|
|
Rolf Clement
Kritik an der politischen Sprachlosigkeit
Die NATO bedarf als Verteidigungsbündnis
und als Wertegemeinschaft einer Erneuerung
Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) hat bei der
Zeremonie, mit der die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in
die NATO am 9. Mai 1955 in Paris vollzogen wurde, darauf
hingewiesen, dass der NATO-Vertrag neben der Beistandspflicht bei
einem Angriff auch die Zusammenarbeit der Allianz-Mitglieder in
wirtschaftlichen und kulturellen Fragen als Ziel formuliert. Zehn
Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wollte Adenauer mit
diesem Hinweis die Akzeptanz dieses Schritts in der Bundesrepublik
erhöhen: Der westdeutsche Teilstaat wurde nicht nur in ein
Militärbündnis, sondern auch in die westliche
Wertegemeinschaft aufgenommen.
Im Jahr 2005 bedarf die Besinnung auf die
Wertegemeinschaft einer Erneuerung. In den Zeiten des Kalten
Krieges wurde von der NATO nur noch die Rolle als
Sicherheitsagentur wahrgenommen. Nach dem Ende der
Systemkonfrontation kam der Stabilitätstransfer hinzu. Schnell
übernahm sie in der sich verändernden Welt konkrete
Aufgaben der Friedenssicherung. Das Einsatzgebiet der Allianz wurde
immer weiter ausgedehnt, bis im Mai 2005 die erste NATO-Operation
in Afrika dazukam. Diese Rolle als Stabilisationsorganisation, die
vorwiegend mit militärischen Mitteln, mit Streitkräften
wahrgenommen wird, prägt jetzt das öffentliche Bild der
NATO. Die von vielen gewünschte Rolle als das transatlantische
Konsultationsgremium trat in den Hintergrund.
Besonders augenfällig wurde dies
während der Irak-Krise vor zwei Jahren. Darüber wurde in
der Allianz nicht gesprochen. So konnte die NATO nicht als
euro-atlantisches Instrument zum Interessensausgleich dienen. Dabei
reichte dieser Konflikt an die Peripherie der NATO heran: Die
Türkei ist Mitglied der Allianz. Auch der aktuelle Konflikt
mit dem Iran wird in der Allianz nicht debattiert. Die Tagungen der
NATO beschäftigen sich mit den Missionen, die unter ihrem Dach
gegenwärtig geführt werden - im Kosovo, im Afghanistan,
die Ausbildungshilfe für die neuen irakischen
Streitkräfte. Diese operative Ausrichtung der NATO verhindert
die Debatte über Krisen und ihre Bewältigung.
Die Kritik an der politischen Sprachlosigkeit
wurde in den letzten Jahren immer wieder geäußert. Bei
der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik im Februar
2005 hat Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) seinen Unmut
darüber spektakulär zu Protokoll gegeben.
NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer hatte erste
Schritte hin zu einer stärkeren politischen Debatte für
das Treffen der Außenminister der Allianz in Vilnius im April
vorbereitet. Während Außenminister Joschka Fischer
(Grüne) die dortige Diskussion als die beste in seiner
sechseinhalbjährigen Amtszeit bezeichnete, berichten andere,
dass der Elan der dortigen Ministerdiskussion im Tagesgeschäft
der Allianz wieder verpufft sei.
Die Beschlüsse der NATO auf ihren
wöchentlichen Ratssitzungen müssen nach den Regeln der
Allianz einstimmig fallen. Raum für Diskussionen, so
argumentieren einige, gibt es da wenig. Da die NATO in Operationen
engagiert ist, darf wegen der Außenwirkungen nicht der
Eindruck der Uneinigkeit entstehen, der aber unvermeidbar ist, wenn
man noch nach gemeinsamen Positionen sucht. Deswegen suchen die
Verantwortlichen nach Wegen, wie ohne formelle Beschlussfassung
solche Debatten mit dem Ziel des Interessenausgleichs möglich
sind. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages,
Ulrike Merten (SPD), nannte in einem Interview (mit der
Fachzeitschrift "Europäische Sicherheit") zwei Beispielthemen:
Die Europäer müssten unvoreingenommen überlegen, was
geschehen soll, wenn ein Staat unzweifelhaft des Verstoßes
gegen das Verbot der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen
überführt wird. Die USA müssten sich der Frage
stellen, was passieren soll, wenn Demokratisierungsprozesse nicht
zur erwünschten Stabilität führen.
Mit dem Ende der Blockkonfrontation hat die
NATO ihre konzeptionellen Grundlagen der neuen Situation
kontinuierlich angepasst. Das neue strategische Konzept, das die
Allianz auf ihrem Gipfel 1999 in Washington beschloss,
erwähnte erstmals die Bekämpfung des internationalen
Terrorismus als Aufgabe.
Die Anschläge auf New York und
Washington am 11. September 2001 haben deutlich gemacht, dass die
asymetrischen Bedrohungen das eigentliche Sicherheitsrisiko dieser
Jahre sind. Darauf war das Bündnis nicht richtig vorbereitet.
Es hatte eine Struktur, die nach Regionen aufgebaut war. Ein
strategisches Kommando für die Atlantik-Region in Norfolk
(USA) und eines für die europäische Region in Mons
(Belgien) führten die Einsatzverbände der Allianz. Um
sich besser aufzustellen, wurde das Kommando in Norfolk zum
Kommando für die Transformation der Allianz, das in Mons zum
weltweit zuständigen Einsatzführungskommando.
Mit einem entsprechenden Unterbau in der
Kommandostruktur hat die NATO sich für diese neuen Aufgaben
fit gemacht. Hinzu kam die Schaffung einer der NATO Response Force,
einer schnell und weltweit einsetzbaren Eingreiftruppe.
Diesen organisatorischen Rahmen müssen
nun die Streitkräfte der Mitgliedstaaten ausfüllen. Diese
Ausrichtung der Streitkräfte auf die jetzt aktuellen
Herausforderungen gestaltet sich immens schwierig. Das hat zum
einen mit der Haushaltslage in allen NATO-Staaten zu tun, die den
Umgestaltungsspielraum sehr eng fasst. Zum anderen sind die
Ausgangspositionen der Staaten für die Transformation sehr
unterschiedlich.
Die alten NATO-Staaten müssen ihre
Streitkräfte von den bisher auf Landesverteidigung in Europa
ausgerüsteten Armeen auf mobile, weltweit operierende
Kräfte umrüsten, die die gesamte Bandbreite
militärischer Operationen - vom Blauhelmeinsatz bis zur
Kriegsführung - leisten können. Die neuen NATO-Staaten
müssen einen noch größeren Sprung vollziehen: Sie
waren bislang auf Aufgaben des Warschauer Pakts ausgerüstet,
zudem mit Gerät, das nicht kompatibel zum NATO-Gerät
ist.
Auf der Gipfelkonferenz in Washington 1999
hat die NATO eine "Initiative" für neue Fähigkeiten
beschlossen, die sehr umfangreich war. Alles, was finanz-wirksam
war, wurde damals nicht umgesetzt. 2002 hat der NATO-Gipfel in Prag
eine "Verpflichtung" für neue Fähigkeiten beschlossen,
die weniger umfangreich, dafür aber bindend war. Auch jetzt
kamen jene Maßnahmen nicht richtig voran, die die Etats
deutlich belastet hätten. Ein Beispiel: Es dauerte allein zwei
Jahre, den Plan umzusetzen, für den strategischen
Lufttransport bis zur Beschaffung des Airbus 400 M Ende des
Jahrzehnts eine Übergangslösung auf Leasing-Basis zu
vereinbaren.
Das große Problem der NATO ist es, dass
die Nationen nicht in ausreichendem Masse in der Lage oder bereit
sind, die Aufgaben zu übernehmen. Die NATO hat im Juni 2004
gemeinsam eine Ausbildung der irakischen Streitkräfte
beschlossen. Bis zum Mai 2005 ist so gut wie nichts geschehen. Es
scheitert daran, dass die Mitgliedsstaaten keine Truppen zum Schutz
jener Verbände bereitstellten, die im Irak die Ausbildung
betreiben sollten. Der NATO- Oberbefehlshaber drohte damit,
dafür die Dienste privater Sicherheitsdienste in Anspruch zu
nehmen.
Die Koordination der militärischen
Fähigkeiten muss intensiviert und verbessert werden. Es gibt
erst sehr wenige erste Schritte hin zu einer wirksamen
Aufgabenteilung. Nur selten hat man vereinbart, dass bestimmte
Länder Aufgaben für die ganze Allianz übernehmen.
Eines der Beispiele ist es, dass Deutschland und Tschechien eine
besondere Fähigkeit im Bereich des ABC-Schutzes
aufbauen.
Diese Arbeitsteilung muss einhergehen mit
einer weiteren politischen Entscheidung: Wenn diese Arbeitsteilung
gewollt ist, müssten die Mitgliedsstaaten bereit sein, die
Truppen immer zur Verfügung zu stellen, wenn die NATO sie
benötigt. Nationale Beschränkungen beim Einsatz der
Truppen müssen abgebaut werden. Hier ist auch Deutschland
gefordert. Die am Horn von Afrika eingesetzte Marine darf dort
nicht eingreifen, wenn Piraten Handelsschiffe überfallen - sie
muss dann Verbündete rufen -, sie darf nur im
Anti-Terror-Kampf eingesetzt werden. Auch in Afghanistan beteiligt
sich Deutschland nicht an der Drogenbekämpfung. Wenn
Deutschland - wie geplant - die Verantwortung für den gesamten
Norden Afghanistans übernehmen soll, muss sie diese
Beschränkung zumindest überdenken.
Die weitere Reform der NATO hat also zwei
Schwerpunkte: Zum einen muss sie ein Forum finden, um politisch
alle sicherheitsrelevanten Themen zu besprechen und damit den
Ausgleich der Interessen leisten zu können. Zum anderen
müssen die militärischen Fähigkeiten der Allianz
aufgebaut und ihr zuverlässig zur Verfügung gestellt
werden. Dann kann sie die Aufgabe der Wertegemeinschaft, des
Stabilitätstransfers und der Sicherung der territorialen
Integrität der Mitgliedsstaaten auch künftig
leisten.
Rolf Clement ist Redakteur beim
Deutschlandfunk in Köln.
Zurück zur Übersicht
|