Ludwig Watzal
Zähe Durchsetzung neuer Ideen
Ein großes Buch über den Wandel im
katholischen Staatsdenken
Das katholische Staatsdenken war über
Jahrhunderte eine Hochburg des Klerus. Erst nach der
Französischen Revolution 1789 wurde es von Laien
mitgeprägt: in Frankreich traditionalistisch-reaktionär,
in Deutschland romantisch. Mit dem Konstitutionalismus 1848
entsteht in Ansätzen ein Liberalkatholizismus, der Forderungen
nach Grundrechten und parlamentarischer Vertretung erhebt. Die
katholische Kirche tat sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein
schwer mit dem säkularen Staat, mit
Volkssouveränität, Demokratie und Menschenrechten.
Rudolf Uertz, Privatdozent an der
Katholischen Universität Eichstätt und Referent in der
Konrad-Adenauer-Stiftung, widerspricht den Vertretern der
Kontinuitätsthese, die Altes aus den historischen
Umständen und Neues als Resultat der Anwendung immer
gültiger Prinzipien auf neue Umstände interpretieren. Er
vertritt die These vom Paradigmenwechsel innerhalb der katholischen
Staats- und Soziallehre. Ihm gelingt es, das enge neuscholastische
Naturrechtsdenken zugunsten eines auf das Gewissen des Einzelnen
als sittlicher Instanz gründenden Entscheidungskriteriums
aufzubrechen.
Diesen Schritt hin zum christlichen
Personalismus, sprich Freiheit der Person, hätte die
katholische Staatslehre nach Ansicht des Autors schon Jahrhunderte
früher vollziehen sollen. Erst dadurch sei Staatsrechtsdenken
im liberalen Sinne möglich geworden. Ein wichtiger Wegbereiter
des Personalismus war der Franzose Jacques Maritain. Seine Ideen
fanden zuerst bei den Laien Gehör, bis die Kirche sie
später nachvollzogen hatte.
Der Autor trifft eine wichtige Entscheidung,
die bis heute zwischen der dominikanischen und der jesuitischen
Denkschule heftig umstritten ist: er entscheidet sich für
einen freiheitlichen Personalismus und für das Gewissen als
oberster Instanz. Damit bezieht er eine klare Gegenposition zum
organischen Naturrechtsdenken der Dominikaner. Erst durch die
Überwindung des neuscholastischen Denkens habe das katholische
Staatsdenken ein positives Verhältnis zu Demokratie und
Menschenrechten entwickeln können.
Selbst ein so fortschrittlicher Denker wie
der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning habe noch in den
50er-Jahren seine Schwierigkeiten gehabt, die berufsständische
Ordnung mit dem liberalen Verfassungsstaat zu versöhnen. Auch
habe sich von Nell Breuning mit keinem Wort gegen das Staatsdenken
der Päpste gewandt. Gemäß dem Gemeinwohlprinzip als
oberster sozialethischer Norm konnte sich die Kirche nur neutral
gegenüber dem Staat verhalten. Folgerichtig bewertete man
katholische Vereinsinteressen als höherwertig als den Schutz
von Verfassung und Grundrechten.
Eine Perle gefunden
Uertz hat in dieser profunden Arbeit eine
"Perle" ausgegraben: Die Schrift von Robert Linhardt
"Verfassungsreform und katholisches Gewissen", die fünf Tage
vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 25. Januar 1933
in München erschienen war. Darin unterzieht der Autor die
katholische Sozialdoktrin einer beißenden Kritik. Diese
Schrift ist der erste und der einzige Beleg dafür, dass es
katholischerseits bereits damals eine Kritik an der
neuscholastischen Staatslehre der Kirche gab.
Linhardt kritisierte die unhistorischen
Deutungen der katholischen Naturrechtsdogmatik. In
verfassungsrechtlichen Frage gebe es keine Mitte zwischen
Individualismus und Sozialismus. Er forderte spätestens seit
1933 vom "katholischen Gewissen" einen Rekurs auf die liberalen
Grundrechte. Linhardt war Moraltheologe an der theologischen
Hochschule in Freising und Ehrenkanonikus von St. Kajetan in
München. Er wurde 1945 von Kardinal Faulhaber abberufen,
obwohl er erst 50 Jahre alt war. Die Gründe für diese
Entlassung sind bis heute ungeklärt. Linhardt starb am 16.
Januar 1981 in München.
Bereits 1961 hatte der ehemalige
Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde dem
deutschen Katholizismus von 1933 bescheinigt, dass die Treue zur
bestehenden geschichtlichen Verfassung keinen naturrechtlichen Ort
hatte, will heißen: Vom neuscholastischen Naturrechtsdenken
konnte man gemäß dem Gemeinwohlprinzip als oberster Norm
nur die Neutralität gegenüber der Staatsform ableiten.
Nach der legalen Machtergreifung Hitlers sah sich die Kirche
aufgrund ihrer moraltheologischen Prinzipien denn auch schon bald
veranlasst, den Anspruch der "rechtmäßigen Obrigkeit" auf
Gehorsam seitens der Katholiken einzufordern.
Die in drei Kapitel gegliederte Arbeit
lässt erkennen, welcher ideengeschichtliche Zeitraum
durchschritten worden ist. Es ist gewichtige und schwere Kost, die
für den Laien dennoch les- und verstehbar präsentiert
wird. Dieses ,Opus magnum' arbeitet ein Kapitel katholischen
Staatsdenkens auf, das überfällig war. In die
Wissenschaftsgeschichte dürfte es als "Klassiker" eingehen.
Für die politische Bildung ist dieses Werk besonders wichtig,
da es Einblicke in Grenzfragen zwischen Religion und Politik
bietet. Darüber hinaus zeigt es den Stellenwert eines
liberalen Katholizismus im politischen Geschehen auf.
Rudolf Uertz
Vom Gottesrecht zum
Menschenrecht.
Das katholische Staatsdenken in
Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II.
Vatikanischen Konzil (1789 - 1965).
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn
2005; 552 S., 59 ,- Euro.
Der Autor ist Historiker und Redakteur der dieser Zeitung
beigefügten Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte" in
Bonn.
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