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Das Parlament
Nr. 11 / 14.03.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Alexander Kulpock

Programmauftrag: "Zerstreuen und ein wenig bilden"

In der Geschichte des Radios spiegelt sich die deutsche Geschichte

Wenn die Bilder im Kopf entstehen, wandelt die Unterhaltung auf höchstem Niveau. Nicht von ungefähr tönen Stimmen und Geräusche des allerersten Hörspiels, das die BBC ausstrahlte, aus den lichtlosen Tiefen eines Bergwerks. "Unterhaltungsrundfunk für alle" nannten die Radiopioniere im Berliner Vox-Haus am Potsdamer Platz 1923 ihr Programmangebot. Es sollte "zerstreuen und ein wenig bilden". Von diesen Anfängen in der Weimarer Republik über NS-Diktatur, Besatzungszeit und das geteilte Deutschland bis heute in die Zeit der Digitalisierung und Zielgruppenorientierung reicht diese Kulturgeschichte des Radios - ein willkommenes Kompendium und ein Vademecum und Erinnerungsalmanach zum Kulturgut Radio in Deutschland.

Beide Autoren haben selbst Radiogeschichte geschrieben. Koch als Hauptabteilungsleiter beim Saarländischen Rundfunk, Glaser als Verfasser zahlreicher Radiosendungen. Beide Autoren haben ihren wesentlichen Anteil daran, dass die Kulturwelle des Saarländischen Rundfunks heute - im Gegensatz zu Mittelmaßprodukten wie beim Hessischen Rundfunk oder beim RBB in Berlin - zu den anspruchsvollsten und erfolgreichsten Programmangeboten ihrer Art in der ARD gehört.

Koch und Glaser lieben das Radio - vielleicht "das größte Geschenk der technischen Intelligenz an die Menschheit", wie Adolf Grimme vermutete. "Ganz Ohr" schildert die wechselvollen politischen, ökonomischen und intellektuellen Bedingungen, unter denen Radio in Deutschland veranstaltet wurde - wie die Zeit die Radioprogramme prägte und wie das Radio Einfluss auf seine Zeit nahm. Radio war, wie die Autoren deutlich machen, stets ein wichtiger Faktor für die kulturgeschichtliche Entwicklung. Es funktionierte jedoch nie nach den Gesetzen des Marktes, weder am Anfang, als der Hörfunk - wie Brecht sagte - "auf die Öffentlichkeit" wartete, noch im heutigen dualen System mit privat-kommerziellem und öffentlich-rechtlichem Rundfunk.

Die Zeiten haben sich gewandelt, und mit ihnen Lebensumstände und Hörgewohnheiten. Kochs und Glasers einzige Maxime ist das Radio als Kulturinstitution. Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist rast- und ruhelos, er eilt und fährt, oft genug im Auto. Er sitzt nicht mehr mit seinen Lieben daheim am Radioapparat wie ehedem am Lagerfeuer, um sich aufzutun für das, was aus dem Lautsprecher tönt. Wir haben die "innere Sammlung" verloren, sagte schon Adolf Grimme. Das Radio hat seine Stimme verloren, sagen andere, weil allein der Begriff "Wortsendung" heute für Rundfunkleute und Rezipienten oft genug etwas Peinliches assoziiert.

Folgerichtig stoßen wir in "Ganz Ohr" auf jenes Dokument, das Jurek Becker ("Jakob der Lügner", "Liebling Kreuzberg") 1995, zwei Jahre vor seinem Tod, für den "Spiegel" verfasste: "Die Institution Radio verwahrlost" - eine Hommage an die "Radio Days" und ein Trauergesang auf die Radiostationen, die sich in Programm und Management selbst verstümmeln.

Es liest sich fast schon wie ein Bericht aus Utopia, wenn er schreibt: "Ich war mit Amundsen im ewigen Eis und mit der Stadtreporterin bei Taubenzüchtervereinen. Ich war dabei, als Max Schmeling in der Berliner Waldbühne boxte, zusammen mit einem Reporter, dessen Stimme ich heute noch, nach 47 Jahren, unter Hunderten erkennen würde. Ich erinnere mich an Radiogeschichten von Jules Verne, an den unglaublichen Tonfall von Pelz von Felinau, den ich monatelang zu imitieren versuchte. Eine Zeitlang war ich süchtig nach Hörspielen. Ich habe mir die Anfangszeiten in Schulhefte geschrieben und bin selbst vom Fußballplatz nach Hause gelaufen, um bloß keinen Anfang zu verpassen." Und wenn Becker dann seine Frau zitiert, sie habe den Eindruck, "die Radiosender würden mehr und mehr von Fast-Food-Ketten bewirtschaftet", dann sind wir wieder mit dem Radio ganz in der Gegenwart.

Hans Jürgen Koch und Hermann Glaser haben das alles im Streifzug durch die Radiogeschichte trefflich kompiliert. Und einmal mehr wird hier deutlich, dass die Technik vor mehr als 80 Jahren ein Medium entwickelt hat, mit dem der Mensch sich wieder und wieder auf die Suche nach dem Menschen macht - ungeachtet aller Veränderungen und (zumeist nur scheinbaren) Reformen.


Hans Jürgen Koch, Hermann Glaser

Ganz Ohr. Eine Kulturgeschichte des Radios.

Böhlau Verlag, Köln 2005; 376 S., 26,90 Euro


Alexander Kulpok hat beim früheren SFB in Berlin viele Sendungen mitaufgebaut und geprägt. Heute ist er Vorsitzender des Berliner Journalisten-Verbandes.

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