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Mattias G. Fischer
Kampf um die Wehrverfassung
Der Einbau der Streitkräfte in das
Grundgesetz
Die Wiederbewaffnung war das umstrittenste Thema
der frühen Bundesrepublik. Während Bundeskanzler Konrad
Adenauer sich spätestens im Sommer 1950 für einen
deutschen Wehrbeitrag zur Verteidigung Westeuropas entschieden
hatte, lehnten die Opposition und große Teile der
Bevölkerung eine "Remilitarisierung" Westdeutschlands
zunächst entschieden ab.
Die Auseinandersetzung entzündete sich
an dem seit Oktober 1950 verfolgten Plan, unter Beteiligung
deutscher Soldaten eine europäische Armee aufzustellen, und
nahm eine Entwicklung, die bis heute nahezu alle großen
politischen Entscheidungsprozesse in der Bonner und Berliner
Republik kennzeichnet: Es entstand ein Verfassungsstreit, in dessen
Verlauf das bald eingeschaltete Bundesverfassungsgericht nicht nur
seine Feuertaufe erfuhr, sondern auch seine bis heute im
Wesentlichen unangefochtene Stellung als eines der obersten
Staatsorgane zu begründen verstand.
Der Streit drehte sich um die Frage, ob die
militärische Beteiligung an einer europäischen Armee eine
Änderung des Verfassungstextes erforderte oder nicht. Die
Urfassung des Grundgesetzes hatte Streitkräfte nicht
ausdrücklich thematisiert, ja angesichts der
Besatzungsherrschaft gar nicht ansprechen können. Bereits in
der ersten großen Wehrdebatte des Deutschen Bundestages Anfang
November 1950 wurde die Verfassung in Stellung gebracht: Für
Kurt Schumacher, den SPD-Parteivorsitzenden und
Oppositionsführer, stand die geplante Beteiligung an einer
europäischen Armee im Widerspruch zum Grundgesetz.
Streitkräfte habe der Parlamentarische Rat ausdrücklich
abgelehnt. Wolle man deutsche Soldaten, wenn auch für eine
überstaatliche Armee, dann müsse die Verfassung
geändert werden. Der politische Hintergrund war klar: Da
Verfassungsänderungen an Zweidrittelmehrheiten gebunden sind,
wäre unter den damaligen Mehrheitsverhältnissen eine
Wiederbewaffnung gegen die Sozialdemokraten nicht durchzusetzen
gewesen. Adenauer vertrat in seiner Regierungserklärung die
Gegenposition. Er berief sich darauf, dass das Grundgesetz zwar
Angriffskriege, nicht aber auch Verteidigungskriege untersage, es
insoweit also der Aufstellung von Streitkräften zu
Verteidigungszwecken nicht entgegenstehe. Zudem habe die Verfassung
dem Bund sogar ausdrücklich eröffnet, sich zur Wahrung
des Friedens einem wohl militärisch zu verstehenden "System
gegenseitiger kollektiver Sicherheit" einzuordnen - eine
Argumentation, die sich mehr als 40 Jahre später auch das
Bundesverfassungsgericht zu eigen machte, um die Zulässigkeit
von Bundeswehreinsätzen "out of area" zu
begründen.
Im Januar 1952 entschied sich die
SPD-Fraktion für den Gang nach Karlsruhe, um die
Unterzeichnung des Vertrages über eine Europäische
Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und damit die geplante
Wiederbewaffnung zu stoppen. Der Verfassungsrechtsstreit
entwickelte sich schon bald zum Gerichtskrimi und vermochte die
Parteien keineswegs zu befrieden - im Gegenteil: der Kampf um die
Wehrverfassung schien in eine Staatskrise zu münden. Für
das Verfahren zuständig war der Erste ("rote") Senat, im
Unterschied zum Zweiten ("schwarzen") Senat mehrheitlich mit
Richtern besetzt, die von der SPD nominiert worden waren. Die
Regierung befürchtete, das Gericht werde dem Antrag
stattgeben, und veranlasste Bundespräsident Theodor Heuss, das
aus allen Richtern des Gerichts bestehende - und damit vorgeblich
parteipolitisch neutrale - so genannte Plenum mit einem Gutachten
zu der Rechtsfrage zu beauftragen. Parallel dazu setzte eine in
äußerster Schärfe geführte Diskussion über
die Stellung des erst wenige Monate zuvor gegründeten
Verfassungsgerichts im Staatsgefüge ein, in deren Verlauf
Bundesjustizminister Thomas Dehler den Wunsch geäußert
haben soll, "den ganzen Verfassungsgerichtshof eigenhändig in
die Luft zu sprengen".
Zwar erfüllte sich die Hoffnung
Adenauers nicht, das Gutachtenersuchen des Bundespräsidenten
werde zu einer Aussetzung des Verfahrens beim Ersten Senat
führen. Vielmehr entschied der "rote" Senat, wies aber den
Normenkontrollantrag der SPD als unzulässig ab. Die Gegner der
Wiederbewaffnung hätten die Ratifizierung des EVG-Vertrages
abwarten müssen. Die Atempause für die Regierung
währte allerdings nicht lange, glaubte man doch bald Anzeichen
dafür zu erkennen, dass das Plenum des Gerichts in dem
Gutachten für den Bundespräsidenten durchaus die
Verfassungswidrigkeit der Wiederbewaffnung feststellen könnte.
Die Koalitionsfraktionen reichten daraufhin ihrerseits Klage gegen
die SPD-Fraktion ein und stellten den durchaus originellen Antrag,
die Auffassung der Opposition, die Ratifizierung des EVG-Vertrages
sei rechtswidrig, für verfassungswidrig erklären zu
lassen. Hintergrund: Für dieses Organstreitverfahren war der
Zweite ("schwarze") Senat zuständig. Das Gericht freilich
spielte nicht mit und beschloss im Plenum, das vorrangig zu
erstellende Gutachten werde für beide Senate verbindlich sein.
In höchster Erregung bezeichnete Dehler diesen Beschluss als
"Nullum", das die Bundesregierung "niemals anerkennen" werde.
Adenauer leitete daraufhin den letzten Schachzug ein und riet dem
Bundespräsidenten zur Rücknahme des Gutachtenauftrags.
Mit der Begründung, nach dieser Gerichtsentscheidung
könne das erbetene - unverbindliche - Gutachten kein Gutachten
mehr sein, kam Heuss der Empfehlung nach. Das Verfahren musste
eingestellt werden. Die Odyssee in Karlsruhe endete
schließlich damit, dass der Zweite Senat die Klage der
Koalitionsfraktionen ebenfalls als unzulässig
abwies.
Die Frage der Verfassungsmäßigkeit
eines deutschen Wehrbeitrages war also offen geblieben. Nach der
Zustimmung des Bundestages zum EVG-Vertrag im März 1953 konnte
der Verfassungsstreit wider Erwarten doch noch politisch
gelöst werden. Zwar wandte sich die Opposition erneut an das
Verfassungsgericht. Doch bei der Bundestagswahl im September 1953
erzielte Adenauers Regierungskoalition die Zweidrittelmehrheit.
Damit habe das deutsche Volk eine Entscheidung für die
Wiederbewaffnung gefällt, stellte der führende
Wehrexperte der SPD, Fritz Erler, später nüchtern fest.
Die Abgeordneten der Regierungsparteien hielten jetzt den
Schlüssel zu einer Verfassungsänderung in der Hand - und
nutzten ihn. Die Wehrhoheit des Bundes wurde ausdrück-lich im
Grundgesetz verankert. Um den Auseinandersetzungen über die
Wiederbewaffnung "ein für allemal ein Ende zu machen", so
schrieb Adenauer in seinen Erinnerungen, habe man sich für
eine "Klarstellung" der Verfassung entschieden. Mit der im Februar
1954 verabschiedeten Grundgesetzänderung (1. Wehrnovelle)
sollte "die Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht und
des Schutzes der Zivilbevölkerung" nunmehr explizit zur
ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes
gehören. Damit war auch die Entscheidung für eine
Wehrpflicht- und gegen eine Berufsarmee getroffen, nachdem schon
die Urfassung des Grundgesetzes ein Grundrecht auf
Kriegsdienstverweigerung enthalten hatte. Ferner wurde der
EVG-Vertrag im Grundgesetz ausdrücklich für
verfassungsgemäß erklärt. Diese
verfassungspolitische Entscheidung für die Wiederbewaffnung
bildet bis heute den Grundstein der Wehrverfassung des
Grundgesetzes.
Insbesondere waren die zukünftigen
Streitkräfte damit auf die Verteidigung als Primärauftrag
festgelegt - die Bundeswehr ist es bis heute. Doch was bedeutet
"Verteidigung"? Das Grundgesetz gibt bewusst keine Antwort. Als die
Wehrverfassung entstand, konnte es jedenfalls nicht um die
Verteidigung nationaler Grenzen gehen, war Deutschland doch
geteilt. Daher vertrat etwa ein Mitarbeiter der "Dienststelle
Blank" - aus dieser sollte das Bundesministerium der Verteidigung
hervorgehen - im Jahr 1951 die Auffassung, Gegenstand der
Verteidigung sei kein geografischer Raum, sondern ein Wert: Freie
Bürger müssten sich zur Verteidigung ihrer
bürgerlichen Freiheit zusammenschließen. Die
Außenminister der drei westlichen Siegermächte hatten
sich bereits im September 1950 darauf verständigt, Bonn habe
einen substanziellen Beitrag "zur Verteidigung der Freiheit" zu
leisten. Wie immer man diese Bezugnahmen auf ein abstraktes
Verteidigungsobjekt bewerten mag - die bekannte "Struck-Doktrin",
wonach Deutschland auch am Hindukusch verteidigt werde,
Verteidigung sich also geografisch nicht mehr eingrenzen lasse,
kann sich durchaus auf historische Wurzeln berufen.
Aus Sicht der westlichen Alliierten ging es
von vorn herein weniger um ein etwaiges Recht der Bundesrepublik,
Streitkräfte zur Landesverteidigung aufzustellen, als vielmehr
darum, Bonn für die Bündnisverteidigung in die Pflicht zu
nehmen. Und nicht von ungefähr hatten die westlichen
Besatzungsmächte am Vortag der Ausfertigung der 1. Wehrnovelle
durch den Bundespräsidenten verfügt, hinsichtlich der
Wehrhoheit dürfe die Ergänzung des Grundgesetzes erst
zusammen mit dem - allerdings im August 1954 an der
französischen Nationalversammlung gescheiterten - EVG-Vertrag
in Kraft treten. So wie im Allgemeinen mit dem Besatzungsstatut
eine Verfassung vor der Verfassung existierte, so gab es im
Speziellen bis auf weiteres faktisch auch eine Wehrverfassung vor
der Wehrverfassung in Gestalt weit verzweigter internationaler
Einbindung und Kontrolle durch die Siegermächte.
Verfassungsrechtler der Bonner Republik sprachen vorsichtig von
einer "weitgehenden Überlagerung der grundgesetzlichen Ordnung
durch die bündnismäßige Eingliederung in die NATO",
welche im Verfassungstext allenfalls mittelbar sichtbar
sei.
Als mit dem Beitritt der Bundesrepublik zu
NATO und Brüsseler Vertrag (WEU) der internationale Rahmen der
Wiederbewaffnung im Frühjahr 1955 endgültig abgesteckt
war, ging es darum, die aufzustellenden Streitkräfte in die
Grundgesetzordnung einzupassen und selbst verfassungskonform zu
organisieren. Vor dem Hintergrund geschichtlicher Erfahrungen hatte
Adenauer bereits im Herbst 1950 betont, die Entwicklung einer
zukünftigen Armee zu einem "Staat im Staate" sei von vorn
herein zu unterbinden. Mit einer im März 1956 in Kraft
getretenen weiteren Grundgesetzänderung (2. Wehrnovelle) - nun
wirkten auch die Sozialdemokraten mit - wurden die
Streitkräfte unmissverständlich der vollziehenden Gewalt
zugeordnet. Dem traditionellen, noch im Jahr 1955 von dem
Staatsrechtler Otto Koellreutter vorgetragenen Verständnis der
Armee als "vierter und letzten Endes entscheidender Staatsgewalt"
war damit endgültig der Boden entzogen.
Nach kontroversen Debatten wurde die Befehls-
und Kommandogewalt dem Bundesminister der Verteidigung und für
den Verteidigungsfall dem Bundeskanzler übertragen. Namentlich
die FDP hatte den Oberbefehl in die Hand des Bundespräsidenten
legen wollen. In der Verfassung wurde ferner eine starke Kontrolle
der Streitkräfte durch den Bundestag bestimmt (Budgetrecht,
Einrichtung eines ständigen Verteidigungsausschusses,
Schaffung des Amtes eines Wehrbeauftragten), ohne freilich damit
das Primat der Politik als Primat des Parlaments auszugestalten.
Weiterhin hielten nicht nur Bestimmungen über eine von den
Streitkräften getrennte Wehrverwaltung und eine (bis heute
nicht eingerichtete) Wehrgerichtsbarkeit Einzug in den
Verfassungstext, sondern implizit wurde auch das soldatische
Leitbild eines grundsätzlich den vollen Grundrechtsschutz
genießenden "Staatsbürgers in Uniform" verankert. Wie
selbstverständlich ging der verfassungsändernde
Gesetzgeber ferner davon aus, Streitkräfte seien im
Notstandsfall auch im Inneren einzusetzen, stellte diese
Einsatzform aber unter einen ausdrücklichen
Verfassungsvorbehalt.
Das damit verbundene Regelungsversprechen
sollte freilich erst im Jahr 1968 mit dem Einbau der so genannten
Notstandsverfassung (3. Wehrnovelle) in das Grundgesetz
eingelöst werden. Die möglichen Inneneinsätze
erfuhren eine äußerst restriktive, gesetzestechnisch
nicht durchweg überzeugende Ausgestaltung. Als eigener
Abschnitt wurde schließlich der "Verteidigungsfall" in das
Grundgesetz eingefügt. Seitdem, also seit bald 40 Jahren, ist
die Wehrverfassung unverändert geblieben, sieht man einmal von
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den
Auslandseinsätzen aus dem Jahr 1994 ab. Karlsruhe stellte
Einsätze bewaffneter Streitkräfte unter
Parlamentsvorbehalt. Auch wenn vieles dafür spricht, dass sich
das Gericht damit zum verfassungsändernden Gesetzgeber
aufgeschwungen hat, konnte es mit der Entscheidung den jahrelangen
Streit über die Verfassungsmäßigkeit von
"Out-of-Area"-Einsätzen tatsächlich beenden.
Dr. Mattias G. Fischer ist wissenschaftlicher
Assistent am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Neuere
Rechtsgeschichte an der Universität Erfurt.
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