Günther Unser
Die Aufnahme in den Olymp als nationale
Einbahnstraße?
Die UN-Reform und die deutschen
Sicherheitsinteressen
Das Image der Vereinten Nationen beruht nach wie
vor zu oft auf einer Reihe von Klischees und
Missverständnissen, zumeist ist die Erwartungshaltung
hinsichtlich der Handlungs- und Leistungsfähigkeit bei weitem
überzogen. Hartnäckig wird außerdem immer wieder die
mangelnde Wandlungsfähigkeit der Weltorganisation beklagt. Die
UNO im 60. Jahr ihres Bestehens hat jedoch außer den
allgemeinen Grundsätzen und den institutionellen Eckpfeilern
nur wenig gemein mit der Ende des Zweiten Weltkriegs ins Leben
gerufenen Organisation zur Wahrung des Weltfriedens.
Bereits ein oberflächlicher Vergleich
macht deutlich: Angesichts neuer Bedrohungsszenarien weitete der
Sicherheitsrat seit Anfang der 90er-Jahre seinen Handlungsspielraum
nachhaltig aus; neue Verfahren und eine Vielzahl spezieller
Einrichtungen wurden geschaffen; Peacekeeping hat sich entlang der
UN-Charta zu einem ausdifferenzierten Instrumentarium im
sicherheitspolitischen Bereich entwickelt;
Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechtsschutz stehen heute
ebenso im Blickpunkt des inzwischen weitgefächerten UN-Systems
wie Umwelt, Terrorismus und Aids. Kofi Annan betont zu Recht: "Es
wird häufig unterschätzt, wie tief greifend sich die
Vereinten Nationen, insbesondere seit dem Ende des Kalten Kriegs,
verändert haben." Und dies auf der Grundlage der nahezu
unveränderten UN-Satzung aus dem Jahre 1945.
Angesichts des 60. Jubiläums werden mit
Nachdruck einschneidende Reformen angemahnt; im Kern sind fast alle
identisch mit den zum 50. Bestehen 1995 vorgebrachten. Der Ruf nach
Reformen ist so alt wie die UNO und ist untrennbarer Bestandteil
der Entwicklungsgeschichte des Organisationensystems.
Unüberhörbare Kritik an der
Machtverteilung zwischen den Hauptorganen, etwa zwischen
Sicherheitsrat und Generalversammlung, und am Vetorecht der
ständigen Ratsmitglieder wurde bereits auf der
Gründungskonferenz 1945 von den mittleren und kleineren
Staaten geäußert - ohne Erfolg. Neben diesem roten Faden
der Reformnotwendigkeit liegen die Defizite seit langem in der
Effizienz und Effektivität der Vereinten Nationen.
Kofi Annann hat seit seinem Amtsantritt 1992
- wie kaum ein anderer seiner Vorgänger - entsprechende
Reforminitiativen in Angriff genommen. Was in seinen
Kompetenzbereich fiel, etwa Verwaltungs- und
Managementverbesserungen, konnte durchweg umgesetzt oder zumindest
in Angriff genommen werden, Empfehlungen und Vorschläge, die
der Zustimmung der Mitgliedstaaten bedürfen, fielen jedoch
bisher weitgehend dem Staatendissens zum Opfer. Hier zeigt sich das
Reformdilemma dieser Organisation souveräner Staaten: Es ist
die Staatengemeinschaft, die weitgehend UN-reformunfähig ist -
nicht die UNO!
Die Vorlage des Berichts des
UN-Generalsekretärs "In größerer Freiheit: Auf dem
Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle"
vom März 2005, der weitgehend auf den Vorschlägen, des
von Kofi Annan eingesetzten Reformpanels, der "Hochrangigen Gruppe
für Bedrohung, Herausforderungen und Wandel" beruht, gibt zwar
Anlass zur Hoffnung auf einen großen Reformsprung nach vorn;
von einem "offenen Reformfenster", das es nunmehr zu nutzen gelte,
ist die Rede. Skepsis ist geboten, wurden doch bereits in der
Vergangenheit den dafür zuständigen Regierungen
substantielle Reformpakete zur Entscheidung unterbreitet, die fast
alle in den Archiven verschwanden.
Wie die Vorlage der altgedienten
Politikprofis des Panels aus 16 Ländern (warum ohne deutsche
Beteiligung?) stellt der rund 70 Seiten umfassende Bericht im
Gegensatz zu vielen anderen Reformpaketen keinen visionären
Wurf dar, sondern zeichnet sich durch einen bemerkenswerten
Realitätsbezug aus. Er beschränkt sich auf
Vorschläge, die nach Ansicht des Generalsekretärs "sowohl
in den kommenden Monaten unerlässlich als auch
tatsächlich realisierbar sind".
Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung
des Reformpakets stehen die Ausführungen zur Erweiterung des
Sicherheitsrats. Obwohl im Bericht selbst nur mit zwei Seiten
bedacht, räumt auch der Generalsekretär dieser Frage hohe
politische Priorität ein und fordert die Mitgliedstaaten auf,
diese endlose Diskussion noch vor Zusammentritt des Gipfels der
Staats- und Regierungschefs im September 2005 in New York zu
beenden. Vorzugsweise im Konsens - wenn nicht, dann in einer
Kampfabstimmung in der Generalversammlung.
Kofi Annan legt sich nicht auf ein bestimmtes
Reformmodell fest, sondern verweist auf die beiden vom Panel
favorisierten Varianten.
Die seit dem Frühjahr 2004 vom
UN-Reformfieber befallene deutsche Bundesregierung bewertet beide
Berichte nicht nur ausgesprochen positiv, sondern sieht sich durch
sie in ihren außenpolitischen Grundlinien bestätigt,
obschon keine Empfehlung hinsichtlich der Berliner
Sicherheitsratsambitionen ausgesprochen wird.
Die Bereitschaft zur "Übernahme
größerer weltpolitischer Verantwortung" in den Vereinten
Nationen gehörte bereits beim Eintritt Deutschlands in den
Sicherheitsrat als nichtständiges Mitglied Anfang 2003 zum
sprachlichen Standardrepertoire der rot-grünen Koalition. In
der Konfrontation mit den USA über das Vorgehen gegen den Irak
und in der Weigerung, einen US-Militärschlag rechtlich oder
politisch oder gar militärisch zu unterstützen, gewann
die Bundesregierung unter den UN-Mitgliedern zunehmend an Profil,
und daraus erwuchs ein gesteigertes weltpolitisches
Selbstbewusstsein - insbesondere im Kanzleramt. Konsequenterweise
galt es nun, die Chance zu nutzen und Deutschlands Aufnahme in den
Olymp und das Machtzentrum der Vereinten Nationen mit Nachdruck zu
fordern - als ständiges Mitglied.
Nachdem auch Außenminister Fischer auf
Schröders Linie eingeschwenkt war, begann eine weltweite
Lobbytätigkeit der Regierung, um die für eine
Charta-Änderung notwendige Zweidrittelmehrheit in der
Generalversammlung zu erlangen. September 2004 dann der
Paukenschlag mit dem gemeinsamen Vorstoß Brasiliens,
Deutschlands, Indiens und Japans als der selbsternannten "legitimen
Kandidaten" für die Mitgliedschaft im höchsten
UN-Gremium.
Hinsichtlich der Erweiterung des
Sicherheitsrats schlagen das Panel wie auch Kofi Annan zwei
unterschiedliche Drei-Klassen-Modelle vor mit einer jeweiligen
Gesamtzahl von 24 Ratssitzen. Nach Ansicht der Bundesregierung
können die deutschen und europäischen Interessen jedoch
nur im Rahmen des Modells A gewahrt werden, das für die neu zu
schaffenden vier Großregionen (Afrika, Amerika, Asien und
Pazifik, Europa) sechs neue ständige Sitze ohne Vetorecht und
drei zusätzliche nichtständige vorsieht. Deutschland
möchte den "Europa" zufallenden permanenten Sitz einnehmen,
allerdings nach jüngsten Festlegungen Schröders nur mit
Vetorecht.
Dem Alternativvorschlag B, der - ohne
zusätzliche ständige Sitze - eine neue Kategorie von acht
"halbpermanenten" Mitgliedern für eine jeweilige
vierjährige Amtszeit mit der Möglichkeit der sofortigen
Wiederwahl und ein zusätzliches nichtständiges Mitglied
beinhaltet, steht die deutsche Regierung - etwa im Gegensatz zu den
EU-Partnern Italien, Spanien oder Polen - ablehnend
gegenüber.
Interessanterweise spricht sich das Panel
gegen eine "unantastbare" Festschreibung jeglicher Erweiterung des
Sicherheitsrats aus. Sollte es zu einer Änderung in der
Zusammensetzung des Rats kommen, so empfehlen die Experten eine
eingehende Überprüfung unter dem Gesichtspunkt der
Wirksamkeit des Rats bei Kollektivmaßnahmen im Jahr
2020.
Der oft erhobene Vorwurf, mit dem
nationalstaatlichen Vorpreschen verletze die Bundesregierung den
Koalitionsvertrag von 2002, demzufolge ein europäischer Sitz
"wünschenswert wäre", ist allerdings insofern nicht
stichhaltig, als der nachfolgende Satz lautet: "Deutschland wird
die Aufnahme als ständiges Mitglied nur anstreben, wenn ein
europäischer Sitz nicht erreichbar erscheint." Dies ist
angesichts der hohen rechtlichen und politischen Hürden
unrealistisch.
Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings
das Argument des EU-Partners Italien, die Perspektive eines
europäischen Sitzes könnte durch den deutschen Alleingang
"chancenlos" werden, "wenn wir in der Einbahnstraße nationaler
Egoismen fortfahren", und zu einer Spaltung Europas führen (so
mehrfach der vormalige italienische Außenminister Frattini).
Italien, das sich durch eine Aufwertung Deutschlands als
ständiges Ratsmitglied politisch deklassiert fühlt und
einen Machtverlust fürchtet, sieht im Rotationsprinzip den
"Königsweg". Die italienische Regierung wie auch
Staatspräsident Ciampi befürworten im Grundsatz den
Modellvorschlag B: neue Mitglieder nur auf etwa vier Jahre, mit der
Möglichkeit der Verlängerung.
Von welchen Interessen sich Italien in seiner
Ablehnung eines ständigen Ratssitzes für Deutschland
leiten lässt, im Sinne des weltpolischen Auftretens eines
geeinten Europas ist diese Position glaubwürdiger.
Stellt man das nationale Begehren Berlins in
einen europapolitischen Kontext, dann wird die Problematik des
Zeitpunkts und der Forderung selbst offensichtlich. Angesichts der
anstehenden Ratifikation des Verfassungsvertrags, der Europa zu
einer außenpolitisch auftretenden Einheit durch einen
Europäischen Außenminister erstarken lassen soll, ist der
in der EU keineswegs konsensfähige Alleingang eines Mitglieds
der europäischen Familie zumindest fragwürdig.
Warum favorisiert die Bundesregierung nicht
im Einklang mit ihren EU-Partnern eine auf der Linie des Modells B
liegende Rotationslösung, bei der jedes Unionsmitglied die
Chance erhielte, für längere oder kürzere Zeit dem
Sicherheitsrat mit Sitz und Stimme anzugehören? In einer
funktionsfähigen europäischen Interessensallianz sollte
wohl die jeweils notwendige Kandidatenwahl kein
unüberwindbares Hindernis sein! Zusammen mit den beiden
permanenten Ratsmitgliedern Frankreich und Großbritannien, die
nach Artikel 19 des gültigen EU-Vertrags formal verpflichtet
sind, sich für "die Standpunkte und Interessen der Union" im
Sicherheitsrat einzusetzen, entstünde damit in New York eine
machtvolle europäische Pha-lanx. Zur Erinnerung: "Deutschland
soll ... auf die Forderung nach einem eigenen ständigen Sitz
verzichten. ... [Wir] unterstützen den Vorschlag,
ständige regionale Sitze im Sicherheitsrat einzuführen,
die nach dem Rotationsprinzip besetzt werden." Ein Ratschlag aus
dem Wahl-Programm 1998 von Bündnis 90/Die
Grünen.
Da beide europäische Vetostaaten im Rat
de facto nur dann gesamteuropäische Positionen vertreten, wenn
diese eigenen Interessen nicht zuwiderlaufen, möchte nun die
Bundesregierung als die "wahre Hüterin" europäischer
Interessen in den Rat einziehen. Sie schlägt dabei in Wahrheit
einen außenpolitischen Weg ein, der verdeutlicht, dass eine
gemeinsame europäische Außenpolitik in der Substanz nach
wie vor Stück-werk ist.
Die Erfolgschancen einer
Sicherheitsratsreform auf der Grundlage der möglicherweise
noch zu modifizierenden beiden Panel-Modelle sind derzeit
völlig offen. Die Bundesregierung drängt auf eine
Entscheidung über eine Erweiterung - ganz im Sinne des
UN-Generalsekretärs - noch vor Beginn der 60.
Jubiläumsgeneralversammlung Mitte September 2005 und bereitet
zusammen mit den Mitbewerbern aus den anderen Weltregionen
entsprechende mehrstufige Resolutionen vor, die Deutschland -
letztlich wohl unter Verzicht der Vetoforderung - die Tür zum
Sicherheitsrat als ständiges Mitglied öffnen soll. Die
bisherigen Debatten im UN-Plenum über eine Ratsreform deuten
zwar auf eine numerische Mehrheit für solch ein Begehren hin,
fraglich bleibt jedoch, ob die notwendige Mehrheit von 128 Stimmen
zu erreichen ist. Gegenvorschläge haben bisher keine Aussicht
auf eine entsprechende Zustimmung. Selbst ein
naheliegenderKompromiss findet derzeit (noch?) wenige
Befürworter: den Artikel 23,2 der UN-Charta dahingehend zu
ändern, dass die Zahl der nichtständigen Mitglieder
erhöht, die bisherige Sitzverteilung nach
geographisch-politischen Gesichtspunkten modifiziert wird und nach
der jeweils zweijährigen Ratszugehörigkeit eine
unmittelbare Wiederwahl möglich ist.
Welche Position die Vereinigten Staaten als
weltpolitische Führungsmacht hinsichtlich einer Ratsreform
einnehmen, ob sie eine der beiden Varianten unterstützen oder
einen eigenen Reformvorschlag einbringen werden, welche Kandidaten
sie unterstützen, ist derzeit völlig unklar. Sollte die
Hürde im Sinne Berlins in der Generalversammlung
schließlich doch erfolgreich überwunden werden, steht ein
langwieriger Ratifikationsprozess bevor; das Inkrafttreten der
gewichtigen Charta-Änderung ist nicht zuletzt von der
Zustimmung der Parlamente der bisherigen fünf ständigen
Ratsmitglieder abhängig; so muss auch der ausgesprochen
UN-kritische US-Kongress - der Senat gar mit Zweidrittelmehrheit -
bereit sein, die Lösung zu akzeptieren.
Die durch den Skandal um das
milliardenschwere Hilfsprogramm für den Irak angeschlagene
Autorität Kofi Annans dürfte den amerikanischen
UN-Skeptikern weiteren Auftrieb für eine ihre Blockadehaltung
geben. Zu glauben, der US-Kongress ließe sich davon
beeindrucken, dass möglicherweise die überwiegende
Staatenwelt ratifiziert, könnte sich als Wunschvorstellung
erweisen.
Da sich die derzeitige Diskussion zu sehr auf
den Sicherheitsrat verengt hat, treten die in den beiden
Reformberichten und auch in der Rede von Bundesaußenminister
Fischer vor der 59. Generalversammlung im September 2004
angeführten Vorschläge für eine umfassendere Reform
der Vereinten Nationen in den Hintergrund. Zu befürchten ist,
dass bei einem Scheitern der Ratserweiterung der Elan der
Staatenwelt zur Inangriffnahme dringend notwendiger anderweitiger,
substantieller Reformen erlahmt, was den Vereinten Nationen wieder
einmal zu Unrecht eine Reformunfähigkeit bescheinigen
würde.
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