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Claudia Heine
Im "Kaufrausch" nach Frankfurt
Sitzung des
Visa-Untersuchungsausschusses
Während der Vernehmung des vierten und letzten Zeugen
musste Jerzy Montag die Wogen glätten: "Herr Zeuge, ich werde
an sie kritische Fragen stellen, aber das ist nicht persönlich
gemeint." Mit diesen besänftigenden Worten setzte der
Grünen-Obmann im Visa-Untersuchungsausschuss die Befragung von
Clemens Ulbrich fort, die zuvor von einem heftigen Streit zwischen
den Ausschussmitgliedern unterbrochen worden war. Ulbrich war als
Richter am Landgericht Memmingen für ein Schleuser-Urteil vom
November 2004 mit verantwortlich. Das Gericht hatte damals einen
ukrainischen Staatsangehörigen und zwei seiner Helfer
verurteilt, weil sie in großem Umfang und mit kriminellen
Methoden Visa für die Bundesrepublik Deutschland erschlichen
und diese gewinnbringend an ihre Landsleute verkauft hatten.
Insgesamt ging es um 2.800 Fälle. Zwar wurden die drei
Männer zu Haftstrafen verurteilt, erhielten jedoch einen
Strafrabbatt, weil nach Ansicht der Richter die
Ausländerbehörden "auf politischen Wunsch" der
Bundesregierung die Einreiseanträge "wohlwollend" und nicht
"kritisch" behandelt hätten. Am vergangenen Donnerstag
versuchte der Visa-Untersuchungsausschuss, Einzelheiten des
Prozesses zu beleuchten und die Umstände der
Urteilsbegründung zu klären.
Vor den Grünen war die SPD an der Frage-Reihe. Deren Obmann
Olaf Scholz konnte seine Verwunderung nicht verbergen, als ihm der
Richter erklärte, eigentlich nur den Kernsatz des umstrittenen
Volmer-Erlasses ("im Zweifel für die Reisefreiheit") und
diesen auch nur aus den Medien gekannt zu haben. Gleichzeitig
bestätigte er jedoch, die Kammer hätte in dem Erlass
strafmildernde Gründe für ihr Urteil erkannt. Scholz
verstand für einen kurzen Moment die Welt nicht mehr. Der aber
war lang genug, um die emotionalen Befindlichkeiten der Parteien im
Europa-Saal des Paul-Löbe-Hauses zu spüren. Der
Sozialdemokrat, gerade im Begriff, aus dem Richter einen
Zeitungsleser zu machen, wurde lautstark von seinen CDU-Kollegen
unterbrochen: "Hinter diesen Medienberichten steck-ten bereits acht
Monate Parlamentsarbeit in Form von zahlreichen Anfragen an die
Bundesregierung! Da können sie nicht so tun, als seien die
Presseberichte vom Himmel gefallen und den Zeugen als Zeitungsleser
kritisieren", erregte sich Clemens Binninger. Sein Parteifreund
Eckart von Klaeden heizte die Stimmung noch etwas an: "Sie sind
einfach unzufrieden, Herr Scholz, aber das ist hier kein
Schauprozess!"
Ausgefeilte Techniken
Der mildere Tonfall, in dem Jerzy Montag dann die Befragung
Ulbrichs fortsetzte, sollte nicht von langer Dauer sein.
Wiederholte Male, zunehmend drängender, wollte er von dem
Richter wissen, auf welche Beweise sich das Gericht denn bei der
Anerkennung der Strafmilderung stützte, erhielt aber nur vage
Antworten: "Wir sind davon ausgegangen, dass sich untergeordnete
Behörden an den Vorgaben übergeordneter Dienststellen
orientieren", so Ulbrichs einzige Begründung. Er räumte
außerdem ein, dass das Gericht auf eine diesbezügliche
Beweisaufnahme verzichtet habe, da die Angeklagten voll
geständig gewesen seien.
Hierin lag nicht die einzige Ursache für die Verwirrung bei
den Koalitionsfraktionen. Hatten sie nicht von dem dritten Zeugen
eine ganz andere Aussage gehört? "Für mich haben die
Erlasse nie eine Rolle gespielt", hatte eine halbe Stunde zuvor
noch Wolfgang Maier, Beisitzender Richter in dem Memminger
Verfahren, sehr zum Gefallen von SPD und Grünen erklärt.
Noch waren andere die Unzufriedenen: "Das klingt für mich sehr
abenteuerlich, was wir hier hören", wandte sich Hellmut
Königshaus (FDP) energisch an Maier. Dieser hatte nämlich
außerdem betont: "Es ist für mich nicht zwingend, dass
eine Erschleichung von Visa automatisch mit einer Weiterschleusung
der Menschen zur Arbeitsaufnahme oder Zwangsprostitution verbunden
sein muss. Wir hatten keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich
hier um Opfer handelt."
Ermittlungen des Bundesgrenzschutzes
Diese Ansicht vertraten auch zwei Beamte des Bundesgrenzschutzes
(BGS), die vor den Richtern in den Zeugenstand geladen worden
waren. Der BGS hatte im Februar 2001 aufgrund eines Verdachtsfalls
am Münchner Flughafen mit seinen Ermittlungen gegen den
später im Verfahren hauptverdächtigen Ukrainer begonnen.
Anschaulich sprachen die Beamten über die ausgefeilten
Techniken der Schleuser. Diese hatten, in Zusammenarbeit mit einem
Kiewer Reisebüro, fingierte Reiseprogramme nach Deutschland
erstellt, unter anderem eine einwöchige Tour nach Frankfurt am
Main mit einem Besuch des Zeppelin-Museums und einem Programmpunkt
"Kaufrausch". "Das waren ganz simple Kopien aus Katalogen, die die
Täter den Visaunterlagen beigelegt haben", sagte der
Polizeihauptmeister Maik Hövelmeier. Außerdem
fälschten die Schleuser Hotelbuchungen und
Reiseversicherungen. "So konnten wir die Reisezwecke eindeutig
widerlegen", erläuterte Oliver Runte, Polizeioberkommissar im
BGS. Nicht beweisen konnten sie dagegen den Zusammenhang von
Visaerschleichung und organisiertem Menschenhandel im vorliegenden
Fall: "Wir hatten keinerlei Hinweise, dass unser Täter Teil
eines solchen Räderwerkes war. Für ihn war die
Angelegenheit mit der Visabeschaffung beendet. Was
anschließend mit den Leuten passierte, interessierte ihn nicht
mehr", so Hövelmeier. Dennoch fanden die Beamten heraus, dass
die meisten der Ukrainer mit deutschem Touristenvisum nach Italien,
Spanien und Portugal weiterreisten, um dort auf Baustellen zu
arbeiten. Zum Teil hätten sie dort sogar ein Arbeitsvisum
erhalten, sagte Runte.
Die gegenteiligen Aussagen der Richter versetzten die
Ausschussmitglieder wieder einmal in die Lage, sich in ihren
unterschiedlichen Auffassungen bestätigt zu fühlen. Doch
letztlich zählen Beweise, und die lassen sich wohl nur in den
Akten finden. Bisher habe das Auswärtige Amt jedoch erst 17
von 200 zugesagten Aktenordnern zur Verfügung gestellt,
kritisierte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses,
Hans-Peter Uhl (CSU), vor der Sitzung. Das Außenministerium
sprach hingegen von 29 überstellten Akten.
Union und Koalition einigten sich nach längerem Streit
darauf, sechs zusätzliche Sitzungen bis zu Sommerpause
einzuberufen, um den immensen Arbeitsaufwand schneller zu
bewältigen. In den nächsten Wochen wird sich der
Ausschuss mit weiteren Schleuser-Prozessen befassen. Es müsse
geklärt werden, wie es zu der "modernen Form des
Sklavenhandels" habe kommen können, sagte Uhl. Erst nach dem
Themenkomplex "Prozesse" sollen Mitarbeiter von
Sicherheitsbehörden und anschließend der Botschaft in
Kiew gehört werden. Weiter unklar bleibt der Termin für
die Aussage von Bundesaußenminister Joseph Fischer. Die
rot-grüne Koalition besteht darauf, den Minister erst nach
Akteneinsicht zu laden.
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