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Sten Martenson
Ohne Anstand in der Politik geht es nicht
Ein Gespräch mit Hans-Jochen
Vogel
Wer Hans-Jochen Vogel als Journalist aus der
Nähe erlebte, kann an Heribert Prantls Charakterskizze nichts
aussetzen: der junge Oberbürgermeister von München, der
Bundeswohnungsminister, der Bundesjustizminister, der
SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat seiner Partei hat seine
politische Arbeit stets mit "pedantischer Lust, mit
bürokratischer Genialität und elitärem Anspruch"
verrichtet. Aber das ist vielleicht noch nicht das Besondere an
diesem Politiker. Pedanten und Workaholics sind ja nicht gar so
selten.
Bald 80 Jahre alt, hat es Hans-Jochen Vogel
geschafft, zeitlebens nur Schlagzeilen zu produzieren, die etwas
mit der politischen Sache, der er sich verschrieben hatte, zu tun
hatten. Skandale? Fehlanzeige. Vogel hat seinem geliebten
München, seinem Land und seiner Partei gedient:
aufopferungsvoll und nie nach persönlichen, gar materiellen
Vorteilen schielend. Und auch in den Jahren nach seinem Ausscheiden
aus der aktiven Politik hat er sich von den stets lüsternen
Medien nicht verlocken lassen, sich gegen diesen oder jenen
Nachfolger oder auch gegen die eigene Partei instrumentalisieren zu
lassen. Wer also wäre aus der lebenden politischen Klasse
dieser Republik geeigneter, sich über "Politik und Anstand" zu
äußern als der Sozialdemokrat Hans-Jochen
Vogel?
Heribert Prantl, Politikredakteur bei der
"Süddeutschen Zeitung", hat den spannenden Versuch gewagt, den
ideellen Leitplanken, dem Lebens- und Politikstil Hans-Jochen
Vogels, den Quellen seiner charakterlichen Stärken auf den
Grund zu kommen. Streckenweise ist es bei dem Versuch geblieben.
Nicht alle Kapitel des Buches sind von gleicher Intensität.
Nicht alle lassen sich unter dem auf Vogel zugeschnittenen Titel
"Politik und Anstand" gleichermaßen einordnen.
Vogels Münchner Jahre, die den Politiker
zweifellos besonders geprägt haben, weil sie dem
"Jung-Siegfried der SPD" (Prantl) nicht nur sensationelle
Wahlergebnisse bescherten, sondern auch beträchtlichen
Ärger mit dem nicht sehr viel jüngeren Jungvolk seiner
eigenen Partei, wären entbehrlich gewesen. Auch das sehr
spezifische Frage- und Antwortspiel zu den ethischen
Herausforderungen der Gentechnik oder der Diskussion um die
Sterbehilfe lenkt von dem Thema, wie es um den Anstand in der
Politik damals wie heute bestellt ist, ein wenig ab.
Das aber schmälert den Ertrag für
den Leser nicht. Es lohnt sich, von Vogel zu erfahren, was ihm in
turbulenten Jahren politischer Arbeit Halt verliehen und was ihn
vor dem "Weg in die moralische Anarchie" bewahrt hat. Manchen mag
es irritieren, dass der SPD-Politiker als persönlichen
Orientierungspunkt seinen Glauben und die Verantwortung vor Gott
nennt. Dabei legt er Wert darauf, dass es in politischen Parteien
zwar Christen gebe, aber keine christlichen Parteien.
Glaubwürdig, weil er es so vorgelebt
hat, prangert Vogel die fortschreitende Ökonomisierung vieler
Lebensbereiche an. Für die kommerzielle Verwertung der eigenen
Persönlichkeit hat Vogel kein Verständnis. Und ihn
empören die maßlosen Abfindungen, die gescheiterten
Managern in die Taschen fließen. Alle diese Auswüchse
widern den in Anstand ergrauten Sozialdemokraten an: "So etwas tut
man nicht."
Vogel verkennt im Gespräch mit Prantl
nicht, dass seine Ansichten die eines Altpolitikers sind, mithin
vielleicht altmodisch. Er gehört zu jenen, die meinen, dass im
politischen Geschäft mit dem Begriff "Freund" viel zu
inflationär umgesprungen wird. Vogel misstraut Egozentrikern,
was auch viel mit seinem "Parteifreund" Oskar Lafontaine zu tun
hat, mit dessen Flucht aus der Verantwortung ein Pflichtfetischist
wie er überhaupt nichts anfangen kann. Politiker sollten sich
aber ihrer einigermaßen sicher sein, ohne sich deshalb
sogleich für unfehlbar zu halten.
Es steht viel Nachdenkenswertes und
Besinnliches in diesem Buch. Seinem Gesprächspartner gelingt
es freilich nicht immer, Vogel so zu fordern, dass er vielleicht
noch mehr von sich preisgegeben hätte. Dazu ist der Journalist
Prantl zu sehr darauf bedacht, sich selbst in den Dialog
einzubringen, seine eigenen Thesen zu dem einen oder anderen Thema
loszuwerden und sich als scharf denkender Jurist auf gleicher
Augenhöhe zu präsentieren. Was, so fragt man sich,
hätte wohl der begnadete Interviewer Günter Gaus in einer
solchen Gesprächssituation zutage gefördert!
Und noch eines: es mag Geschmackssache sein,
aber Vogels Gedanken und Erinnerungen hätten sprachlich ein
wenig farbiger und lebendiger ausfallen können. Ob das nun an
einem übereifrigen, auf hundertprozentige Seriosität der
Texte bedachten Lektorat gelegen hat oder an Vogels gedanklicher
Disziplin und sprachlicher Pedanterie, spielt aber auch keine Rolle
mehr.
Hans-Jochen Vogel im Gespräch mit
Heribert Prantl
Politik und Anstand.
Warum wir ohne Werte nicht leben
können.
Verlag Herder, Freiburg/Br. 2005; 223 S.,
19,90 Euro
Der Autor lebt als freier Journalist und
Autor im Rheinland.
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