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Detlev Lücke
Mein Wehrdienst bei der NVA im Jahr 1976
Erinnerungen
Wir bereiten den Krieg vor", sagte der junge Oberleutnant im
Politunterricht. "Sie meinen sicher, wir bereiten uns auf den Krieg
vor, Genosse Oberleutnant", so unsere Einlassung. "Wir bereiten den
Krieg vor", seine Antwort. Wir waren Soldaten der 1. Kompanie des
Richtfunkregimentes in Fünfeichen bei Neubrandenburg. Eine
Mischung aus EK's (drittes Dienst-halbjahr und deshalb
Entlassungskandidaten), Zwipis (Zwischenpisser, zweites
Diensthalbjahr), Sprillis (erstes Diensthalbjahr) und Resis
(Reservisten, die für ein halbes Jahr eingezogen wurden). Wir
bauten während unserer Übungen 20 Meter hohe Funkmasten
auf der Richtstrecke von Neubrandenburg Richtung Westen. Es ging
über Groß Laasch bei Ludwigslust bis nach Dömitz an
der Elbe.
Im Unterschied zu unserem Politlehrer hatten wir nicht das
geringste Interesse, den Krieg vorzubereiten, sondern zählten
unsere Tage bis zum 30. Oktober 1976, dem Tag der Entlassung ins
zivile Leben. War es leichtsinnig, solche Prognosen gegenüber
Soldaten loszulassen, oder nur ein gedanklicher Lapsus eines
besonders kriegslüsternen Offiziers? Die Stunden auf der Bank
des nüchternen Lehrgebäudes im umzäunten
Fünfeichen waren nicht dazu geeignet, noch irgendwelche
Nachfragen zu stellen.
Wenn man allerdings bedenkt, dass die Sollstärke in
DDR-Kasernen am Wochenende bei über 90 Prozent lag, konnte man
schon nachdenklich werden. Nur ein Bruchteil der Soldaten unseres
Regiments durfte in dieser Zeit nach Hause fahren oder zu einem
Ausgang in die relativ trostlose Bezirkshauptstadt Neubrandenburg
aufbrechen. Dort lauerten Offiziere in Zivil nur darauf, uns bei
irgendeinem militärischen Lapsus zu ertappen und den
Kettenhunden des Kommandantendienstes (KD) zu überstellen.
Wer derart in Abhängigkeit gehalten wird, sucht sich
Freiheiten. Der berüchtigte Befehl 30/74, der Alkoholgenuss im
"Objekt" strengstens untersagte, förderte den Alkoholismus auf
jede erdenkliche Weise und machte das Hereinschmuggeln von Schnaps
und Bier in die Soldatenstuben zum Gesetz. Wer derart strikte
Sollstärken durchsetzte, förderte an den Wochenenden die
so genannte UE, das heißt die unerlaubte Entfernung von der
Truppe durch einen Sprung über den Zaun im abgelegenen
Kasernengelände. Abwesende wurden beim abendlichen
Zählappell mitgezählt.
Die Moral der Truppe war entsprechend. Bei einem
nächtlichen Alarm im Frühherbst dauerte es fast eine
Stunde, bis alle Lastwagen im Technikpark angesprungen waren. Die
Batterien waren völlig leer, und die Kraftfahrer zogen ihre
"Ural 80", "LOS's" und Kastenfahrzeuge gegenseitig an, bis alles
lief. Unter den Soldaten unserer Kompanie hielt sich der Spruch:
"Ehe wir die Kisten in Gang gesetzt haben, steht der Ami am KP
(Kontrollpunkt) und verteilt die ersten Kaugummis." Ein anderer
Spruch lautete, falls scharfe Munition ausgegeben würde,
könnten 50 Prozent der Offiziere damit rechnen, den
Kasernenhof nicht lebend zu verlassen.
Waren wir ein besonderes Schlumpschützenregiment? Wohl
kaum. Disziplin und Stimmung in den meisten Truppenteilen der 1956
gegründeten Nationalen Volksarmee waren schlecht bis
miserabel. Westliche Untersuchungen der NVA hielten sich
offensichtlich mehr beim Stechschritt der Maiparaden auf als bei
der Situation der Truppe. So entstand ein ähnliches Bild
über die Verteidigungsbereitschaft der DDR wie über ihre
florierende Wirtschaft in angeblich neuntstärkstem
Industrieland der Welt.
Die Volksarmee hat sich zum Glück nie in einem Krisenherd
der Welt militärisch beweisen müssen. Ihr Einmarsch in
die CSSR 1968 mit den anderen Armeen der Warschauer-Pakt-Staaten
außer Rumänien ist eine Legende. Die Truppe biwakierte an
der Grenze zur Tschechoslowakei. Auch Einsätze gegen die
eigene Bevölkerung sind nicht bekannt. Soziologisch waren die
180.000 Mann unter Waffen ein Spiegelbild der DDR-Gesellschaft und
deshalb nur bedingt einsatzbereit. Die 18-monatige Dienstzeit, die
jeden Jugendlichen zwischen 18 und 26 Jahren treffen konnte, war
deshalb in erster Linie ein Zeitvernichtungsprogramm und wurde
entsprechend abgearbeitet. Entlassungskandidaten ließen ihre
Zentimetermaße mit den farbig ausgemalten Tagen im Wind
baumeln. Die letzten zehn Tage wurden auf die Sektflasche geklebt,
die man mit der Liebsten austrinken wollte. Offiziere, die sich auf
25 Jahre verpflichtet hatten, wurden Tagemonster oder Tagesilos
genannt.
Die NVA war keine Bürgerarmee, auch keine der
sozialistischen Bürger. Einen Wehrbeauftragten gab es nicht,
Beschwerden waren sinnlos. Im Zweifelsfalle hieß das: Erst
schießen, dann fragen. Der Soldat richtete sich auf seine
Rechtlosigkeit ein und verhielt sich entsprechend, nämlich
subversiv. Politoffiziere, die eigentlich für die Moral der
ihnen Anvertrauten verantwortlich waren, verhielten sich
betriebsblind und reagierten auf keine Klagen.
Als wir jedoch an einem Sommersonntag in eine sowjetische
Kaserne bei Fürstenberg rollten, um gegen die
Waffenbrüder ein Fußballfreundschaftsspiel zu
absolvieren, relativierte sich das Befinden. Unsere Spielpartner
lebten in Schlafsälen à 60 Mann, Spinde existierten
keine, nur ein winziger Nachtschrank, unter dem Badelatschen
hervorguckten. Ausgang gab es nur als Auszeichnung, Urlaub war
ebenfalls nicht garantiert. Die Dienstzeit auf dem Boden der DDR
dauerte zwei Jahre. Nach dem Spiel, das wir 6:1 verloren, fuhren
wir nachdenklich nach Fünfeichen zurück.
Detlev Lücke ist Leitender Redakteur der Wochenzeitung "Das
Parlament".
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