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Peter Dudek
Jenseits der Burschenschaften
Studentenorganisation einmal anders - die
Freistudenten-Bewegung
Zehn Jahre hat es gedauert, bis die Hannoveraner Dissertation
von Ulrich Wipf nun endlich in der Edition "Archiv der deutschen
Jugendbewegung" einem breiteren Publikum zugänglich gemacht
werden konnte. Etwas überspitzt könnte man sagen: Wipf
knüpft dort an, wo die zahlreichen Retrospektiven auf die
Anfänge des Wandervogels und damit der bürgerlichen
Jugendbewegung aufhören: nämlich lebensgeschichtlich beim
Übergang vom Gymnasium zur Universität, und er bietet
instruktive Einblicke in das Milieu der so genannten
"freistudentischen Bewegung", die allerdings mehr intendierte als
die Fortsetzung der Wandervogel-Ideen auf nun akademischem Niveau.
Die sich Ende des 19. Jahrhunderts zeitgleich mit dem Wandervogel
formierende Studentenbewegung blieb zwar immer eine Minderheit und
sollte doch das studentische Leben an den deutschen
Universitäten nachhaltig verändern. Ihr Aufbruch stand in
engem Zusammenhang mit dem Aufkommen der bürgerlichen
Reformbewegungen an der Wende zum 20. Jahrhundert.
Gegen die Dominanz der überkommenen Burschenschaften und
Kooperationen mit ihren antiquierten Ritualen und
Repräsentationsansprüchen, versuchten die Freistudenten
alle Nichtverbindungsstudenten zu organisieren, denn deren
Interessen und Bedürfnisse waren bis dahin von der
Studentenpolitik ignoriert worden. Der 1900 gegründete Verband
"Deutsche Freie Studentenschaft" bildete die organisatorische
Plattform für die reichsweite Ausdehnung einer Bewegung, die
mit 35 Hochschulorganisationen um 1911 ihren Höhepunkt
erlebte. Aber im Gegensatz zu den Anhängern der Jugendbewegung
und Verbindungen förderten die Freistudenten bewusst die
soziale Heterogenität ihrer Gruppen.
Wipf legt mit seinem Buch die erste umfassende Untersuchung
dieser Reformbewegung vor, die die antidemokratische und
antiliberale Kontinuität der deutschen Studentengeschichte
relativiert. Später bekannt gewordene Wissenschaftler wie
Walter Benjamin, Siegfried Bernfeld, Karl Korsch, Kurt Lewin,
Martin Buber, Wilhelm Flitner, Alexander Schwab, Hans Reichenbach
oder Walter A. Berendsohn zählten zu ihren Mitgliedern.
Freilich wurde nahezu allen liberalen Reformbestrebungen der
Freistudenten die institutionelle Anerkennung seitens der
Universitäten versagt, wenngleich sie auch von einzelnen
namhaften Professoren unterstützt wurden. Und dennoch war die
Bewegung nicht einfach Opfer politischer und bürokratischer
Willkür, sondern sie scheiterte auch an inneren
Widersprüchen und ungeklärten
Grundüberzeugungen.
Differenziert in der Argumentation, materialreich in der
Beschreibung gelingt dem Autor eine faszinierende Rekonstruktion
der Organisationsgeschichte der freistudentischen Bewegung, ihrer
Milieus und ihrer Mentalitäten und vor allem ihrer
Sozialstruktur. Im Unterschied zu den Korporationen wiesen die
Freistudenten eine breite soziale Streuung auf, wobei die
Söhne aus dem Bildungsbürgertum
überrepräsentiert und jene aus dem Besitzbürgertum
deutlich unterrepräsentiert waren. Bemerkenswert und
folgenreich waren ihre zahlreichen volksbildnerischen und
sozialreformerischen Initiativen sowie ihr Beharren auf einem
Allgemeinbildungskonzept in der Tradition Wilhelm von Humboldts,
das sich gegen eine zunehmende Spezialisierung und
Professionalisierung des zur Massenuniversität mutierenden
deutschen Hochschulbetriebes richtete.
Ob allerdings die freistudentische Bewegung sich so problemlos
als historisches Bindeglied zwischen den Urburschenschaften und der
bundesdeutschen Studentenrebellion der 60er-Jahre verorten
lässt, wie Wipf dies behauptet, bedarf noch weiterer
Forschungsanstrengungen. Gegenwärtig ist die These noch mit
einem Fragezeichen zu versehen.
Hans-Ulrich Wipf
Studentische Politik und Kulturreform.
Geschichte der Freistudenten-Bewegung 1896 bis 1918.
Wochenschau-Verlag, Bad Schwalbach/Ts. 2004; 309 S., 24,80
Euro
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