist dabei, mit welcher Milde die Gerichte die Taten
ahnden. Nur mit Kopfschütteln kann man zur Kenntnis nehmen,
wie lange es angesehenen Leipziger Neubürgern gelingt, den Bau
eines jüdischen Gemeindezentrums zu verhindern, da Juden
angeblich ein Sicherheitsrisiko für die Anwohner darstellen
und die Grundstückspreise drücken. Mut machen hingegen
die beiden Beispiele von Menschen, die eingrei-fen und
menschenfeindliches Verhalten bekämpfen. Ein Cottbusser hilft
einem ausländischen Paar, das in der Straßenbahn von
Randalierern attackiert wird, und die Schauspielerin Iris Berben
erläutert, warum sie sich für ein friedliches Miteinander
von Deutschen und Israelis einsetzt.
Heitmeyers Befürchtung ist, dass der sich gegenwärtig
abzeichnende Trend unter den randständigen Menschen, die
Eigengruppe durch Abwertungen von Minderheitsgruppen aufzuwerten,
in Zukunft anhalten wird und uns eines Tages ein nicht mehr
kontrollierbares Zerstörungspotential bescheren könnte.
Deshalb mahnt er zu Recht: "Eliten in Wirtschaft, Politik, Medien
und Kultur, die sich diesen Zusammenhängen nicht stellen,
vernachlässigen ihre Verantwortung für den sozialen
Frieden".
Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.)
Deutsche Zustände, Folge 3.
edition suhrkamp 2388, Frankfurt/M. 2005; 280 S., 10,-
Euro
Der Autor arbeitet als freier Journalist vorwiegend zu
sozialpolitischen und zeitgeschichtlichen Fragen; er lebt im
fränkischen Kalchreuth.
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