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Martin Mantzke
Perspektiven "proaktiver" Sicherheit
Das neue Jahrbuch für internationale
Sicherheitspolitik
Das seit 1997 alljährlich erscheinende
"Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik", das von
Erich Reiter, dem Beauftragten für Strategische Studien im
österreichischen Bundesministerium für
Landesverteidigung, herausgegeben wird, hat sich inzwischen
für jeden, an sicherheitspolitischen Fragen im weitesten Sinne
Interessierten als überaus nützlich erwiesen. Wer nach
Auskunft über Vorgeschichte, Hintergründe und
Auswirkungen von Krisen und Konflikten und nach
Lösungsmöglichkeiten sucht, findet auch in der neuen
Ausgabe des Jahrbuchs auf fast alle Fragen erschöpfende
Antwort.
Der Band enthält 50 Beiträge von
hochrangigen Autoren, ausgewiesenen Fachleuten auf ihrem jeweiligen
Gebiet, die aus politischer, wissenschaftlicher und publizistischer
Sicht sowohl aktuelle als auch übergreifende
sicherheitspolitische Fragen behandeln.
Im ersten Kapitel, das sich allgemeinen
sicherheitspolitischen und strategischen Fragen widmet, stellt Dan
Diner Überlegungen an über die Regulierung und
Deregulierung der Anwendung von Gewalt und fragt, ob das "ius in
bello" in Frage steht. Curt Gasteyger behandelt die wachsende
Tendenz einer Militarisierung der Außenpolitik, in der er die
politisch-strategische Komponente der viel beschworenen
wirtschaftlich-technischen Globalisierung sieht. Dieter Ruloff
fragt angesichts der Kriege auf dem Balkan, im Kaukasus und der
Anschläge vom 11. September 2001, ob Krieg als Mittel der
Politik wieder salonfähig geworden sei, und Karl-Heinz Kamp
sieht im vorbeugenden Einsatz militärischer Macht, den
umstrittenen "preemptive strikes", eine neue Realität der
internationalen Sicherheitspolitik.
Das folgende Kapitel über den Krieg
gegen den Terrorismus eröffnet Walter Laqueur, der sich
über Reaktionsoptionen auf einen, für ihn durchaus
wahrscheinlichen terroristischen Angriff mit
Massenvernichtungswaffen Gedanken macht. Herfried Münkler
behandelt den Terrorismus als neue Ermattungsstrategie, gegen die
seiner Überzeugung nach die Entwicklung einer "heroischen
Gelassenheit" nicht nur die erste, sondern auch die wichtigste
Verteidigungslinie darstellt. Weiterhin geht es konkret um das
Verhältnis von Globalisierung und politischem Islam, die
Quellen der Macht von Al-Qaida sowie um die Risiken und Dilemmata
des westlichen Afghanistan-Engagements.
Das dritte Kapitel behandelt Europa und die
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP);
angesprochen werden Krisenfaktoren für eine zukünftige
Handlungsfähigkeit der Europäischen Union (Josef
Janning), die Bedeutung des deutschen Vertrauensverhältnisses
zu den USA (Arnulf Baring), die Perspektiven von Kleinstaaten sowie
"Grenzen der Lösungskompetenz Brüssels". Zwei
Aufsätze thematisieren den kontrovers diskutierten EU-Beitritt
der Türkei.
Im Kapitel über die "Region Greater
Middle East" geht es um Zukunftsszenarien für den
israelisch-palästinensischen Konflikt im 21. Jahrhundert, um
die Sicherheitslage in Afghanistan sowie um Herausforderungen des
iranischen Nuklearprogramms.
Zum transatlantischen Verhältnis und zur
Zukunft der NATO äußern sich im Weiteren John C. Kornblum
("Die Europäische Sicherheitspolitik aus amerikanischer
Sicht"), Lothar Rühl ("Die Zukunft der NATO 2010 bis 2015")
und Peter Schmidt ("Die NATO und der Irak"). Otfried Nassauer
beschreibt Unterschiede und Gemeinsamkeiten amerikanischer und
europäischer Bedrohungswahrnehmungen, Sicherheitsstrategien
und Reaktionen.
Im Kapitel zu Russland und den GUS-Staaten
nimmt Andrei Zagorski eine Bestandsaufnahme der
russisch-amerikanischen Beziehungen vor; Manfred Schünemann
wirft einen Blick auf Russland am Beginn der zweiten Amtszeit von
Präsident Putin, und Ludmilla Lobova schreibt über den
politischen Islam im postsowjetischen Russland. Ein anderer Beitrag
behandelt die geopolitische Dimension der Konflikte im
Südkaukasus.
Im Kapitel über Ost- und
Südostasien behandelt Heinrich Kreft die Entstehung eines
neuen Mächtedreiecks China-Indien-USA. Dietmar Rothermund
fragt, ob es zwischen Indien und Pakistan eine "Friedensoffensive"
gibt, Patrick Köllner macht im Hinblick auf Nordkorea
"Anmerkungen zu den externen Beziehungen eines ostasiatischen
Außenseiters".
Das abschließende achte Kapitel gilt
Afrika, einer Großregion, für deren Probleme sich sowohl
die USA als auch Europa zunehmend interessieren. Behandelt werden
die Krise des Staates und die Privatisierung und Eskalation der
Gewalt, das Versagen staatlicher Strukturen im Afrika südlich
der Sahara sowie der Staatszerfall in Somalia (der inzwischen schon
kein Einzelfall mehr ist). Bedenkenswert hier die
Überlegungen, die Stefan Ehlert anstellt hinsichtlich der
Chancen der Versöhnung nach Völkermorden und
Massakern.
Seinem Anspruch, "zur Weiterentwicklung der
sicherheitspolitischen Diskussion über wichtige geopolitische,
strategische, militärische und andere sicherheitsrelevante
Fragen im internationalen Kontext und im europäischen Geist"
beizutragen, wird der in jeder Hinsicht gewichtige Band vollauf
gerecht. Er sei jedem, der sich über globale Trends und
Konfliktpotenziale in einer zunehmend unübersichtlich
erscheinenden Welt unterrichten will, zur Lektüre
empfohlen.
Erich Reiter (Hrsg.)
Jahrbuch für internationale
Sicherheitspolitik 2004.
Verlag E. S. Mittler & Sohn,
Hamburg/Berlin/Bonn 2004; 957 S., 39,90 Euro
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