|
|
Ute Grundmann
Chemie und Braunkohle prägten Jahrzehnte das
Land
Die Industrieregion Bitterfeld nördlich von
Leipzig als Symbol des ständigen industriellen Wandels in
Deutschland
Bitterfeld? Chemiedreieck, Dreckschleudern,
europäische Umweltkatastrophe. Das wird den meisten zur Stadt
nördlich von Leipzig einfallen. Vielleicht noch der
"Bitterfelder Weg", mit dem die SED die Künstler der DDR
Richtung "sozialistischer Realismus" schickte und Laien mit dem
Slogan "Greif zur Feder Kumpel, die sozialistische Nationalkultur
braucht Dich" zum Schreiben animieren wollte. Den Fluss Mulde
machte erst das August-Hochwasser 2002 bekannt.
Aber es gab eine Zeit, in der man zumindest
den lokalen und regionalen Bedarf an Altarwein aus den hier
erzielten Erträgen decken konnte. So beweisen es
Klosterrechnungen von Brehna. Gräfenhainichen etwa war um 1380
vom Hopfenanbau geprägt, im 18. Jahrhundert dann vom
Tabakanbau. Land- und Forstwirtschaft bestimmten bis Mitte des 19.
Jahrhunderts den Raum, vor allem Weizen und Zuckerrüben wurden
angebaut. Damals standen noch über 100 Wind- und
Wassermühlen in der Region. Die Gemeinden Brehna,
Jeßnitz, Raguhn, Bitterfeld, Gräfenhainichen und
Zörbig waren bis spätestens Ende des 15. Jahrhunderts
urkundlich erwähnt.
Gräfenhainichen etwa, das westliche Tor
zur Dübener Heide, war Sitz eines kursächsischen Amtes,
später, 1867 bis 1878, einer preußischen Garnison und von
1950 bis 1994 Kreisstadt. Heute gehört es zum Landkreis
Wittenberg. Rund drei Kilometer um die Stadtmitte sind
bronzezeitliche Siedlungen und mehrere Hügelgräberfelder
nachgewiesen. Zwei (von vier) verbliebene Tortürme markieren
noch heute die mittelalterliche Stadt. Ackerbau, Handwerk und
Bierbrauereien bestimmten das wirtschaftliche Leben der Stadt, in
der um 1800 von 1000 Einwohnern 92 Handwerksmeister waren. 1859
entstand der Bahnhof, 1874 wurde die erste Druckerei
angesiedelt.
Bitterfeld wurde bereist 1224 erstmals in
einer Urkunde erwähnt. 1925 wurde bei Erdarbeiten das
"Bitterfelder Kreuz", ein bronzenes Vortragekreuz aus der Zeit um
1200, entdeckt. Bitterfeld war eine Ackerbürgerstadt; um 1800
dominierten Gewerbe, die landwirtschaftliche Erzeugnisse und
Rohstoffe verarbeiteten. Später prägten Tuchmacher und
Töpfer das Wirtschaftsleben, 1839 lief in einer Tuchmacherei
die erste Dampfmaschine der Stadt.
Dorf "bei den Wölfen"
Und Wolfen, 1400 erstmals als Dorf "bei den
Wölfen", also nahe am Waldrand, erwähnt, war ein
entlegenes, wenig bedeutendes Bauern- und Leineweberdorf mit etwa
20 Hofstellen und einem Rittergut. Hier und in der ganzen Region
sollte der Beginn des Kohlebergbaus den Charakter völlig
verändern; in Wolfen hatte der Bergbau schon vor dem Ersten
Weltkrieg die Landwirtschaft fast verdrängt.
Der Beginn großflächigen Bergbaus
auf Braunkohle geht auf den Bitterfelder Tuchfabrikanten Johann
David Schmidt zurück, der 1839 auf dem Pomselberg am Kreuzeck
südlich von Bitterfeld die Grube "Auguste" eröffnete. Die
Grube "Johannes" bei Wolfen folgte 1845. Ab 1880 wurde auch in
Greppin Braunkohle, aber auch wertvolle Braunkohlentone für
Verblendziegel und Terrakotten gefördert. Ab 1888 wurde bei
Golpa und später auch bei Zschornewitz großflächig
und mit schwerer Technik abgebaut.
Noch beherrschte man die Wasserhebung nicht.
Viele Gruben soffen im Grundwasser ab - in der "Deutschen Grube"
lief ab 1850 die erste Dampfmaschine, die das Grundwasser abpumpte.
Wurde anfangs mit Hacke und Schaufel gegraben, die Kohle auf Karren
und mit Pferdefuhrwerken transportiert, arbeitete ab 1965 das
größte Gerät im Tagebau "Muldenstein": der
"Europabagger", der mit seiner Eimerkette ein Volumen von 2240
Tonnen Lockermaterial erreichte. Insgesamt wurde zwischen 1839 und
1993 in 50 Gruben, überwiegend im Tagebau, Braunkohle
abgebaut.
Dass die Bitterfelder Kohle wegen ihres hohen
Wassergehaltes weniger Heizwert hatte, erwies sich später, bei
der Ansiedlung von Chemieindustrie und der Energiegewinnung, als
Standortvorteil. Ein weiterer Vorteil der Region war die gute
Verkehrsanbindung: Südöstlich des Bitterfelder
Stadtkerns, in Höhe Holzweißig, kreuzen sich zwei
ältere Verkehrswege. Die heutige Bundesstraße 184 schuf
von Nordwesten die Verbindung von Dessau nach Leipzig, die Strecke
von Südwesten nach Nordosten verbindet Halle an der Saale mit
Wittenberg. Die heutige Bundesstraße 100 war bereits 1823 als
Chaussee ausgebaut.
Zwischen 1840 und 1860 erreichte der Bau der
Eisenbahn einen ersten Höhepunkt; bereits 1840 gab es die
durchgehende Verbindung Magdeburg-Leipzig, - die erste Eisenbahn,
die Grenzen von Staaten des Deutschen Bundes überschritt.
Weitere Bahnstrecken verbanden den Bitterfelder Raum
schließlich mit Berlin, den preußischen Provinzen, mit
Anhalt, Sachsen und dem thüringischen Staatenverbund. Und auch
die Reichsautobahn bekam für die Region große Bedeutung:
1936 entstand der erste Autobahnknoten Schkeuditzer Kreuz, wo sich
heute die Autobahn 9 (Berlin-Nürnberg) und die Autobahn 14
(Görlitz-Magdeburg) kreuzen.
Diese Standortvorteile der Region erkannte
auch Walther Rathenau. Er war während des Aufbaus des Werkes
der Berliner Elektrochemischen Werke in Bitterfeld
Geschäftsführer und lebte in der Stadt. Er blieb bis 1907
Geschäftsführer des Bitterfelder Werkes, auch wenn er
inzwischen in Berlin wohnte. Die Etablierung der Großchemie
vollzog sich zwischen 1893 und 1909, in einem industriellen Kern um
Bitterfeld und die Gemeinden Greppin, Wolfen, Sandersdorf und
Holzweißig. Die immer noch intensiv betriebene Landwirtschaft
diente nun der Versorgung der Werke, der Arbeiter und ihrer
Familien.
Auch die Aktiengesellschaft für
Anilinfabrikation Berlin (AgfA) siedelte sich an; die Greppiner
Farbenfabrik wurde 1895, auf Betreiben Rathenaus, eröffnet.
Kraftwerke auf Braunkohlenbasis entstanden: 1915 das damals
größte in Zschornewitz, das den Großraum Berlin mit
Elektrizität versorgen sollte.
Im Ersten Weltkrieg wurden die Chemiebetriebe
in die Kriegswirtschaft einbezogen; sie produzierten
Salpetersäure und chemische Kampfstoffe wie Phosgen. In einem
Konzentrationsprozess, der zur Gründung der IG Farben
führte, wurden den Werken spezielle Aufgaben zugewiesen. PVC
wurde in der Region seit 1936 hergestellt, auch für den Bedarf
der AgfA-Filmfabrik. Hier wurde die erste vollsynthetische Faser
entwickelt, die PeCe-Faser, die zu Fallschirmseide verarbeitet
wurde. Die Wolfener Farbenfabrik wurde erweitert, sie stellte auch
den gefürchteten Kampfstoff Diphosgen (Grünkreuz) her,
unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gab es eine enorme
Steigerung bei der Herstellung von Chlor, Phosphor und
Explosivstoffen.
Demontagen
Die Region wurde im Krieg sehr viel weniger
zerstört als andere. Nach der Demontage von etwa 55 Prozent
der Elektrochemie und 60 Prozent der Filmfertigung durch die
Sowjets begann nach 1945 in Bitterfeld schrittweise der Aufbau der
Produktion von Grundchemikalien, Düngemitteln und
Gebrauchsgütern aus Aluminium (Geschirr) und PVC (Schuhe,
Schürzen). Später wurde hier auch die Suppenwürze
BINO (Bitterfeld Nord) und Zahnpasta hergestellt.
In der Farbenfabrik Wolfen entstanden
Lösungsmittel und Pharmazeutika. 1958 gab es eine Kampagne zum
Siebenjahrplan "Chemieprogramm zur Chemisierung der gesamten
Volkswirtschaft" mit dem Motto "Chemie gibt Wohlstand, Brot und
Schönheit". Bitterfeld wurde die "Apotheke der
Volkswirtschaft" genannt, mit 260.000 Tonnen pro Jahr war das Werk
der größte Chlorhersteller der DDR.
Bitterfeld und Wolfen waren über viele
Jahre mit innovativen Entwicklungen der Chemischen Industrie
verbunden. Hier wurden Weltneuheiten wie Anilinfarbe, Kunststoffe
auf Plastbasis entwickelt, ebenso der erste mehrschichtige
Kinefarbfilm der Welt (ORWO - "Original Wolfen" hieß es
später) und die Polyamidfaser Perlon/Dederon. Doch
spätestens in den 50er-Jahren waren viele Anlagen veraltet
oder verschlissen, technologisch rückständig. Fehlender
Umweltschutz sorgte für große Beeinträchtigungen von
Mensch und Natur. 50 Millionen Kubikmeter Rückstände
wurden in aufgelassenen Tagebauen entsorgt. Erst 1988 gab es ein
Klärwerk für die Chemieproduktion, womit die 1915 gebaute
Chloratanlage ersetzt wurde.
Nach der Wende verloren die Standortvorteile
und die traditionelle Produktpalette ihre Bedeutung, Kosten- und
Altersstruktur waren von Nachteil. Es gab Teilprivatisierungen,
etwa bei der Chlor- und Phosphorchemie. Die Chemie AG
Bitterfeld-Wolfen und die Filmfabrik Wolfen AG gingen 1994 in
Konkurs. Alte Anlagen wurden abgerissen, erhaltene modernisiert,
und so entstand der Chemie-Park Bitterfeld-Wolfen der Firmengruppe
Preiss-Daimler.
Nach der Zeit der
Ackerbürgerstädte, dann der Großchemie und des
Tagebaus begann für die Region mit der Wende eine neue,
radikale Veränderung. Die Städte, einst für die
Werksarbeiter großflächig erweitert, verloren bis zu
einem Viertel ihrer Bewohner. In Wolfen begann man 1999 mit dem
"Rückbau" von Plattenwohnhäusern. In Gräfenhainichen
entwickelten sich neue Branchen wie Metall- und Stahlbau, Bau- und
Druckgewerbe sowie Handwerk. Heute ist der 1927 fertiggestellte, 37
Meter hohe Wasserturm ein markantes Element in der Silhouette der
Stadt, in der 1607 Paul Gerhardt geboren wurde, der nach Luther
bedeutendste evangelische Liederdichter. Und nahe der Stadt kam der
Astronom Johann Gottfried Galle zur Welt, der den Planeten Neptun
entdeckte.
Den größten Wandel erfährt die
Natur in dieser Region und damit auch die Umwelt. Das Staatliche
Forstamt Bitterfeld bemüht sich, Natur- und Umweltschutz mit
der Forstwirtschaft in einer von Bergbau und Industrie
geprägten Landschaft in Einklang zu bringen. Im Landkreis
Bitterfeld gibt es heute 21 größere
Landwirtschaftsbetriebe. Einer gehört der öffentlichen
Hand: Das Rittergut Greppin kam schon 1581 zur Stadt Bitterfeld.
Die Muldenaue, einst ausgeprägte regionale Schadstoffsenke
für Abwässer, erholt sich.
Und die Tagebaue werden renaturiert und
aufgeforstet. So "Golpa Nord", nördlichster der ehemaligen
Großtagebaue, der bis vor die Tore von Gräfenhainichen
reicht. 1959 aufgeschlossen, wurden dort bis Oktober 1991 circa 70
Millionen Tonnen Kohle gefördert. Seitdem wurden mehr als 15
Millionen Kubikmeter Abraum bewegt und Böschungen gestaltet.
Seit 2000 wird der Tagebau geflutet für einen Tagebaurestsee,
der 2005 fertig sein soll. Dafür gibt es eine 12,5 Kilometer
lange Rohrleitung, die eine Pumpstation bei Altjeßnitz mit dem
Restloch verbindet.
Gefluteter Tagebau
Auch der Muldenstausee ist ein gefluteter
Tagebau, aus dem zwischen 1955 und 1975 126 Millionen Tonnen Kohle
gefördert wurden. Heute führen 20 Kilometer Naturpfade
und Wege um den See herum; Gänse, Kormorane und Lappentaucher
sind wieder heimisch, man findet dort eine große Biberburg des
Elbebibers. Der ist auch im Naturschutzgebiet "Untere Mulde" zu
Hause, 1137 Hektar von der Mulde-Mündung bis Steinberg bei
Muldenstein. 147 Vogelarten sind dort angesiedelt, 31 Arten kommen
als Durchzügler oder Wintergäste. Waldkauz- und
Weißstorchpaare sind zu beobachten.
Und aus 65 Quadratkilometern Folgelandschaft
und 23,6 Quadratkilometer Wasserfläche aus Restseen ist
inzwischen die "KulturLandschaft Goitzsche" entstanden. Wo von 1949
bis 1991 Kohle gefördert wurde, siedelte sich heute das
Bauhaus-Projekt "Industrielles Gartenreich" an. Es wurde ein
architektonisch-künstlerisches Konzept entworfen, um die
Landschaft als touristisches Ziel in Mitteldeutschland anziehend zu
machen.
Ein besonderes Denkmal hat man dem Bergbau in
Ferropolis (nahe Gräfenhainichen) gesetzt. Aus fünf
Tagebaugroßgeräten wurde die "Stadt aus Eisen", - auf der
Halbinsel des Gremminer Sees, der noch geflutet wird. Dies ist die
äußere Kulisse für eine Freiluftarena, die 25.000
Besucher fasst und in der Konzerte und Veranstaltungen zum Erhalt
des Denkmalensembles veranstaltet werden.
Ein Förderverein betreut die eiserne
Stadt; die Schaltware der Verteilerstation, Schlosser- und
Elektrowerkstatt können besichtigt werden. Fotoausstellungen
erinnern an Tagebauverfahren und die verlorenen Gemeinden Gremmin
und Golpa. Der englische Bühnendesigner Jonathan Park
schließlich taufte die Eisenriesen auf Namen wie "Mosquito",
"Mad Max" und "Gemini". So wurde das Sinnbild des Wandels in der
Region auch zu einem Kunstobjekt.
Bibilografischer Hinweis:
Bitterfeld und das untere
Muldental.
Band 66 der Reihe "Landschaften in
Deutschland. Werte der deutschen Heimat".
Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien
2004;
367 S., 29,90 Euro.
Ute Grundmann arbeitet als freie Journalistin zu kulturpolitischen
Themen in Leipzig.
Zurück zur Übersicht
|