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Christian Meier
Wie konnte das passieren?
Die USA nach der schlimmsten Naturkatastrophe
ihrer Geschichte
"Das ist so schlimm, so schlimm. Das hätte
nicht passieren dürfen." Wenn eine TV-Ikone wie die
Moderatorin Oprah Winfrey solche Sätze über die
Flutkatastrophe im Gefolge des Hurrikans "Katrina" im Süden
der Vereinigten Staaten sagt, dann horcht die Nation auf. Winfrey
berichtete für ihre Sendung aus der überfluteten Stadt
New Orleans, besuchte mit dem Bürgermeister den Superdome, der
mehr als zehntausend Menschen mehrere Tage als Fluchtunterkunft
diente und ließ sich mit einem Hubschrauber über die
verwüstete Landschaft fliegen. Immer mehr US-Bürger
fragen sich mittlerweile mit Winfrey: Wie konnte das passieren?
Drei Horrorszenarien waren es, auf die sich
Amerikaner in der Vergangenheit im Geiste vorbereitet haben: ein
Anschlag auf New York, ein Erdbeben in San Franzisko und eine
Sturmflut in New Orleans. Alptraum Nummer eins wurde am 11.
September 2001 schreckliche Wahrheit. Nummer zwei liegt knapp
hundert Jahre zurück, könnte sich aber jederzeit
wiederholen. Und Nummer drei entwickelt sich zu der schlimmsten
Naturkatastrophe, der die Vereinigten Staaten jemals ausgesetzt
waren.
Das Krisengebiet in den Staaten Mississippi,
Louisiana und Alabama bietet ein Bild der Zerstörung, nachdem
der Hurrikan am 28. August seinen Höhepunkt erreichte und
einen Tag später Dämme in New Orleans brachen.
Hunderttausende Einwohner mussten evakuiert werden, viele von ihnen
haben ihre Häuser verloren. Diejenigen, die keine Zuflucht bei
Verwandten oder Freunden außerhalb des Gefahrengebietes
gefunden haben, sind obdachlos. Geschätzte hunderttausend
Einwohner hielten sich bei Ankunft von "Katrina" noch in der Stadt
auf, ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Sie waren zur
Flucht zu arm, weil sie kein Auto besitzen, zu schwach oder zogen
es vor, in ihren Häusern zu bleiben.
Die Opfer des Hurrikans werden nun
hauptsächlich von benachbarten Bundesstaaten aufgenommen, mit
Texas als einem der größten Auffangbecken. In der
gesamten Nation werden Bürger gebeten, Flutopfer zu
beherbergen.
Mittlerweile geht das Wasser zurück und
in immer mehr Regionen funktionieren Strom und Telefon wieder. Was
jedoch in den am heftigsten betroffenen Gebieten zum Vorschein
kommt, wenn das Wasser vollständig abgepumpt ist, ist nur
schwer vorstellbar. Am vergangenen Mittwoch wurde bekannt, dass
allein der Staat Louisiana 25.000 Leichensäcke geordert hat.
Die offizielle Zahl der Todesopfer in dem Bundesstaat liegt dagegen
immer noch bei rund 100. Die Federal Emergency Management Agency
FEMA, die staatliche Koordinierungsstelle der Rettungsarbeiten, hat
die Medien aufgefordert, keine Bilder von Leichen zu druck-en, um
nicht die Würde der Toten zu verletzen. Tom Rosenstiel von der
Journalistenschule der Columbia University sagte dazu in einem
Interview, es gehe der FEMA mehr um die Kontrolle von Bildern als
um Menschenwürde.
Vor allem das weiterhin überflutete New
Orleans ist zu großen Teilen nicht mehr bewohnbar, die
endgültige Räumung wurde angekündigt. Die
Abpumparbeiten haben begonnen, allerdings kommt es jetzt zu
Feuerausbrüchen wegen beschädigter Gasleitungen. Bis zu
zehntausend Bürger halten sich noch in der Stadt auf, manche
davon wollen sich gegen eine mögliche Zwangsevakuierung
wehren. Während die örtliche Polizei darauf hinweist,
dass Zwangsräumungen erlaubt seien, da Kriegsrecht gelte,
hielten sich Landes- und Bundesregierung mit solchen
Äußerungen zurück. Man werde die Menschen nicht
gegen ihren Willen aus ihren Hausern drängen, sagte ein
Vertreter der Nationalgarde. Wissenschaftler warnen hingegen
eindringlich vor Seuchengefahren und appellierten an Politiker, New
Orleans so schnell wie möglich zu räumen.
Im Volksmund heisst New Orleans auch "The Big
Easy" - das mitunter harte Leben im Mississippi-Delta ließ
sich im Vergnügungsviertel French Quarter immer ein wenig
leichter ertragen, das Lebens-Tempo war langsamer, entspannter.
Doch die Stadt, die 1718 von französischen Siedlern
gegründet und 1803 im "Louisiana Purchase" von den USA
erworben wurde, gibt es nicht mehr. Gewiss, die Amerikaner werden
ein neues New Orleans aus den Trümmern aufbauen, zu
ausgeprägt ist ihr "pioneer spirit", bei Niederlagen nicht
klein bei zu geben und auch bei widrigen Bedingungen durchzuhalten.
Und nicht zuletzt ist New Orleans mit rund einem Viertel der
Öl- und Naturgasproduktion und einem Drittel des nationalen
Fischfangs ein Wirtschaftsstandort.
Doch nach ersten Schätzungen werden
voraussichtlich nur etwa die Hälfte der halben Million
Einwohner nach New Orleans zurückkehren. Denn wer die
Möglichkeit hat, in einer anderen Region weiterzuleben und
kein Haus zurücklässt, wird seine Chance nutzen. Das
Schulsystem gilt als eines der schlechtesten der Vereinigten
Staaten. Verbrechens- und Armutsrate sind überdurchschnittlich
hoch. Das neue New Orleans wird und muss darum ein anderes
sein.
Beobachter sind besonders entsetzt, wie
langsam die Hilfsaktionen in Gang kamen und wie wenig organisiert
sie voran gehen. Die "New York Times" berichtete am vergangenen
Donnerstag auf der Titelseite, wie ein verwesender Leichnam mehrere
Tage lang mitten in der Stadt liegen gelassen und selbst von
Angehörigen der Nationalgarde ignoriert wurde. Autos
würden verkehrswidrig durch die Strassen fahren, Feuer
unkontrolliert brennen, handgeschriebene Schilder drohten
Plünderern mit Erschießung. "Willkommen im New Orleans
der Post-Apokalypse", schrieb die "Times".
"Katrina" entfacht ein soziales Problem
ungeahnter Größenordnung. In der Mehrzahl sind es
besonders arme und schwarze Bürger, die am härtesten von
der Katastrophe betroffen sind. John Edwards, im vorigen Jahr
demokratischer Vize-Präsidentschaftskandidat, sagte: "Die
Menschen, die am meisten unter ,Katrina' leiden sind die, die jeden
anderen Tag auch am meisten leiden."
Das Rassenproblem im Süden der USA, das
in der Nation noch immer unter der Oberfläche des
täglichen Lebens spürbar ist, wird von der Flut wieder
hochgespült. Rasse und Klasse sind im Land nach wie vor
untrennbar miteinander verbunden. Laut "New York Times" sind von
den 28 Prozent der Bevölkerung New Orleans, die als arm
gelten, 84 Prozent schwarz.
Es war kein Geheimnis, das New Orleans schon
immer wenig geschützt gegen Wind und Wasser war. Darum ist es
um so erstaunlicher, das eine massive Hilfe mit Wasser,
Lebensmitteln und Medizin die Stadt nicht vor Freitag erreichte,
vier Tage nach dem Dammbruch. Tagelang saßen Flutopfer auf den
Dächern von Häusern, bis sie von Helfern in Hubschraubern
gerettet wurden, oder harrten unter menschenunwürdigen
Umständen in Unterkünften aus.
Im Kreuzfeuer der Kritik steht der FEMA-Chef
Michael D. Brown. In einem Interview bekannte Brown, er habe lange
Zeit nichts von 20.000 Flutopfern im Kongresszentrum von New
Orleans gewusst. Präsident George W. Bush billigte Brown
trotzdem vor TV-Kameras zu: "Brownie, du hast verteufelt gute
Arbeit geleistet." Ein Kommentar, für den seinerseits Bush von
vielen Seiten Spott auf sich zog. Michael Chertoff, Chef des
Departments für Homeland Security, das nach dem 11. September
für nationale Sicherheitsangelegenheiten eingerichtet wurde,
wollte seinerseits keine Versäumnisse eingestehen.
Niemand habe voraussehen können, dass
die Dämme brechen könnten, gab Präsident Bush der
verdutzten Presse zu Protokoll. Tatsächlich befürchteten
Experten Dammbrüche in der Region schon seit den 60er-Jahren.
Für Verwirrung sorgten auch Bushs Ausführungen vor
Medienvertretern, der republikanische Senator Trent Lott werde sein
"fantastisches" Haus wieder aufbauen. Er freue sich bereits darauf,
auf Lotts neuer Veranda zu sitzen. Angesichts abertausender
Obdachloser wurden Bushs Bemerkungen als geschmacklos
gewertet.
Bush selbst musste kurze Zeit später
einräumen, dass die Resultate der Hilfsaktionen "nicht
akzeptabel" seien und schickte mehrere tausend zusätzliche
Soldaten in die Region. Gleichzeitig kritisierte der
Präsident, Verantwortliche in den Bundesstaaten hätten
Fehler begangen. Louisianas demokratische Senatorin Mary Landrieu
drohte Bush daraufhin einen Schlag auf seine Nase an.
Der US-Präsident reiste nach der
Überschwemmung zwei Mal in das Katastrophengebiet. Bushs
Umfragewerte waren bereits vor "Katrina" denkbar schlecht, so dass
Krisenmanagement in eigener Sache dringend geboten war. Eine
Umfrage der "Washington Post" in der vergangenen Woche ergab
folgendes Bild: 46 Prozent der US-Bürger attestieren Bush, er
habe die Krise im Griff. 47 Prozent denken, er habe nicht
angemessen gehandelt. Als Commander-in-Chief ist Bush auch
gleichzeitig Oberbefehlshaber der Truppen. Seinen Bürgern
sagte der Präsident: "Diese Nation wird sich wieder
aufrichten."
Bush hat den Kongress um 51,8 Milliarden
Dollar für Krisenhilfe angefragt und sie am vergangenen
Donnerstag bewilligt bekommen. Ein Paket von 10,5 Milliarden
für Soforthilfe hatte er bereits vorher unterzeichnet. Schon
jetzt rechnen Experten mögliche Kosten des Wiederaufbaus aus
und kommen auf mindestens 200 Milliarden Dollar. 400.000
Arbeitsplätze seien gefährdet, das Wirtschaftswachstum
werde in der zweiten Jahreshälfte voraussichtlich um ein
Prozent sinken. Die Folgen für die Ölindustrie sind
schwerwiegend, innerhalb einer Woche haben sich die Benzinpreise im
Land verdoppelt.
Nachdem sie sich anfänglich
zurückgehalten haben, kritisieren Vertreter der Demokraten
immer schärfer Bushs Vorgehensweise. Sie werfen der Regierung
vor, nicht ausreichend auf Terroranschläge und andere
Katastrophenfälle vorbereitet zu sein. "Unsere Verletzbarkeit
wurde offengelegt", sagte die Kongressabgeordnete Nancy Pelosi.
Bushs letztjähriger Rivale John Kerry sagte in einer
Erklärung: "Was wir hier sehen, ist die Ernte von vier Jahren
kompletter Vermeidung, wirklich Probleme lösen und wirklich
regieren zu wollen und stattdessen Manipulation und Ideologie zu
bevorzugen."
Das Mega-Thema nationale Sicherheit, ein
zentrales Anliegen der Bush-Regierung, wendet sich damit gegen den
Präsidenten. George W. Bush, der sich immer wieder als
Anführer einer angegriffenen Nation inszeniert hat, wird nun
ausgerechnet ein Mangel an "Leadership" vorgeworfen.
Republikaner wehren sich ihrerseits gegen das
"blame game" der Demokraten, das Suchen nach Verantwortlichen
für eigene politische Zwecke. Inzwischen haben die zwei
Kammern des Kongresses, das House of Representatives und der Senat,
die Bildung einer gemeinsamen Kommission angekündigt, die die
Reaktion der Regierung auf "Katrina" untersuchen soll. "Amerikaner
verdienen Antworten", sagte der republikanische Senator Bill Frist.
"Wir müssen alles tun, was wir können, um von dieser
Tragödie zu lernen, das System zu verbessern und alle unsere
Bürger zu schützen." Eine gemeinsame Untersuchung der
Kammern ist eine Seltenheit. Politiker auf Seiten der Demokraten
kritisieren allerdings, dass sie voraussichtlich nicht in die
Untersuchung einbezogen werden.
Als eine Ursache des schlechten
Krisenmanagements der Regierung wird immer wieder genannt, dass der
Krieg im Irak die Zahl der im Land verfügbaren Nationalgarden
in den betroffenen Bundesstaaten um mehr als ein Drittel reduziert
habe. Filmregisseur Michael Moore ("Fahrenheit 9/11") hat umgehend
einen offenen Brief an den Präsidenten verfasst ("Dear Mr.
Bush"), in dem er ihm Untätigkeit und Ignoranz vorwirft. Am
Tag nach dem Höhepunkt des Wirbelsturms sei Bush aus seinem
Urlaub nach San Diego geflogen, um dort eine Party zu
feiern.
Als weiterer Grund, der zur
Überschwemmung geführt habe, gilt das nicht ausreichende
Budget für Dammsicherungen. Eine weitere Ursache dürfte
auch der Raubbau an der Natur im Delta sein. Weite Teile des
Sumpflandes um die Stadt wurden beseitigt, um die
Schifffahrts-Industrie zu stärken. Damit wurde die Region
anfälliger für Überschwemmungen.
Im Hintergrund der Debatte um die
Verantwortlichkeit für die mangelhaft durchgeführten
Hilfsaktionen steht auch die grundsätzliche Frage nach dem
Einfluss des Staates. Während Republikaner in der
Vergangenheit für "weniger Staat" eintraten - Bush ist ein
Befürworter von umfangreichen Steuersenkungen - glauben
Demokraten an die Verantwortung des Staates, besonders
gegenüber sozial benachteiligten Bürgern.
In diesem Zusammenhang gehen Beobachter davon
aus, dass "Katrina" auch einen Einfluss auf die Anhörung von
Richter John G. Roberts haben könnte. Roberts soll nach dem
Willen von Präsident Bush Nachfolger des verstorbenen
Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes, William H. Rehnquist,
werden. Roberts wird als Verfechter eines schmaleren, in seiner
Rolle eingeschränkteren Staates gesehen. Nach "Katrina" ist es
wahrscheinlich, dass sich Demokraten bei der Befragung von Roberts
auf diese Punkte konzentrieren werden.
Auch wenn eine Naturkatastrophe wie "Katrina"
grundlegende Unterschiede zu einem Terrorangriff aufweist,
müssen in beiden Fällen rasch Entscheidungen getroffen
werden, die über Wohl und Wehe eines Landes entscheiden. Darum
erstaunt es nicht, dass nun vielfach Parallelen zum 11. September
gezogen werden. Während sich im Nachhall des Terrors auf New
York rasch der Stolz der Amerikaner auf ihr Land durchsetzte,
stehen nun Schande, Enttäuschung und Wut an oberster Stelle
der Gefühlsskala. Die mangelhafte Antwort der Regierung auf
"Katrina" wirft viele Fragen auf und versetzt die Nation in einen
Zustand der Unsicherheit und Hilflosigkeit.
Die Präsidentschaft des George W. Bush
entwickelt sich mit dieser neuerlichen Tragödie nach dem 11.
September und dem Irak-Krieg zu einer der unruhigsten nach dem
Zweiten Weltkrieg. Terror, Krieg und Flut - nicht für alle
Katastrophen kann Bush verantwortlich gemacht werden. Doch auf alle
muss er eine Antwort finden.
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