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Susanne Balthasar
Wenn nur noch die Flucht bleibt
Die Berliner Einrichtung Papatya bietet
Migrantinnen Schutz vor ihren Vätern und
Brüdern
Es ist schwierig, Shebnam zu treffen. Sie lebt
im Verborgenen an einem versteckten Ort mit einer geheimen
Telefonnummer, und Shebnam ist auch nicht ihr richtiger Name. Wer
sie sprechen möchte, muss erst einmal den Jugendnotdienst
antelefonieren, bevor eine Vermittlerin zurück ruft, die die
Anfrage weiter leitet. Damit keine noch so kleine Spur, den Weg zu
dem geheimen Haus weisen könnte, in dem Shebnam jetzt lebt.
Sonst könnte ihr Vater am Ende das wahr machen, was er kurz
vor ihrer Flucht beim Mittagessen androhte: dass er ihr die
Pulsadern aufschneidet.
Bei einem muslimischen Vater, dessen Tochter
nachts und heimlich ihre Koffer packt, um die Familie zu verlassen,
muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Es geht nicht nur um das
Verschwinden der Tochter, es geht um die Familienehre und am Ende
um die des Patriarchen selbst. Einige dieser Geschichten enden mit
dem Tod und dem Wort "Blutrache" in den Überschriften der
Zeitungen; erst kürzlich wurde eine junge Berliner Türkin
vermutlich von ihren Brüdern auf der Straße hingerichtet.
Mit drei Schüssen wurde sie nieder gestreckt. Shebnam hat es
zu Papatya geschafft, einer anonymen Kriseneinrichtung für
junge Migrantinnen, dem geheimen Berliner Haus. Papatya ist eine
von Berliner Senat finanzierte Zwischenstation für muslimische
Mädchen, die ihnen nach der Flucht von zu Hause Schutz vor
ihrer Familie bietet. Sie hilft, ihr neues Leben ohne die Familie
zu ordnen.
Der erste Schritt ist ein Anruf. Wenn Corinna
Ter Nedden, Psychologin bei Papatya, ein Ersttelefonat führt,
geht es weniger um die häuslichen Probleme, sondern um die
Frage: "Brauchst du Schutz? Wie wird deine Familie reagieren?" Und
darum, ob das Mädchen mit den strengen Regeln im "Weglaufhaus"
leben kann: Kein Handy, kein Telefon, kein Besuch, dafür
Hausarbeit und geregelte Ausgangszeiten. "Das ist zum Schutz der
Mädchen", sagt Corinna Ter Nedden, "und auch, um Eltern zu
zeigen, dass die Töchter unter Kontrolle sind, dass sie nicht
abgehauen sind, um in Discos zu gehen oder herumzuhuren". Shebnam
hat das akzeptiert. Für die 20-Jährige ist das keine
große Umstellung. Die Wohnung der Eltern durfte sie nur
verlassen, um in die Schule zu gehen. Freunde waren ohnehin nicht
erlaubt, jedes Telefonat musste sie sich von den Eltern genehmigen
lassen, Geld hatte sie keins. Ein Lehrer hat ihr das Zugticket nach
Berlin bezahlt. Abends hat sie dann ein paar T-Shirts, den Pass und
ihre liebsten Fotos in eine kleine Tasche gepackt und ist nach
Berlin gefahren. Weit weg. Weit weg von Bayern, wo sie vorher
gewohnt hat. "Wenn ich nach München gegangen wäre", sagt
Shebnam, "hätte mein Vater mich dort finden können." Ein
anderer Gedanke war: "Hoffentlich verstoßen die mich." Dann
wäre sie für ihre Familie gestorben, und Schluss. Aber
Shebnam ist nicht verstoßen worden. Ob das gut oder schlecht
ist, wird sich zeigen.
Shebnam sitzt in einem Berliner Café.
Sie sieht nicht aus, wie jemand, der auf der Flucht ist, eher nach
geordneten Verhältnissen: Schwarzer Anorak, brauner Pullover,
darüber ein langer schwarzer Zopf, darunter eine
unauffällige Hose. Ihr Gesicht bleibt unbewegt, wenn sie die
Geschichte erzählt, die sie bis vor kurzem nur unausgesprochen
mit sich herumgetragen hat: Ein prügelnder Vater spielt darin
die Hauptrolle, die Frauen der Familie sind die Nebendarsteller.
Ehefrau und Töchter kreisen um das männliche
Familienzentrum, kochen, waschen, putzen, die Kinder werden
geschlagen. Mal mit der Hand, mal mit Gürtel, mal mit einem
dünnen Stab, der in türkischen Haushalten zum
Teigausrollen benutzt wird. Warum? Shebnam findet keine Antwort.
Wenn sie ihrem Vater Tee gebracht und dabei etwas verschüttet
habe zum Beispiel, aber meistens einfach nur so. Nein, ihr Vater
war nicht arbeitslos, nicht Alkoholiker. "Ich war sein
Punching-Ball", sagt sie, und das muss für sie und andere als
Erklärung reichen.
Dass Gewalt in türkischen Familien auch
ein kulturelles Phänomen ist, glaubt der Kriminologe Christian
Pfeiffer. Eine seiner Studien hat gezeigt, dass jeder 5.
türkische Jugendliche familiäre Gewalt erlebt. Die
Gewaltbereitschaft steigt, je länger die Migranten in
Deutschland leben. Pfeiffer sieht den Grund in einem Zusammenbruch
der traditionellen Strukturen: "Die Familie wird so zum
Austragungsort von wachsenden Konflikten, in denen ein Teil der
Väter unter Einsatz körperlicher Gewalt versucht, eine
traditionelle Ordnung aufrecht zu erhalten." Um die traditionelle
Ordnung geht es nicht nur in vielen türkischen, sondern auch
in Familien anderer Herkunft. Die rund 60 Mädchen, die jedes
Jahr bei Papatya betreut werden, kommen zwar zum Großteil aus
der Türkei, aber auch aus dem Libanon, Pakistan oder
Ex-Jugoslawien. Der wohl größte Übergriff auf ihre
Selbstbestimmung ist die Zwangsheirat: ein Drittel der
Papatya-Flüchtlinge ist vor der eigenen Hochzeit geflohen. Die
Eltern haben ihnen im Urlaub in der Türkei gesagt: "Morgen ist
ein großes Fest - deine Hochzeit." Eines der Mädchen hat
zufällig bei ihren Eltern Einladungen für die eigene
Hochzeit entdeckt. Die Bräute sind oft noch minderjährig,
aber wenn ein Hoca, ein islamischer Geistlicher die Trauung
vollzieht, dann wird die Ehe in der islamischen Gesellschaft
akzeptiert. Auch importierte Bräute landen mitunter bei
Papatya, junge Musliminnen, die nach Deutschland verheiratet worden
sind. In Deutschland erwartet sie statt der ersehnten Freiheit ein
Gefängnis: Der Sprache nicht mächtig, leben sie in
totaler Abhängigkeit von ihrem Mann und seiner Familie. Andere
flüchten vor sexuellem Missbrauch. Der kommt zwar in allen
Kulturen vor, wird aber in der muslimischen Gesellschaft noch
zusätzlich durch den Keuschheitsanspruch verschärft. "Die
Mädchen werden nicht nur missbraucht", erzählt Corinna
Ter Nedden, "sondern bekommen dann auch noch zu hören: Du Hure
hast dich entjungfern lassen."
Der Widerspruch zwischen Schein und Sein kann
Identitäten zerreißen. "Ich habe ein Doppelleben
geführt", sagt Shebnam. Morgens in der Schule konnte sie
sagen, was sie gedacht hat, zu Hause hat sie kaum gesprochen.
Verschwand in der Rolle der braven Tochter, die ihre eigenen
Bedürfnisse draußen vor der Wohnungstür lässt
und dem Vater drinnen die Pantoffel vor den Fernseher stellt.
Prügel bekam sie trotzdem, geredet hat sie nicht darüber.
Und die Mutter? Die sei von Natur aus eher schüchtern, sagt
Shebnam: "Der war wichtig, dass wir nach außen wie ein heile
Familie aussahen." Kein Außenstehender konnte ins Innere der
Familie hinein schauen, aber umgekehrt konnte die im Haus gehaltene
Shebnam auch nicht in andere Familien hineinsehen: "Ich dachte, das
wäre alles normal." Erst als sich vor zwei Jahren neue Freunde
fanden, kamen die Zweifel: "Ich merkte plötzlich, dass die
anderen gern nach Hause gingen, ich dagegen war froh, wenn
nachmittags Unterricht war." Als sie 17 war, ist sie dann das erste
Mal von zu Hause weggelaufen, damals in eine Einrichtung des
Jugendamtes. Die Mutter versprach ihr, sie könne bei der Oma
leben so lange sie wolle. Nach einer Woche holten die Eltern
Shebnam wieder nach Hause und noch eine Woche später war
wieder alles beim Alten.
Auch von den Papatya-Mädchen kehrt gut
die Hälfte wieder nach Hause zurück. Gerade weil sie aus
einem Kulturkreis kommen, in dem die Familie die wichtigste Einheit
ist, die sie von der Umwelt abschirmte, halten sie den harten
Schnitt und die Isolation oft nicht aus. Die Trennung von der
Mutter, die Angst um die Geschwister, die Schuldgefühle, die
Zweifel, das Gefühl, alleine in der Welt zu stehen. Und die
Familien machen den Ausreißerinnen mächtig Druck
zurückzukehren, bevor die Schande ihres Weglaufens den
Nachbarn bekannt wird. Wenn Papatya-Mitarbeiterinnen wie Corinna
Ter Nedden Kontakt zu ihnen aufnehmen, um nach Lösungswegen zu
suchen, hören sie immer wieder abenteuerliche Geschichten: Die
Oma läge im Sterben, die Mutter sei im Krankenhaus oder
würde sich vom Balkon stürzen, der Vater die Scheidung
einreichen, wenn die Tochter nicht zurück kommt. Oder die
Mütter weinen hemmungslos, wenn sie mit der verschwunden
Tochter telefonieren. So wie Shebnams Mutter. "Sie hat immer
geweint, was ich ihr angetan hätte und wie schrecklich das
für sie wäre", sagt Shebnam, "aber kein einziges Mal
gefragt, wie es mir geht."
Mit der Zeit sei sie da einfach härter
geworden, habe versucht weniger verletzlich zu sein. Shebnam hat
sich entschieden: Sie wird nicht zurückkehren. Sie wird sich
eine Wohnung und einen Studienplatz in Berlin suchen und ein neues
Leben anfangen. Corinna Ter Nedden und ihre Kolleginnen werden ihr
dabei helfen. Die Zuständigkeiten bei den Ämtern
klären, eine Betreuung für die erste Zeit organisieren.
Ihre Entscheidung wird Shebnam, sollte sie tatsächlich keinen
Kontakt mehr mit ihrer Familie haben, ein Leben lang begleiten. Zu
eng sind die verwandtschaftlichen Bindungen durch die deutsche
Gesetzgebung geknüpft. Ob man Bafög oder Sozialhilfe
beantragen will, immer sind die Eltern mit dabei. Noch schwieriger
ist es bei Mädchen, die ihre amtliche Identität
auflösen müssen, weil sie nach der Flucht vor einer
Zwangsheirat mit Blutrache bedroht und verfolgt werden. Eine
Namensänderung ist zwar möglich, aber amtlich bleibt der
alte mit dem neuen Namen an einigen Stellen verknüpft. "Wir
bräuchten eine Art von Zeugenschutzprogramm, dass
Anonymisierung möglich macht", sagt Corinna Ter Nedden.
Sicher, ein Gesetz gegen Zwangsheirat sei ein wichtiges Signal,
aber noch wichtiger sei es, Schutzmaßnahmen möglich zu
machen. Außerdem wünscht sie sich mehr Aufklärung
bei Gerichten und Jugendämtern: "Die glauben häufig, sie
hörten Geschichten aus 1001 Nacht." Vielleicht auch, weil in
vielen Köpfen das Bild vorherrscht, solche Schicksale seien
ein Auswuchs des religiösen Fundamentalismus. "Wenn eine
Mutter ohne Kopftuch zum Jugendamt kommt, denken die oft, dass die
Geschichte der Tochter nicht stimmen kann", sagt Corinna ter
Nedden, "Orientierung an der Ehre muss aber nicht religiös
motiviert sei."
Die Mädchen bei Papatya entsprechen
nicht dem Klischee, das Deutsche sich vom eingeschüchterten
Kopftuchmädchen machen, tragen Jeans, Turnschuhe, Piercings
und die Haare offen. Der Umkehrschluss, dass in religiösen
Familien Gewalt, Missbrauch und Zwangsheirat nicht vorkommen, ist
trotzdem nicht richtig. "Wir wissen einfach nichts darüber",
sagt Corinna Ter Nedden. In vielen Fällen weiß sie auch
nicht, was aus ihren Schützlingen geworden ist. Die, die in
ihre Familien zurückkehren, verschwinden in der Regel wieder
so lautlos, wie sie gekommen sind. Es sei, denn sie starten
später noch einmal einen zweiten Versuch und kehren
zurück in das Weglaufhaus - dann ist die Entscheidung in der
Regel endgültig. Auch wenn der neue Lebensanfang aus dem
Nichts heraus für jede Einzelne eine große
Herausforderung ist, einige schaffen es. Den Bruch mit der Familie
durchzuhalten, einen Beruf und eine Wohnung zu finden, einen Mann,
den sie sich aussuchen. Es ist möglich, das neue Leben.
Shebnam glaubt, dass auch sie es schaffen wird. Und vielleicht,
wenn einige Zeit vergangen ist, auch mit ihrer Familie Frieden zu
schließen.
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