|
|
Alexander Kulpock
Programmauftrag: "Zerstreuen und ein wenig
bilden"
In der Geschichte des Radios spiegelt sich die
deutsche Geschichte
Wenn die Bilder im Kopf entstehen, wandelt die Unterhaltung auf
höchstem Niveau. Nicht von ungefähr tönen Stimmen
und Geräusche des allerersten Hörspiels, das die BBC
ausstrahlte, aus den lichtlosen Tiefen eines Bergwerks.
"Unterhaltungsrundfunk für alle" nannten die Radiopioniere im
Berliner Vox-Haus am Potsdamer Platz 1923 ihr Programmangebot. Es
sollte "zerstreuen und ein wenig bilden". Von diesen Anfängen
in der Weimarer Republik über NS-Diktatur, Besatzungszeit und
das geteilte Deutschland bis heute in die Zeit der Digitalisierung
und Zielgruppenorientierung reicht diese Kulturgeschichte des
Radios - ein willkommenes Kompendium und ein Vademecum und
Erinnerungsalmanach zum Kulturgut Radio in Deutschland.
Beide Autoren haben selbst Radiogeschichte geschrieben. Koch als
Hauptabteilungsleiter beim Saarländischen Rundfunk, Glaser als
Verfasser zahlreicher Radiosendungen. Beide Autoren haben ihren
wesentlichen Anteil daran, dass die Kulturwelle des
Saarländischen Rundfunks heute - im Gegensatz zu
Mittelmaßprodukten wie beim Hessischen Rundfunk oder beim RBB
in Berlin - zu den anspruchsvollsten und erfolgreichsten
Programmangeboten ihrer Art in der ARD gehört.
Koch und Glaser lieben das Radio - vielleicht "das
größte Geschenk der technischen Intelligenz an die
Menschheit", wie Adolf Grimme vermutete. "Ganz Ohr" schildert die
wechselvollen politischen, ökonomischen und intellektuellen
Bedingungen, unter denen Radio in Deutschland veranstaltet wurde -
wie die Zeit die Radioprogramme prägte und wie das Radio
Einfluss auf seine Zeit nahm. Radio war, wie die Autoren deutlich
machen, stets ein wichtiger Faktor für die
kulturgeschichtliche Entwicklung. Es funktionierte jedoch nie nach
den Gesetzen des Marktes, weder am Anfang, als der Hörfunk -
wie Brecht sagte - "auf die Öffentlichkeit" wartete, noch im
heutigen dualen System mit privat-kommerziellem und
öffentlich-rechtlichem Rundfunk.
Die Zeiten haben sich gewandelt, und mit ihnen
Lebensumstände und Hörgewohnheiten. Kochs und Glasers
einzige Maxime ist das Radio als Kulturinstitution. Der Mensch des
21. Jahrhunderts ist rast- und ruhelos, er eilt und fährt, oft
genug im Auto. Er sitzt nicht mehr mit seinen Lieben daheim am
Radioapparat wie ehedem am Lagerfeuer, um sich aufzutun für
das, was aus dem Lautsprecher tönt. Wir haben die "innere
Sammlung" verloren, sagte schon Adolf Grimme. Das Radio hat seine
Stimme verloren, sagen andere, weil allein der Begriff
"Wortsendung" heute für Rundfunkleute und Rezipienten oft
genug etwas Peinliches assoziiert.
Folgerichtig stoßen wir in "Ganz Ohr" auf jenes Dokument,
das Jurek Becker ("Jakob der Lügner", "Liebling Kreuzberg")
1995, zwei Jahre vor seinem Tod, für den "Spiegel" verfasste:
"Die Institution Radio verwahrlost" - eine Hommage an die "Radio
Days" und ein Trauergesang auf die Radiostationen, die sich in
Programm und Management selbst verstümmeln.
Es liest sich fast schon wie ein Bericht aus Utopia, wenn er
schreibt: "Ich war mit Amundsen im ewigen Eis und mit der
Stadtreporterin bei Taubenzüchtervereinen. Ich war dabei, als
Max Schmeling in der Berliner Waldbühne boxte, zusammen mit
einem Reporter, dessen Stimme ich heute noch, nach 47 Jahren, unter
Hunderten erkennen würde. Ich erinnere mich an
Radiogeschichten von Jules Verne, an den unglaublichen Tonfall von
Pelz von Felinau, den ich monatelang zu imitieren versuchte. Eine
Zeitlang war ich süchtig nach Hörspielen. Ich habe mir
die Anfangszeiten in Schulhefte geschrieben und bin selbst vom
Fußballplatz nach Hause gelaufen, um bloß keinen Anfang
zu verpassen." Und wenn Becker dann seine Frau zitiert, sie habe
den Eindruck, "die Radiosender würden mehr und mehr von
Fast-Food-Ketten bewirtschaftet", dann sind wir wieder mit dem
Radio ganz in der Gegenwart.
Hans Jürgen Koch und Hermann Glaser haben das alles im
Streifzug durch die Radiogeschichte trefflich kompiliert. Und
einmal mehr wird hier deutlich, dass die Technik vor mehr als 80
Jahren ein Medium entwickelt hat, mit dem der Mensch sich wieder
und wieder auf die Suche nach dem Menschen macht - ungeachtet aller
Veränderungen und (zumeist nur scheinbaren) Reformen.
Hans Jürgen Koch, Hermann Glaser
Ganz Ohr. Eine Kulturgeschichte des Radios.
Böhlau Verlag, Köln 2005; 376 S., 26,90
Euro
Alexander Kulpok hat beim früheren SFB in Berlin viele
Sendungen mitaufgebaut und geprägt. Heute ist er Vorsitzender
des Berliner Journalisten-Verbandes.
Zurück zur
Übersicht
|