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Michael Edinger / Andreas Hallermann
Reformbereitschaft mit Grenzen
Der Umbau des Sozialstaats spaltet die
Thüringer
Um den deutschen Sozialstaat scheint es schlecht bestellt zu
sein - diesen Eindruck muss gewinnen, wer die Reformdebatten der
jüngsten Zeit verfolgt. Was aber meinen die Bürger? Was
erwarten sie vom Staat und wie stehen sie zum sozialstaatlichen
Status quo? Welche Reformen finden ihre Unterstützung? Diese
Fragen stellen sich vor dem doppelten Hintergrund hoher
Arbeitslosigkeit und der Erfahrungen mit der Versorgungsdiktatur
DDR für Ostdeutschland mit besonderer Dringlichkeit. Nicht
zufällig lag hier vor wenigen Monaten der Schwerpunkt der
Proteste gegen Hartz IV. Der jüngste "Thüringen-Monitor",
eine Repräsentativbefragung zur politischen Kultur, gibt
für ein ostdeutsches Land Aufschluss über die
Einstellungen der Bürger zur Reform des Sozialstaats.
Die im Westen verbreitete Vorstellung, dass die Ostdeutschen vor
allem egalitär und staatsfixiert denken, findet sich in den
Thüringer Daten erst einmal nicht bestätigt. Jeweils 60
Prozent der Befragten räumen im Konfliktfall der Freiheit
Vorrang vor der Gleichheit ein und akzeptieren
Einkommensunterschiede als Leistungsanreiz. Nur jeder Vierte
definiert Gleichheit im Sinne einer gleichen Güterverteilung,
das heißt als materielle Gleichheit. Vier von fünf
Bürgern meinen, dass die Menschen sich nicht so viel auf den
Staat verlassen, sondern ihre Probleme stärker selbst in
Angriff nehmen sollten. All diese Antworten zeugen eher von der
Bereitschaft zur Eigenverantwortung als von Gleichmacherei.
Freilich dokumentiert der "Thüringen-Monitor" auch andere
Ergebnisse. Vor die Wahl zwischen Freiheit und Sicherheit gestellt,
optieren zwei Drittel der Befragten für letztere. Große
Mehrheiten meinen, der Staat habe große, wenn nicht gar sehr
große Verantwortung für die Schaffung von
Arbeitsplätzen, die Behandlungskosten bei Krankheit, die
Stabilität der Renten und die Pflege alter Menschen. Drei
Viertel sehen den Staat gar als Schuldigen für die
problematische demographische Entwicklung in Deutschland.
In der Gesamtschau treten Spannungsfelder zu Tage, die wohl auch
für Ostdeutschland insgesamt typisch sein dürften: So
wird Eigenverantwortung groß geschrieben, zugleich aber nach
umfassendem staatlichen Handeln verlangt; einerseits bekennen sich
die Befragten zur Freiheit, andererseits dominiert der Wunsch vor
allem nach sozialer Sicherheit. So spricht sich eine deutliche
Mehrheit dafür aus, bei stagnierender Wirtschaft soziale
Leistungen einzuschränken. Gleichzeitig hält aber jeder
Zweite die Leistungen der Kranken- und der Rentenversicherung
für zu niedrig. Während das Leitbild des aktivierenden
Sozialstaats mit der jedenfalls partiellen Einschränkung von
Leistungen verbunden ist, so scheinen die Vorstellungen der
Bürger von den Sozialsystemen davon weitgehend
unberührt.
Bei der Bewertung des Sozialstaats sind die Befragten geteilter
Meinung. Während nicht ganz die Hälfte der Ansicht ist,
dass er sich bewährt habe, bezweifelt dies eine knappe
Mehrheit. Ausgesprochen positive Urteile kommen von Beamten und
Selbständigen - beides Gruppen, die mit den Einrichtungen des
Sozialstaats kaum persönlich zu tun haben. Bei denjenigen
hingegen, die sozialstaatliche Leistungen überdurchschnittlich
in Anspruch nehmen - wie etwa Arbeitslosen - überwiegen die
skeptischen Töne.
Gewinner oder Verlierer?
Die tatsächliche oder auch nur vermutete Betroffenheit
entscheidet maßgeblich darüber, welche Reformen bei den
Thüringern Anklang finden und welche auf Ablehnung
stoßen. Von insgesamt neun Reformvorschlägen werden drei
mehrheitlich unterstützt: die steuerliche Entlastung der
Arbeitnehmer (85 Prozent Zustimmung), die unlängst vom
Bundeswirtschaftsminister wieder ins Spiel gebrachte Senkung der
Unternehmenssteuern (58 Prozent) sowie die von Clement zugleich
entschieden abgelehnte Wiedereinführung der
Vermögenssteuer (77 Porzent). Auf den stärksten
Widerspruch in der Bevölkerung stößt die Absenkung
des Rentenniveaus. Zu den besonders umstrittenen Reformen
zählen die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe,
die Beschränkung der Krankenversicherungsleistungen auf das
medizinisch Notwendige und längere Wochenarbeitszeiten.
Umstritten sind diese Vorschläge nicht allein deshalb, weil
sich keine klaren Mehrheiten dafür oder dagegen finden.
Vielmehr gehen die Fronten hier mitten durch die Gesellschaft:
Frauen wollen diese Reformen wesentlich seltener als Männer,
niedrig Gebildete seltener als gut Gebildete, finanziell Schwache
seltener als Gutsituierte. Deutliche Unterschiede ergeben sich
danach, ob die Befragten annehmen, dass sie selbst eher zu den
Gewinnern - das sind 28 Prozent der Befragten - oder eher zu den
Verlierern beim Umbau des Sozialstaats (45 Prozent) gehören.
So unterstützt knapp die Hälfte der mutmaßlichen
Reformgewinner längere Arbeitszeiten, von den Verlierern ist
es aber nur ein Viertel. Eine Erklärung für die
Reformskepsis in einzelnen Gruppen bietet die Zusammensetzung der
mutmaßlichen Verlierer. Unter ihnen sind Frauen, niedrig
Gebildete und finanziell Schwache überrepräsentiert.
Frauen sehen sich nicht nur selbst eher als Verlierer des Umbaus:
Danach gefragt, welches Geschlecht eher von den Reformen
profitiert, sieht die klare Mehrheit der Befragten die Männer
auf der Gewinnerseite. Nur jeder Sechste glaubt, dass die Frauen
mehr gewinnen.
Für die Politik alarmierend sind jedoch zwei andere
Befunde: Drei von vier Befragten meinen, dass insgesamt nur eine
Minderheit bei einem Umbau der sozialen Sicherungssysteme gewinnt.
Diese Ansicht wird selbst von denjenigen mehrheitlich vertreten,
die sich eher als Gewinner sehen. Darüber hinaus hat die
Selbsteinschätzung als potenzieller Verlierer oder Gewinner
Bedeutung für die Bewertung der Demokratie: Unter den
Gewinnern beim Umbau des Sozialstaats ist der Anteil zufriedener
Demokraten etwa doppelt so hoch wie in der Kontrastgruppe der
Demokratiegegner. Hier beläuft sich der Anteil auf weniger als
die Hälfte.
Neben unübersehbaren Warnsignalen enthält der
Thüringen-Monitor aber auch positive Nachrichten für die
Politik. So ist ungeachtet der Proteste gegen Hartz IV die
Demokratiezufriedenheit im Vergleich zum Vorjahr deutlich
gestiegen. Vor allem aber besteht jenseits von Verunsicherung und
konkreten Vorbehalten eine generelle Reformbereitschaft. Mit einem
überzeugenden, transparenten und auf soziale Ausgewogenheit
bedachten Reformkonzept dürften viele Bürger für die
- auch nach ihrer Meinung - erforderliche Umgestaltung des
Sozialstaats zu gewinnen sein.
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