|
|
Gülcin Wilhelm
Schluss mit Multi-Kulti-Illusionen
Eine türkischstämmige Frau deckt
Skandale des Verschweigens auf
Necla Kelek zeigt in ihrem Buch die Grenze zwischen Toleranz und
Ignoranz auf. Die Hamburger Soziologin macht auf die Eigenheit der
sich festfahrenden Parallelgesellschaft aufmerksam. In ihr ist "der
gute Ruf" der Familie zuweilen gewichtiger als die Freiheit des
Individuums. Die Autorin kritisiert die türkischen Demokraten,
weil sie die Missstände tabuisieren, um ihre Gemeinschaft
nicht zu "verraten". Ebenso zieht sie diejenigen Deutschen zur
Verantwortung, die zwar gesellschaftlich für mehr Freiheit,
Selbstbestimmung und Gleichberechtigung kämpfen, dennoch
aufgrund einer falsch verstandenen Toleranz schweigen, wenn eben
diese Werte von Immigranten missachtet werden.
Kelek berichtet anhand ihrer eigenen Familienvergangenheit. Sie
beginn mit dem tscherkessischen Urgroßvater, der mit dem
Verkauf von Sklavinnen an den Harem des Sultans zu Reichtum kam,
und sie schildert Lebensläufe und Leiden zahlreicher Frauen.
Die Geschichte endet in der Gegenwart - die 1957 in Istanbul
geborene Kelek bleibt als einziges Familienmitglied in Deutschland,
welche 1967 hierher kam.
Wie ein roter Faden zieht sich die Zwangsverheiratung der Frauen
durch die gesamte Familiengeschichte. "Die fremde Braut"
enthält Interviews, welche die Autorin innerhalb ihrer
Forschung im Bereich der Migrations- und Religionssoziologie in
Moscheen mit "Importbräuten" geführt hat. Es sind teils
noch unmündige Minderjährige, teils junge Frauen, die
durch arrangierte Ehen nach Deutschland gebracht und hier durch die
Familie des Ehemannes von der deutschen Gesellschaft ausgeschlossen
und gefangen gehalten werden. Ihre mangelnden Sprachkenntnisse
sowie das Desinteresse der Außenstehenden führen zu ihrer
vollkommenen Isolation. Sie wenden sich von eigenverantwortlichen
Möglichkeiten ab und den ihnen auferlegten Traditionen zu.
Diese Freiheitsberaubung mitten in Deutschland, welche in den
Augen der Autorin eine Straftat darstellt, geschieht auch auf eine
andere Weise: Jedes Jahr werden Tausende von Mädchen und
Jungen in den Sommerferien zu einer Reise in die Türkei
gezwungen, um dort von den Eltern mit ausgesuchten Partnern
verheiratet zu werden. In diesem Fall stellt Kelek bei den
mitverantwortlichen Verwandten, Schulen und Jugendämtern ein
mangelndes Interesse an dem Verbleib dieser Kinder fest.
Die Autorin gibt in ihrem Buch noch weitere Beispiele für
falsch verstandene Toleranz, die letztlich in Ignoranz
gegenüber den Menschenrechtsverstößen mündet:
Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen,
Marieluise Beck, habe bei einer Diskussionsveranstaltung mit
Überraschung darauf reagiert, dass Zwangsheirat unter
türkischen Migranten übliche Praxis ist. Kelek schreibt
über eine deutsche Grundschullehrerin, die sich ihre Freude
über das letzte türkische Mädchen in ihrer Klasse,
das auch ihre Haare bedeckt, damit erklärt, es würde in
ihrer Klasse endlich nicht mehr isoliert.
Ein anderes Beispiel ist das Urteil eines Bremer Gerichts im
Falle eines Ehrenmordes, dessen Milde mit "stark verinnerlichten
heimatlichen Wertvorstellungen" begründet wurde. In all diesen
Toleranzmustern erkennt Kelek ein Schuldgefühl, das dazu
führe, dass sich die Christen zunehmend öffnen und
interessiert der muslimischen Seite zuhören, es aber zugleich
hinnehmen, wenn die muslimische Seite Ignoranz und Desinteresse
zeigt. So könne keine Rede von einem Dialog sein. Die Autorin
räumt in ihrem Buch mit Multi-Kulti-Illusionen auf und setzt
für die in ihren Augen gescheiterte Integration voraus, dass
alle Beteiligten sich an das Grundgesetz und seine
Gleichheitsverpflichtung halten.
Die Brisanz dieses Buches besteht nicht darin, dass die
Äußerungen der Autorin neu sind. Genauso wie vieles in
der Parallelgesellschaft hinter verschlossenen Türen
geschieht, neigen die diesen Umständen skeptisch
gegenüberstehenden türkischen Migranten dazu, ihre Kritik
ebenso hinter verschlossenen Türen zu üben. Neu ist, dass
eine türkischstämmige Frau diese Missstände
öffentlich macht.
Necla Kelek
Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des
türkischen Lebens in Deutschland.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005; 270 S., 18,90
Euro
Der Autorin ist Redakteurin der in Berlin erscheinenden
Wochenzeitung "Freitag".
Zurück zur
Übersicht
|