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Alexander Weinlein
Als die Mauer fiel: Wehrdienst im Wendejahr
1989/90
Erinnerungen
Von Anfang an gehöre ich zu den Besten - zumindest soll ich
das wohl glauben: Ich gehöre der besten Waffengattung -
amphibische Pioniere - an, meine Gruppe - die sechste - ist die
beste meines Zuges, mein Zug - der zweite - ist der beste der
Kompanie, meine Kompanie - die dritte - ist die beste des
Battaillons, das Battaillon - das 330. - das beste des Korps, das
Korps - das dritte - ist das beste der Bundeswehr, die Bundeswehr
ist die beste Armee der NATO. Ende der Durchsage. Doch irgendwie
hege ich Zweifel. Wenn ich zu den Besten gehöre, warum
vermittelt man mir und meinen Kameraden, so der militärische
Ausdruck für Leidensgenosse, dass wir eigentlich zu nichts
taugen. Wir sind "Füchse" oder "Mädels", die noch nicht
einmal allein zum Frühstück gehen dürfen. Rekruten
eben. Aber ich denke wahrscheinlich zu viel - typisch Abiturient
würde mein "Stuffz", mein Stabsunteroffizier, jetzt wieder
sagen.
Die nächsten 15 Monate scheinen ihren erwarteten Lauf zu
nehmen. Als Vertreter der "Generation Golf", so werde ich es viele
Jahre später in einem gleichnamigen Buch lesen können,
glaube ich fest daran, dass die 80er-Jahre so enden, wie sie
begonnen haben: Helmut Kohl wird noch immer im Kanzleramt sitzen,
und "der Russe" noch immer an der Elbe stehen. Und so gestaltet
sich zunächst auch der tägliche Dienstplan in der
Grundausbildung: Aufstehen, waschen, anziehen,
frühstücken, Sport, schießen, marschieren,
Mittagessen, Tarnen und Täuschen im Gelände,
Dienstschluss, ein Bier, zwei Bier, drei Bier, hundemüde ins
Bett fallen, selbst das Schnarchen der fünf Stuben-Kameraden
überhörend einschlafen. Dazwischen immer wieder Stuben-
und Revierreinigen mit anschließendem Stubendurchgang und
brüllenden "Uffzen", sprich Unteroffizieren: "Wer hat auf dem
Tisch gestanden? Niemand? Dann kann auch niemand auf der
Deckenlampe Staub gewischt haben! Nachreinigen!" Innen-Dienst nennt
sich das. Ganz gleich, wie gut oder wie schlecht die Bundeswehr im
Vergleich zu anderen Armee wirklich abschneidet, eines steht fest:
Wir sind nicht nur "eine starke Truppe", wie auf diesen kleinen
Aufklebern überall im Kasernenblock zu lesen steht, wir sind
die mit Abstand sauberste Armee der Welt. Das ist ein ganz mieser
Trick - damit erschleicht sich der Bund die Sympathien aller
Soldatenmütter Deutschlands.
Aber eigentlich geht es mir ganz gut: Für einen gelernten
Gymnasiasten ist der Wehrsold ein nettes Sümmchen (für
die Kollegen, die vorher bereits "richtig gearbeitet" haben
dafür eine Katastrophe) und mein Standort, die Kurpfalzkaserne
in Speyer, liegt 20 Autominuten von meinem Elternhaus entfernt -
dass deutsche Soldaten in ein paar Jahren tausende von Kilometern
entfernt am Hindukusch Wache schieben müssen, ahnt zu diesem
Zeitpunkt niemand.
Dann hat die Grundausbildung ein Ende, die Rekrutenprüfung
ist bestanden, es folgt das Gelöbnis: "Ich gelobe, der
Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die
Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen." Ich gestehe,
mir ist damals ein Schauer über den Rücken gelaufen, und
ein wenig stolz war ich wohl auch. Wie auch immer, wir dürfen
uns nun Soldaten nennen. Die "Uffze" und Stuffze" brüllen
deswegen aber nicht leiser und die Truppenverpflegung schmeckt
nicht besser.
Es folgt die spezielle Ausbildung: Wir sollen Brücken bauen
- nicht menschliche, sondern militärische. Mit unseren
"Alligatoren", so nennen sich die schon reichlich in die Jahre
gekommenen Amphibienfahrzeuge, überbrücken wir den Rhein
so schnell, dass es für Caesar eine wahre Freude gewesen
wäre - für unsere Ausbilder dauert es immer zu lange. Mir
dauern dafür diese Übungen und Manöver zu lange:
24-Stunden-Kampftag, 36-Stundenkampftag, 48-Stunden-Kampftag - zu
viel Kaffee, zu viele Zigaretten und zu wenig Schlaf.
Eines morgens zeigt der Kalender den 9. November 1989, und 24
Stunden später frage ich mich, was ich hier noch soll. Die
Mauer ist weg! Da steh ich in meinem olivgrünen Kampfanzug mit
meinem G-3-Sturmgewehr in der Hand auf dem Kasernenhof und denke:
"Eigentlich können die uns doch jetzt nach Hause schicken."
Die Bundeswehr reagiert prompt: Bei Manövern
"überschreitet Rot-Pakt nicht mehr die innerdeutsche Grenze",
die Plakate mit dem Bild des sowjetischen "T-80" und der Aufschrift
"Achtung, wenn Sie diesen Panzer sehen" verschwinden aus dem
Kasernenblock.
Den 15. Monat meiner Wehrdienstzeit - es ist August 1990 -
verbringe ich in Griechenland; vier Wochen aufgesparter Urlaub. In
Athen verfolge ich am Fernseher, wie Saddam Husseins Soldaten das
kleine aber reiche Öl-Scheichtum Kuwait innerhalbvon drei
Tagen einkassieren. Ich habe ein komisches Gefühl im
Bauch.
Wenige Monate später sitze ich in der Cafeteria der Uni
Heidelberg zusammen mit einem "alten Kameraden" - jetzt nennt man
uns Komilitonen. Deutschland ist wiedervereinigt, der Russe zieht
von der Elbe ab, aber Helmut Kohl sitzt noch immer im Kanzleramt.
Nach endlosen Bombardements schicken sich die Amerikaner mit ihren
Verbündeten gerade an, die Iraker in einem "Desert Storm" aus
Kuwait zu werfen. Mein alter Kamerad verkündet mir,
genüsslich in sein Brötchen beißend, dass er den
Wehrdienst nachträglich verweigern wird. Ich bin perplex.
"Wieso?", frage ich. "Wart's nur ab, irgendwann müssen wir bei
sowas mitmarschieren, da hab ich keinen Bock drauf", bekomme ich
zur Antwort. Die 80er-Jahre sind vorbei.
Alexander Weinlein ist Redakteur der Wochenzeitung "Das
Parlament"
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