Tobias von Heymann
Der lange Weg von Karlsruhe nach Kabul
Auslandseinsätze der Bundeswehr
"Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg
ausgehen": Unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkriegs
fasst dieser Satz ohne Zweifel den wichtigsten
außenpolitischen Grundkonsens quer durch alle politischen
Strömungen in Deutschland zusammen. Dieses Primat friedlicher
Außenpolitik hat auch 60 Jahre nach der bedingungslosen
Kapitulation des Landes nichts an Aktualität
eingebüßt. "Handlungen, die geeignet sind und in der
Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der
Völker zu stören, insbesondere die Führung eines
Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind
unter Strafe zu stellen", lautet Artikel 26 des Grundgesetzes.
Dennoch setzt die Bundesrepublik Deutschland
die Bundeswehr seit Jahrzehnten - in enger Kooperation und
Absprache mit verbündeten Staaten - auch außerhalb seiner
Landesgrenzen ein. Ein Widerspruch oder ein legitimes und
äußerstes Mittel, um eben genau solche Katastrophen wie
in der Vergangenheit zu verhindern oder zu beenden?
Eine Debatte, die Öffentlichkeit,
Parlament und Gerichte regelmäßig neu beschäftigt -
zumal sich die Einsätze im Lauf der Jahre massiv
verändert haben. Vor allem seit der Vereinigung Deutschlands
1990: Bestanden die Aufgaben neben der reinen
Territorialverteidigung im internationalen Kontext lange Zeit in
aller Regel aus rein humanitären Aktionen, so beteiligt sich
die Bundeswehr mittlerweile auch an friedenserhaltenden und
sichernden Maßnahmen sowie Kriegseinsätzen jenseits der
Landesgrenzen. Nach mehreren Klagen hat das
Bundesverfassungsgericht 1994 diese Art von Engagement
grundsätzlich für verfassungskonform erklärt, jedoch
auch weitere gesetzliche Regelungen angemahnt.
Eine Chronologie soll diese Entwicklung
nachzeichnen - gewissermaßen als Weg von Karlsruhe, dem Sitz
des Verfassungsgerichts, nach Kabul als Hauptstadt Afghanistans, wo
die Truppe mit dem Kommando Spezial-Kräfte (KSK) aktuell an
einem Kampfeinsatz direkt beteiligt ist.
Die erste Naturkatastrophe, nach der sich
Heer wie auch Luftwaffe der damals gerade einmal fünf Jahre
alten Bundeswehr unterstützend eingriff, war das schwere
Erdbeben im marokkanischen Agadir am 29.Februar 1960.
Sanitätssoldaten richteten dort ein Rettungszentrum ein,
bargen Verschüttete und Verletzte nach dem Unglück, dem
etwa 15.000 Menschen zum Opfer fielen und das eine Stadt in
Trümmern hinterließ. Weitere fünf Jahre später
beteiligte sie sich dann erstmals an einer groß angelegten
internationalen Hilfs-Mission, indem sie eine Luftbrücke nach
Algerien zum Material-Transport einrichtete. Bereits vier Jahre
später kehrte sie wieder in die Region zurück, diesmal
neben Algerien auch nach Tunesien. Im März 1973, etwa ein
halbes Jahr bevor die Bundesrepublik sowie die damalige DDR in die
UNO aufgenommen wurden, flog die Luftwaffe rund 6.000 Tonnen
Versorgungsgüter nach Afrika zu den hungernden Menschen im
Dürregebiet der Sahelzone. Im gleichen Zeitraum bringt sie
auch medizinisches Gerät nach Ägypten, Israel und Syrien
- im Auftrag der UN-Friedenstruppe UNEF. Auch innerhalb der
heutigen Europäischen Union wirkte sie nach Katastrophen beim
Bewältigen der Folgen mit - unter anderem zweimal in Italien
nach heftigen Erdbeben: Im Mai 1976 in Friaul und vier Jahre
später in Arrellino vier Jahre später, als rund 800
Soldaten vom Pionier bis zum Hubschrauberpiloten mit über 200
Fahrzeugen mehrere Wochen mit Aufräumarbeiten befasst
waren.
Ende 1984 bis Ende 1985 verfrachtete die
Truppe 16.000 Tonnen Hilfsgüter während einer Hungerkrise
nach Äthiopien, knapp 4.000 Tonnen bringt sie in den Sudan.
Als im Dezember 1988 ein starkes Beben in Armenien über 55.000
Menschen tötet und mehr als eine Millionen ihre Häuser
verlieren, liefert sie Zelte und ein Lazarett. Im gleichen Jahr
führt sie für die UNTAG im UN-Auftrag auch Transporte
nach Namibia durch.
Während einer Kälte- und
Versorgungskrise flog sie 1990/91 erstmals auch Material in die
damalige Sowjetunion. Kurz darauf, im Frühjahr 1991, versorgte
sie schließlich auch die kurdische Bevölkerung in
Anatolien - ein Engagement im Schatten des zweiten Golfkrieges.
Ihren ersten so genannten Blauhelm-Einsatz unter Führung der
UNO begann die Bundeswehr 1992 in Kambodia im Kontext der UNTAC,
die das südostasiatische Land unter anderem beim Aufbau einer
neuen staatlichen Verwaltung unterstützen sollte. Hier
betrieben Sanitäter ein Militärlazarett, wo sie etwa
15.000 Behandlungen zählten.
Insgesamt leistete die deutsche Armee bis
heute etwa 130 Einsätze mit humanitärem Charakter:
Zuletzt Ende 2004 in Indonesien nach der verheerenden
Tsunami-Flutwelle im indischen Ozean.
Während diese Art von weltweitem
Engagement im Rahmen humanitärer Missionen nach Katastrophen
in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unumstritten ist,
sieht die Lage bei militärischen Einsätzen mit "robustem
Mandat" völlig anders aus. Nicht nur Friedensinitiativen,
Wissenschaftler und Teile der Medien warnen regelmäßig
vor einer "Militarisierung der Außenpolitik" und wägen
das Für und Wider solchen Engagements meist im Zusammenhang
grundsätzlicher politischer Überlegungen kritisch ab.
Auch die politischen Parteien debattieren bei Einsätzen der
Bundeswehr immer wieder über die rechtlichen Grenzen
militärischer Einsätze.
Im Frühjahr 1991 beschließt die
damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP 18 Alpha-Jets und
über 200 Soldaten in die Türkei zu verlegen, um den
NATO-Partner vor eventuellen Angriffen irakischer Truppen
während des zweiten Golfkrieges zu schützen. Die
Regierung beruft sie hier unter anderem auf Artikel 24, Absatz 2
des Grundgesetzes. Demnach kann sich der Bund "zur Wahrung des
Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit
einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner
Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte
Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt
herbeiführen und sichern." Genau diese kollektive Sicherheit
schien bedroht. Nachdem der Irak Israel im Zuge dieses Krieges mit
Raketen angegriff, begann die eigentliche "Out-of-Area"-Debatte um
militärische Aktivitäten Deutschlands außerhalb der
Bündnisgrenzen: CDU/CSU erwogen ein Ausweiten des deutschen
Engagements. Der Koalitionspartner FDP forderte hingegen, hier
zunächst die verfassungsrechtlichen Grenzen zu klären.
SPD und Bündnis90/Grüne lehnten solche Einsätze
damals strikt ab. Aufgrund fehlender Mehrheiten im Bundestag kam
eine dafür nötige Verfassungsänderung damals
schließlich nicht zustande. Allerdings entsendet die Regierung
auf Bitten von USA und UNO sieben Minensuchboote an den Persischen
Golf und unterstützt später die UNSCOM-Mission bei der
Suche nach Massenvernichtungswaffen im Irak.
Mit dem Jugoslawienkrieg setzt dann ab 1992
die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung um
Militär-Aktionen außerhalb der Bündnisgrenzen umso
intensiver ein. Mehrfach riefen Gegner der jeweiligen Einsätze
deshalb das Bundesverfassungsgericht an, um die
Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen
überprüfen zu lassen.
So lehnte das Gericht beispielsweise am 8.
April 1993 in einem Urteil den "Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung" der SPD- und FDP-Fraktion im Deutschen
Bundestag ab, mit dem die Parteien einen Abzug von
Bundeswehrsoldaten aus AWACS-Flugzeugen erreichen wollten. Diese
Maschinen hatten den Auftrag, Überflugverbote über
Bosnien-Herzegovina durchzusetzen. Politischer Hintergrund war eine
entsprechende Resolution des Weltsicherheitsrates, die UNPROFOR und
NATO umsetzen sollten. Etwa ein Drittel des militärischen
Personals dieser AWACS-Flieger stammte aus Deutschland. Genau diese
Beteiligung sahen SPD und FDP als verfassungswidrig an, da sie in
ihren Augen neben Artikel 24, auch Artikel 87a verletzte.
"Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur
eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich
zulässt", lautet hier der zweite maßgebliche
Verfassungsgrundsatz. Darüber hinaus sah gerade die FDP
Mitwirkungsrechte des Parlaments verletzt. Das oberste Gericht
weist den Antrag jedoch zurück und begründet seine
Entscheidung unter anderem damit, dass die Tätigkeit des
AWACS-Verbandes im "Einklang mit der Zielsetzung der Charta der
Vereinten Nationen" stehe - allerdings unabhängig von der
Frage, "ob die Bundesregierung seinen Einsatz anordnen
durfte."
Das bis heute maßgebliche Urteil in
dieser Frage fällte der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgericht jedoch erst am 12. Juli 1994 unter dem
Vorsitz von Jutta Limbach. Es ging als so genanntes
"out-of-area"-Urteil in die jüngere Geschichte ein. Insgesamt
drei Verfassungsklagen hatten die SPD- und FDP-Fraktion
eingereicht: Neben den AWACS-Flügen standen auch die
UN-Seeblockade von Rest-Jugoslawien mit deutscher Hilfe sowie die
Beteiligung am Somalia-Einsatz UNSOM in der Kritik.
Das Gericht stellte dabei klar, dass
sämtliche dieser Bundeswehr-Aktivitäten im Einklang mit
dem Grundgesetz stehen - allerdings müsse die Regierung in
solchen Fällen dafür vorher ein mehrheitliches Votum des
Bundestages erhalten. Ein entsprechendes Gesetz solle das
parlamentarische Prozedere jedoch für die Zukunft gesondert
regeln.
Mit dieser juristischen Klarstellung im
Rücken stimmte das Parlament seither über 35 Mal mit
Mehrheit über "Out-of-Area"-Maßnahmen ab, an denen
insgesamt bis heute über 100.000 Soldaten beteiligt waren. Die
Palette erweiterte sich geografisch stets weiter, reichte von der
Versorgung von Flüchtlingen nach dem Völkermord in Ruanda
oder der medizinischen Betreuung von UN-Mitarbeitern in Georgien
1994, bis zum ersten echten Kampfeinsatz während des
Kosovo-Krieges 1999 gegen Serbien sowie Transportflügen von
Verletzten in Ost-Timor. Aktuell leisten knapp über 6.000
deutsche Armee-Angehörige in Afghanistan, Usbekistan,
Bosnien-Herzegovina, im Kosovo, Georgien, am Horn von Afrika sowie
Äthiopien und Eritrea ihren Dienst. Davon sind über 200
Frauen.
Sämtliche dieser Missionen bergen jedoch
auch ihre eigenen Gefahren für Leib und Leben der dort
stationierten Soldaten. So starben bis zum heutigen Tag knapp 60
Soldaten im Ausland - die meisten von ihnen bei Unfällen und
Unglücken. Das erste Opfer war im Oktober 1993 der
Sanitätsfeldwebel Alexander Arndt im kambodschanischen Phnom
Penh, als er auf offener Straße erschossen wurde. Der letzte
Vorfall ereignete sich im Juni 2003, als bei einem
Selbstmordanschlag auf einen Bus der internationalen
Afghanistan-Schutztruppe ISAF vier Deutsche getötet werden,
knapp 30 werden verletzt.
Zehn Jahre nach dem "Out-of-Area"-Urteil des
Verfassungsgerichts stellt der aktuelle Beschluss des Bundestages
von Ende April 2005, über 70 Militärbeobachter in die
Krisenregion Darfur im Sudan zu schicken, ein Novum dar. Diese
Abstimmung war die erste Entsende-Entscheidung des Gremiums nach
dem neuen "Parlamentsbeteiligungsgesetzes", das am 24. März
2005 in Kraft getreten ist: Dass dieses Regelwerk so lange auf sich
warten ließ, hat öffentlich viel Kritik hervor
gerufen.
Das neue Gesetz soll vor allem die Rolle der
Bundeswehr als Parlamentsarmee manifestieren. Im Zentrum steht
daher auch weiterhin der so genannte Parlaments-Vorbehalt. Der
besagt, dass die Truppe erst nach einer Abstimmung im Plenum und
nur bei eindeutiger Mehrheit für "Out-of-Area"-Aufgaben
entsandt werden darf. Lediglich bei Gefahr im Verzug oder bei
Situationen die keinen Aufschub zulassen, kann die Regierung auch
ohne das Ja der Abgeordneten Soldaten buchstäblich ins Feld
schicken. Jedoch muss der Bundestag dann ohne größeren
Zeitverzug nachträglich noch einmal darüber abstimmen.
Verweigern sie der Regierung dabei aber das "Okay", bedeutet das
gleichzeitig das Aus für den Beschluss. Das gilt jedoch nicht
für humanitäre Aufgaben, bei denen die Einheiten
beispielsweise Gewehre nur zur Selbstverteidigung mit sich
führen.
Bei einem "Einsatz geringer Intensität"
der keine Verwicklung an einem Krieg darstellt und an dem nur eine
kleine Zahl von Armee-Angehörigen beteiligt ist, gilt das
Plazet der Volksvertreter unter Umständen schon innerhalb
einer Woche automatisch als erteilt: Aber nur dann, wenn in dieser
Zeit keine Fraktion eine Debatte dazu im Bundestag beantragt.
Prinzipiell - und das steht über allen juristischen Details -
kann das Parlament jederzeit jeden Einsatz der Bundeswehr
überall auf der Welt durch Widerruf beenden.
Tobias von Heymann arbeitet als freier Journalist in
Berlin.
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