Beate Bahnert
Aus für ein sächsisches Universalgenie
?
Die Wilhelm-Ostwald-Gedenkstätte in
Großbothen soll schließen
Die Besucher, die sich auf einen Besuch der
Wilhelm-Ostwald-Gedenkstätte Großbothen gefreut hatten,
stehen seit einem Monat vor verschlossenen Türen. Das
Sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst hat mit
Jahresbeginn 2005 jede finanzielle Unterstützung für die
Einrichtung eingestellt. Die Gesellschaft und mit ihr die
Gedenkstätte musste sämtliche Verträge
kündigen. Auch eine ordentliche Übergabe des Inventars
ist nicht möglich.
Die Ostwaldgedenkstätte ist mitnichten irgendein Museum.
Der Naturforscher Wilhelm Ostwald (1853 - 1932), Mitbegründer
der physikalischen Chemie, Nobelpreisträger für Chemie
des Jahres 1909, hat neben Arbeiten zur physikalischen Chemie
zahlreiche Veröffentlichungen auf den Gebieten der Philosophie
(Naturphilosophie), Kreativitätsforschung,
Wissenschaftsorganisation und Farbenlehre vorgelegt. Sie sind zum
Teil von erstaunlicher Aktualität. Es ist der umfangreichste
Wissenschaftlernachlass des 20. Jahrhunderts in Deutschland.
Der Universalgelehrte und Maler hatte für seine Arbeit den
Landsitz "Energie" in Großbothen bei Leipzig erworben. Er
gehört einer aktuellen Einstufung zufolge zu den elf
bedeutendsten wissenschaftshistorischen Stätten der Welt. Der
Landsitz umfasst sieben Hektar Park und Wiesen und fünf
Gebäude. In der Bibliothek sind 22.000 Bände, etwa 10.000
Sonderdrucke sowie aus eigener Feder 45 Lehrbücher,
Monographien und Aufsatzsammlungen in den meisten Kultursprachen
untergebracht. Hinzu kommen, mehr als 1.500 Referate und 2.000
Buchbesprechungen, über 60.000 Positionen Briefwechsel mit
5.500 Partnern, mehr als 4.000 Gemälde und Farbstudien, viele
selbstgebaute wissenschaftliche Geräte und andere Unikate, der
Nobelpreis mit Medaille und Urkunde sowie zahlreiche weitere
Auszeichnungen und Würdigungen.
Seinen Landsitz "Energie" hatte Ostwald zu einem autarken
Anwesen ausgebaut, in dem seine große Familie optimal
wirtschaften konnte, weil die nötigen Energien in Form von
Gas, Wasser und Strom selbst gewonnen wurden. Der Landsitz mit dem
programmatischen Namen steht für den ganzheitlich gedachten
Lebensentwurf eines schöpferischen Geistes.
Um diesen Wert zu erhalten, zerteilten und verkauften Ostwalds
Erben den Nachlass nicht, sondern schenkten ihn 1953 geschlossen
dem Staat. Damit war die Akademie der Wissenschaften der DDR in die
Pflicht genommen, eine öffentlich zugängliche
Gedenkstätte einzurichten sowie den Nachlass zu pflegen und
herauszugeben. Fortan gab es wechselvolle Nutzungen einzelner
Bereiche. 1978 wurde von der Akademie in den Arbeitsräumen
eine Gedenkstätte eingerichtet, im selben Jahr der gesamte
Landsitz unter Denkmalschutz gestellt.
Mit der Wiedervereinigung und der Auflösung der Akademie
der Wissenschaften der DDR war der Nachlass zunächst
herrenlos. Seitdem kümmert sich die
Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft zu Großbothen mit internationaler
Beteiligung um die Funktionsfähigkeit des Landsitzes, sanierte
die Gebäude und schuf gute Bedingungen zu kreativer Arbeit in
einer Tagungsstätte. 1994 war der Landsitz einschließlich
des beweglichen Nachlasses vermögensrechtlich dem Eigentum des
Freistaates Sachsen zugeordnet worden.
Das Land sah bisher keine Veranlassung, die Gedenkstätte in
den Landeshaushalt einzustellen, und es hat jetzt auch
sämtliche Projektförderungen herausgestrichen. Das
Sächsische Ministeriums für Wissenschaft und Kunst schlug
neuerdings den universalen wie genialen Chemiker dem Bereich
"Kunst" zu, obwohl sich niemand der möglicherweise
Zuständigen je ein Bild vor Ort gemacht hat. So wurde der
erste Nobelpreisträger Sachsens abgeschafft.
Inzwischen hagelt es Proteste aus aller Welt. Im
Petitionsausschuss des Landtages bekamen die Abgeordneten aus dem
Muldentalkreis die Angelegenheit auf den Tisch. Landkreis und
Kommune haben begriffen, was die Staatsregierung noch lernen muss:
Geschenkt ist geschenkt, und Eigentum verpflichtet. Vielleicht ist
das Erbe eines der größten Sachsen noch nicht
verloren.
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