Jens Hacke
Wie Zeugnis ablegen?
Die Gegenwart des Nationalsozialismus
Im Gedenkmarathon zum 60. Jahrestag des
Kriegsendes sind viele gefordert. Neben den Festrednern aus Politik
und Kultur, den Journalisten und den Schriftstellern werden auch
die Geistes- und Sozialwissenschaftler zur Bestandsaufnahme
gebeten. Zwei prominente Vertreter ihres Fachs geben über die
neuen Trends in der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus
Auskunft. Der Giessener Politikwissenschaftler Claus Leggewie nimmt
zusammen mit seinem Mitarbeiter Erik Meyer das in wenigen Wochen
einzuweihende Holocaust-Mahnmal zum Anlass, über den
konjunkturellen Aufschwung der Erinnerung seit den 90er-Jahren
nachzudenken. Mit "Soviel Hitler war nie" eröffnet der
Historiker Norbert Frei eine Aufsatzsammlung, die unter dem Titel
"1945 und wir" erschienen ist.
Die Dauerpräsenz des Nationalsozialismus
in den Feuilletons, in Fernsehen und Kino gibt ihm zweifellos
Recht. Allerdings sollte dies nach Frei kein Grund zur Klage sein,
denn selten waren Zeithistoriker medial so gefragt wie heute. Sie
sollen nicht nur erklären, wie es in der jüngeren
Geschichte eigentlich gewesen ist, sondern müssen auch
Rechenschaft darüber ablegen, welche Interessen hinter einer
spezifischen Deutung der Vergangenheit stehen - Geschichtspolitik
nennt man das seit einigen Jahren.
Mittlerweile steht die Beschäftigung mit
dem Nationalsozialismus in der Tat vor dem Problem, dass die
Nachgeschichte und der moralisch-politische Umgang mit dem "Dritten
Reich" die eigentliche Erforschung der zwölf braunen Jahre in
den Schatten zu stellen scheinen. Warum ist das so? Frei sieht
unser Verhältnis zur NS-Zeit in einer Umbruchphase, denn mit
dem Aussterben der Zeitzeugen verliert die Erinnerung ihre
Unmittelbarkeit, die jahrelang formativ für das politische
Bewusstsein der Bundesrepublik war.
Was einst fest im kollektiven Gedächtnis
verankert war, muss nun durch die Anstrengungen des kommunikativen
Gedächtnisses erst hergestellt werden. Darin liegen Chance und
Schwierigkeiten. Zum einen kann der Historiker ohne Rücksicht
auf Täter und Mitläufer, Opfer und Widerständler
vorurteilsfrei seinen Fragen nachgehen. Zum anderen ist der
Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus die vormals
existentielle Selbstverständlichkeit genommen. Schon heutigen
Schülergenerationen bleibt der "Führerstaat" ähnlich
fremd wie der Vormärz; er gehört nicht mehr zur
"Zeitgeschichte der Mitlebenden" (Hans Rothfels). Es wird daher
immer schwieriger, der didaktischen Aufgabe nachzukommen, die die
Staatsraison der Bundesrepublik von Beginn an geprägt hat: der
mahnenden Vergegenwärtigung der NS-Verbrechen.
Als reflektierender Historiker beharrt Frei
auf den Pflichten seiner Zunft, die Vielfalt der Perspektiven und
Fragestellungen zu pflegen, ohne sich didaktischen Leitlinien zu
unterwerfen. Mit sicherem Blick dekuvriert er die Abgründe
geschichtspolitischer Einseitigkeiten und historisiert der
NS-Historiographie der alten Bundesrepublik, die lange Zeit eine
Geschichtsschreibung von Zeitgenossen gewesen ist. Statt
gesellschaftliche Verantwortlichkeiten zu erforschen,
flüchteten sich die "Funktionalisten" in Strukturen. Statt
ideologische Anfälligkeiten sozialer und politischer Milieus
zu kennzeichnen, wiesen die Intentionalisten der Weltanschauung
Hitlers ihren dämonischen Drang zur Selbstverwirklichung
nach.
"Kollektives Geheimnis"
Die frühe Geschichtsschreibung über
die NS-Diktatur kam mit auffallend wenigen handelnden Personen aus,
und die Verflechtung der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und
gesellschaftliche Eliten in das verbrecherische Herrschaftssystem
ist erst seit einigen Jahren ein prominentes Forschungsthema. Die
Popularität des Regimes blieb hingegen lange ein "kollektives
Geheimnis", während die "Katastrophe" deterministisch aus der
"Machtergreifung" oder aus dem unvermeidlichen "Untergang"
erklärt wurde.
Frei lehrt den Leser in seinen pointierten
Essays, gepflegte Geschichtsmythen in ihrem Ursprung zu verstehen.
Stalingrad war eben nicht die eigentliche Kriegswende, sondern auch
das von der NS-Propaganda in Szene gesetzte Drama, als die
aussichtslose Lage nicht länger kaschiert werden konnte; die
"Volksgemeinschaft" war zwar keine nationalsozialistische
Wirklichkeit, aber eine verheißungsvolle
gesellschaftspolitische Parole, die ihre Wirksamkeit bis in die
frühe Bundesrepublik behielt.
Freis Plädoyer für ein
aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein ist auch deshalb so
aktuell, weil in jüngster Zeit - als letzte Regung der
Zeitgenossen - eine emotionale Erschließung der eigenen
deutschen Opfergeschichte an Gewicht gewonnen hat. Bombenkrieg,
Vertreibung und Besatzungsleid drohen neuerdings bisweilen die
tatsächlichen Zusammenhänge zu verwischen. Eine
entpolitisierte "Familiengeschichte" scheint dabei kompensatorisch
offiziöse Gedenkriten zu unterlaufen und so eine neue Vielfalt
der Erinnerung zu etablieren.
"Narrative der Pluralisierung" nennen
Leggewie und Meyer diese Produkte einer neuerlichen Hinwendung zur
"gefühlten Geschichte der Bundesbürger". Dagegen soll der
aus der Erbmasse der Bonner Republik stammende Plan eines
Holocaust-Mahnmals für geschichtspolitische Kontinuität
sorgen und ein politisch-didaktisches Gegengewicht schaffen. Die
langwierige Debatte um dieses Bauvorhaben zeichnen Leggewie und
Meyer in aller Ausführlichkeit nach.
Anhand der Mahnmal-Kontroverse zeigen sie,
dass Geschichtspolitik in einer Demokratie wie jede andere "Policy"
durch "Agenda-Setting" implementiert wird. Sie akzeptieren den
Kompromisscharakter eines solchen Aushandlungsprozesses als genuin
demokratisch, da die verschiedenen Initiativen und Akteure jeweils
dazu gezwungen waren, von ihrer Ursprungsidee abzuweichen und auf
nicht-intendierte Nebeneffekte zu reagieren. Die
geschichtspolitischen Fronten der 80er- Jahre lösten sich in
diesem Prozess auf. Helmut Kohl entwickelte sich spätestens
seit seinem Alleingang zur Neugestaltung der Neuen Wache zu einem
Befürworter des Mahnmals, das er Ignatz Bubis in die Hand
versprach, während sich einige Mitglieder der rotgrünen
Bundesregierung wie Kulturstaatsminister Naumann anfangs vor allem
als entschiedene Kritiker artikulierten. Gerhard Schröder
schließlich tat den flapsigen Ausspruch, er wünsche sich
das Mahnmal als einen "Ort, an den man gerne geht".
Gerade vor dem Hintergrund, dass der
Holocaust seine handlungs- und identitätsstiftende Funktion im
Politischen zunehmend verliert, verteidigen die Autoren das
Mahnmal, das sich in einer veränderten Erinnerungslandschaft
bewähren muss: "Es erinnert an ungeheure Verbrechen, soll aber
selbst kein Ort des Schreckens sein." Ihre Rede von der
"Konsumentensouveränität" der künftigen Besucher mag
dagegen manchem begrifflich unangemessen erscheinen. Wenn das
Autorengespann überdies - mit dem Kanzler - dazu beitragen
will, "dass man dieses Mahnmal im beschriebenen Sinne gerne
aufsucht", zeigen sich die Aporien geschichtspolitischer
Parteinahme: War man von der Singularisierung der Shoah jahrelang
"zu Recht überzeugt", so gilt es nun, mit der "in der Regel
ungewollten" Relativierung und Relationierung deutscher Schuld
umzugehen.
Nicht nur eine transnationale Perspektive,
die die europaweite Dimension des Vernichtungskrieges
problematisiert, sondern auch die Infragestellung der
vieldiskutierten Opferhierarchie und die vielfach angeregte
vergleichende Genozidforschung stellen tradierte Muster des Umgangs
mit dem Holocaust in Frage. Daraus wird ersichtlich, dass die
Anforderungen für den künftigen Umgang mit den
nationalsozialistischen Verbrechen in der Bundesrepublik zu komplex
sind, um sich eine "Rhetorik der Platitüden" (Frei) leisten zu
können.
Norbert Frei
1945 und wir.
Das Dritte Reich und die
Deutschen.
Verlag C.H. Beck, München 2005; 224
S., 19,90 Euro
Claus Leggewie / Erik Meyer
"Ein Ort, an den man gerne
geht."
Das Holocaust Mahnmal und die deutsche
Geschichtspolitik nach 1989.
Carl Hanser Verlag, München 2005; 352
S., 24,90 Euro
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität
Berlin.
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