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Heike Schmidt
Ein Fest für Leseratten
In Berlin hat das fünfte internationale
Literaturfestival begonnen
Vernunft muss logisch sein. Aber Literatur hat das Vorrecht,
doppelsinnig zu sein." Mit diesen Worten begann am 5. September der
mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes seine Festrede zur
Eröffnung des fünften internationalen Literaturfestivals.
"Zum Lob des Romans" hatte er seinen Vortrag betitelt und sprach
darin von Klassikern wie Cervantes? "Don Quichote" und der
gesellschaftlichen Bedeutung von Literatur. Fuentes nahm in seiner
Rede Bezug auf das alte Vorurteil, Literatur sei weltfremd. Das
Gegenteil sei jedoch der Fall, so der Mexikaner: Die literarische
Bearbeitung komplexer Themen konfrontiere den Leser mit direkter
Wirklichkeit.
Der Hauptveranstaltungsort der Berliner Literaturfestspiele, die
sich selbst "ilb" nennen, ist das Berliner Festspielhaus in der
Wilmersdorfer Schaperstraße. Die Nebenschauplätze sind
vielfältig: Neben dem Berliner Ensemble und dem Literaturhaus
Berlin fungieren Theater, Bibliotheken, Gefängnisse und
Friedhöfe als Veranstaltungsorte mit eigenem Flair zum
passenden thematischen Inhalt. Wilmersdorf wurde bewusst als
Zentrum des "ilb" gewählt. Es soll mit dieser Entscheidung an
die Geschichte des Stadtteils als einem Ort mit
Literaturtraditionen inmitten des kosmopolitischen und pulsierenden
Berlins angeknüpft werden. Bereits in den 20er- und
30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts lebten und arbeiteten hier
Literaten wie Julius Bab, Erich Kästner und Anna Seghers. Im
damaligen Schriftsteller-Treffpunkt, dem Romanischen Café am
Kurfürstendamm, war auch Else Lasker-Schüler ein
häufiger Gast.
In den 50er- und 60er-Jahren bot der Stadtteil Max Frisch, Uwe
Johnson und Günter Grass Heimstatt und Inspiration. Noch heute
wird diese Tradition in diesen Straßen, in zahlreichen
Literaturhandlungen und vor allem im beliebten Literaturhaus in der
Fasanenstraße lebendig gehalten. In diesen Tagen ist die
Gegend um das Festspielhaus wiederum ein Ort der Begegnung zwischen
den Autoren mit unterschiedlicher Herkunft, verschiedenen
Traditionen, Schreibstilen, Bekanntheitsgrad und
Themenschwerpunkten sowie einem höchst facettenreichen
Publikum.
Multikulturell und international geht es zu während des
"ilb". In diesem Jahr präsentieren um die 150 Literaten die
Ergebnisse ihrer Arbeit. Alle Autoren berichten in ihrer
Muttersprache: Dieser Umstand bedeutet Chance und Hürde
zugleich. Denn die Sprache, mit der man aufwächst, bietet
ungleich mehr Ausdrucksmöglichkeiten, gerade auch von
Emotionen, als jede später erworbene Sprache. Dennoch ist die
Anzahl der Sprachen auch eine Barriere für die
Verständigung. Veranstaltungen wie das "ilb" helfen, diese
Barrieren zu überbrücken. Nur wirklich erlebte kulturelle
Vielfalt wird auch als schützenswert erachtet. Deshalb
unterstützt die Deutsche UNESCO-Kommission das "ilb" und
stellt sie unter ihre Schirmherrschaft.
Die mehr als 300 Veranstaltungen wollen Einblicke in
traditionelle Erzähltechniken, aber auch neue Entwicklungen
der Weltliteratur geben. Das umfangreiche Festivalprogramm gliedert
sich in drei Hauptteile, einige Programmsparten und das
Diskussionsforum "Reflections". "Literaturen der Welt"
ermöglicht den Besuchern auf vier Poetry Nights neben
weltbekannten Autoren auch Neuentdeckungen aus den Genres Lyrik und
Prosa rund um den Globus. Zehn renommierte Juroren, unter ihnen so
bekannte Namen wie Mario Vargas Llosa aus Peru und Iris Radisch,
Literaturkritikerin der "Zeit", nominierten jeweils drei Autoren,
die auf dem Festival Einblicke in ihre Arbeit geben. In
"Kaleidoskop" werden dem Publikum von der Leitung des "ilb"
eingeladene Künstler, die zugleich als Jury agieren,
vorgestellt. Mithilfe dieser Instanz soll das "ilb" in der Lage
sein, auf aktuelle Entwicklungen und Neuerscheinungen, fern von der
persönlichen Darstellung einzelner Künstler, Bezug zu
nehmen.
Der dritte Hauptteil, "Kinder- und Jugendliteratur", bietet ein
reichhaltiges Programm an Lesungen und parallel dazu
Veranstaltungen im schulischen Rahmen an. Als Kooperationspartner
von "Berlin liest" versucht das "ilb", Kindern den Zugang zu
Büchern zu eröffnen. Die vorgestellte Literatur umfasst
ein Spektrum vom Bilderbuch bis hin zur Literatur für junge
Erwachsene. Die Geschichten führen die jungen Leser und ihre
Familien in ferne Länder und fremde Sitten. Sie öffnen
ihnen neue Horizonte und vermögen mitunter, Lesemuffel mit
ansprechender Freizeitgestaltung vertraut zu machen. Dabei wird
nicht nur vorgelesen, sondern auch gesungen, gezeichnet, gedichtet
und vieles mehr. Die Programmsparte "Fokus Kalifornien" lenkt den
Blick des Lesers auf die schillernde Westküste der Vereinigten
Staaten - und die Tatsache, dass der Golden State mehr zu bieten
hat als Hippies und Hollywood. In Lesungen und Diskussionen werden
Protagonisten aus Poesie und Prosa ebenso wie Historiker und
Sozialwissenschaftler aus Kalifornien zu Wort kommen. Das Projekt
"Scritture Giovani" zur Förderung junger
Nachwuchsschriftsteller unseres Kontinentes wiederum kooperiert mit
den drei bedeutendsten Literaturfestivals in Europa, dem
"Festivaletteratura Mantova" in Italien, dem "The Guardian Hay
Festival" in Großbritanien und dem norwegischen
"Bjørnsonfestivalen Mode og Nesset".
Die vorgestellten Bereiche - aufgelistet auf der Website
"www.literaturfestival.com" - sind lediglich als Themenschwerpunkte
zu verstehen. Begleitet wird das gesamte Festival von einem
Rahmenprogramm, das durch Vorträge an ungewöhnlichen
Orten und Musikeinlagen die Stimmung des Festivals prägt.
Entscheidend ist das Zusammentreffen der multinationalen Autoren
mit einem multinationalen Publikum. Das Café Nabokov,
eigentlich Kassenfoyer des Festspielhauses, dient von 9 Uhr am
Morgen bis 2 Uhr in der Früh als Ort des Austausches und der
Reflexion. Und wer nicht hören will, der kann sehen: Die
Sparte "Literatur auf Celluloid" bietet zahlreiche Alternativen
für den gestressten Großstädter.
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